Der Gartenrotschwanz – Vogel des Jahres 2011 – in Süd-Niedersachsen: eine urbane Randexistenz mit hohen Ansprüchen

Hätte der NABU nach dem gefiederten Angler-Hassobjekt Kormoran (vgl. den Beitrag vom 25.10.2009 auf dieser Homepage) die ähnlich unpopuläre Elster zum „Vogel des Jahres 2011“ küren sollen? Das wäre wohl etwas zuviel verlangt von einem Verband, dem in der Mehrheit gutherzige BeitragszahlerInnen angehören, die ihre Symbiose mit den gefiederten Freunden ohne Ausschüttung von Stresshormonen genießen möchten. Deshalb ist die Wahl eines hübschen Singvogels, an dem sich niemand stört, durchaus nachvollziehbar. Zudem ist der Gartenrotschwanz (Phoenicurus phoenicurus) aus fachlicher Sicht eine interessante Vogelart, deren Populationsdynamik (auch) in unserer Region viele Fragen aufwirft.

Abb. 1: Männlicher Gartenrotschwanz. Foto: M. Siebner

Bestand und Bestandsentwicklung

Der aktuelle Brutzeitbestand unseres Porträtvogels kann in Süd-Niedersachsen (Landkreise Göttingen und Northeim) auf der Datengrundlage für den bundesdeutschen Brutvogelatlas ADEBAR optimistisch auf ca. 65 revierhaltende Männchen beziffert werden. Die Zahl erfolgreicher Brutpaare dürfte jedoch um einiges kleiner sein, weil – dies belegen zumindest unsere Göttinger Daten – gerade bei Vogelarten mit negativem Bestandstrend unverpaarte Männchen im Frühling über Wochen eine Singwarte beziehen, ohne auf weibliches Interesse zu stoßen. Nach den ADEBAR-Kriterien (Südbeck et al. 2005) werden auch solche zwangszölibatären Sangeskünstler als „Brutpaare“ gewertet. Damit ist eine virtuelle Erhöhung (Verdoppelung?) des Brutbestands programmiert. In Süd-Niedersachsen dürfte dies vor allem in einigen Gebieten des Landkreises Northeim der Fall sein, die zuvor im Hinblick auf den Gartenrotschwanz wenig erforscht waren und nur im Rahmen der ADEBAR-Kartierungen bearbeitet wurden.

Mit ca. 20 Revierbesetzern beherbergen die Kleingartenkolonien am Göttinger Stadtrand die mit Abstand größte und aufgrund jährlicher Bestandsaufnahmen am besten bekannte Lokalpopulation unseres Bearbeitungsgebiets. Daneben gibt es in unserer Stadt noch ein paar kleine, zumeist unregelmäßige Vorkommen von ein bis zwei singenden Männchen im Ostviertel (s.u.), am Ortsrand von Grone-Süd und (zunehmend seltener) in den Randbereichen der Innenstadt, alle in Hausgärten mit lichter Vegetation und Einzelbäumen.
Während der Bestand in den Kleingärten augenscheinlich stabil ist (Dörrie 2000-2008), wurden in den vergangenen Jahren einige Brutplätze wie das Kerstlingeröder Feld (bis zu drei Reviere zum Beginn des Millenniums, Goedelt & Schmaljohann 2001, 2002, s.u.) oder die Umgebung des Hainholzhofs (ein Revier) fürs erste wieder geräumt. Vorkommen von Einzelpaaren in ländlich geprägten Ortsrandlagen (z.B. bei Duderstadt, Seulingen, Waake, Seeburg, Friedland, Diemarden und Reinhausen) waren entweder von kurzer Dauer oder wurden in den letzten Jahren nicht von Vogelkundlern kontrolliert (Dörrie 2000, 2000-2008).

1948 wurden bei der ersten Brutvogelkartierung im 3,6 km² großen Göttinger Kerngebiet 29 Reviere gezählt und ca. 100 geschätzt (Bruns 1949). Eine 1965 auf gleicher Fläche vorgenommene Wiederholung der Kartierung ergab mit einem Bestand von 87 gezählten und 130 geschätzten Revieren ein, was die Schätzungen betrifft, ähnliches Ergebnis (Hampel & Heitkamp 1968). Bei der jüngsten Kartierung 2005/2006 waren dort nur noch zwei Reviere vorhanden, die eine nahezu komplette Entstädterung anzeigen (Dörrie 2006, 2009). Ein vergleichbar kleiner Bestand von drei Revieren musste bereits 2001 im zum Kerngebiet zählenden Göttinger Ostviertel verzeichnet werden (Dörrie 2002).
Während Schelper (1966) den Gartenrotschwanz für den Altkreis Hann. Münden noch als verbreiteten Brutvogel einstufte, der „in den Tallagen häufiger als der Hausrotschwanz ist“, wurde während der Vorarbeiten für ADEBAR nur ein einziges Revier, in einer Kleingartenanlage im Mündener Siedlungsbereich, notiert (H. Haag, mdl.). Für den Landkreis Northeim fehlen vergleichbare Angaben zur langfristigen Bestandsentwicklung.
Aus den Wäldern der Region ist der Gartenrotschwanz, wie andere Lichtwald-Brutvogelarten (Dörrie 2004, 2009), verschwunden. Wegen seiner Konzentration auf den Siedlungsbereich bzw. siedlungsnahe Habitate könnte er aus regionaler Sicht in „Kleingartenrotschwanz“ umbenannt werden.

Die oben genannten Daten verdeutlichen den dramatischen Rückgang einer Art, die bis vor 40 Jahren (auch) in Süd-Niedersachsen ein häufiger und verbreiteter Brutvogel war. In der niedersächsischen Roten Liste der gefährdeten Brutvögel (Krüger & Oltmanns 2007) besiedelt der Gartenrotschwanz die Kategorie 3, „im Bestand gefährdet“. Der langfristige Bestandstrend ist negativ, obwohl es in einigen nördlichen Landesteilen, die sich durch nährstoffarme Böden und lichte Waldstrukturen auszeichnen, zu einer leichten Erholung gekommen ist.

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Abb. 2: Bruthabitat des Gartenrotschwanzes in der Kleingartenkolonie „Am Kiessee“. Foto: H. Dörrie

Gründe für den Bestandsrückgang

Als eine Hauptursache für den nachhaltigen Zusammenbruch vieler mittel- und nordeuropäischer Teilpopulationen des Gartenrotschwanzes wird oft die extreme Dürre angeführt, die ab 1968 große Teile der Sahelzone südlich der Sahara in eine lebensfeindliche Wüstenei verwandelte (vgl. z.B. die Darstellung bei Dörrie 2000 und im Jahresbericht 1999). Die Sahelzone ist das traditionelle Überwinterungsgebiet unseres Jahresvogels; sie wird seit längerem immer wieder von Dürreperioden heimgesucht. Die damaligen Verluste wurden vor allem (indirekt) am starken Rückgang (bis zu 70 Prozent) der Fänglinge an verschiedenen europäischen Beringungsstationen zwischen 1968 und dem Folgejahr festgemacht (Glutz von Blotzheim & Bauer 1988). Was genau in der Sahelzone oder auf dem Flug dorthin mit den Vögeln passiert ist, wird man nie erfahren.

Mangels aussagekräftiger Daten bleibt ebenfalls unklar, ab wann sich der Rückgang in Göttingen bemerkbar gemacht hat und in welchem Umfang „unsere“ Vögel von der Sahel-Dürre betroffen waren. Dagegen enthält die Angabe von Brunken (1978) für das Jahr 1977, dass sich „die Art in Göttingen erholt zu haben scheint“, zwei interessante Hinweise: zum einen auf einen signifikanten Bestandseinbruch in der Zeit davor und zum anderen, dass die Verluste, zumindest in Göttingen, wieder ausgeglichen werden konnten. Mit den (hypothetischen) Nachwirkungen der Sahelkatastrophe 1968-72 lässt sich das faktische Erlöschen der ehemals kopfstarken Brutpopulation im Kerngebiet also nicht erklären. Dies legt den Schluss nahe, dass es andere Faktoren gibt, die weitaus schwerer wiegen und zudem dauerhaft wirken.

Im Unterschied zu den ins Dunkel gehüllten Geschehnissen im Schwarzen Erdteil sind wir über die tiefgreifenden Veränderungen im Göttinger Stadtlebensraum unseres Porträtvogels besser informiert. Dass Reitstallviertel und Neustadt dem Erdboden gleichgemacht wurden und die Stadtplan(ier)er sich und ihrem Zementierungswahn mit einem Rathaus von beeindruckender Scheußlichkeit ein unübersehbares Denkmal setzten, konnte der Gartenrotschwanz noch souverän ignorieren. Die Umwandlung der letzten Nutzgärten in Ziergärten, das verbreitete Anpflanzen dichter und dunkler Koniferenbestände sowie der galoppierende Schwund insektenreicher Offenstellen haben seine Lebensqualität weitaus stärker beeinträchtigt. Anders als in den Jahren vor ~ 1980 wird das Göttinger Kerngebiet heute auf weiten Strecken von dunklen und schattigen Baumbeständen geprägt, die der Ansiedlung anpassungsfähiger Waldvögel förderlich sind, den sogenannten Lichtwald-Vogelarten, zu denen auch der Gartenrotschwanz zählt, jedoch im höchsten Maße abträglich (Dörrie 2006, 2009).

Der nahezu komplette Wegfall landwirtschaftlich geprägter Vegetationsstrukturen und Nutzungsformen kann daher mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit als Hauptursache für den dramatischen Rückgang im Göttinger Siedlungsbereich gelten.

Zur gleichen Zeit setzte auch in den Wäldern der Verlust von Offenflächen und anderen lichten Strukturen ein. Kahlschläge, mäßig aufgeforstete Windwurfflächen und totholzreiche Waldränder im Übergang zum extensiv genutzten Grünland wurden zunehmend seltener. Ein ähnliches Schicksal widerfuhr den wenigen verbliebenen Streuobstwiesen, die entweder der Ausdehnung des Siedlungsbereichs zum Opfer fielen oder nicht mehr genutzt wurden. Von diesem Szenario waren und sind, neben dem Gartenrotschwanz, auch andere Lichtwaldarten wie z.B. Baumpieper, Gelbspötter und Turteltaube betroffen (Dörrie 2004, 2006, 2009). Seit ca. 20 Jahren trägt, neben Kalkungsmaßnahmen in den Wäldern, auch das gestiegene Verfrachten und Abregnen nährstoffreicher Stickstoffverbindungen aus industrieller Landwirtschaft und Automobilverkehr dazu bei, dass vegetationsarme Flächen durch die permanente Düngung aus der Luft schneller zuwachsen als jemals zuvor (Gatter 2000, Dörrie 2009, Paul 2010).

Dagegen wirft die Räumung des ehemaligen Truppenübungsplatzes Kerstlingeröder Feld, der auf weiten Strecken immer noch den Eindruck eines optimalen Lebensraums vermittelt (s.u.), einige Fragen auf. Neben möglichen mikrostrukturellen Habitatverschlechterungen könnte auch Prädation durch Mäuse und Bilche (vgl. Gatter 2000) oder Buntspecht (vgl. Dörrie 2009) bzw. Nistplatzkonkurrenz mit anderen Höhlenbrütern das lokale Verschwinden verursacht haben.

Offenstellen als Lebenselixier

Insektenreiche wärmeexponierte Offenstellen sind ein unverzichtbares Habitatrequisit, auf das der fast ausschließlich am Boden jagende Gartenrotschwanz offenkundig geprägt ist (Glutz von Blotzheim & Bauer 1988). Dies bekräftigt eindrucksvoll die Untersuchung von Martinez et al. (2010), die Habitatexperimente mit Volierenvögeln durchgeführt haben. Selbst bei vierfach höherer Futtermenge in einer dichten Wiese flogen sie eine benachbarte Fläche mit lückiger Bodenvegetation, wo es weniger zu fangen gab (!), signifikant häufiger an. Neben Offenstellen sind auch höhlenreiche alte (Obst-)Bäume ein wichtiger Bestandteil des Brutlebensraums.

Eine derartige Kombination, die den spezifischen Habitatpräferenzen des Gartenrotschwanzes entgegenkommt, existiert in unserer Region offenkundig nur noch in mehr oder minder intensiv bewirtschafteten Kleingärten. Hier finden die Vögel ein vielfältig strukturiertes Mosaik aus Gemüsebeeten mit einem hohen Anteil vegetationsarmer oder -freier Stellen (Kartoffeln, Tomaten etc.), alten Obstbäumen, gemähten Flächen und nicht asphaltierten Wegen vor. Überdies hängen dort zahlreiche Nistkästen, die sie gerne annehmen und die das Fehlen von Baumhöhlen in einigen Kolonien sogar kompensieren können. Hinzu kommt, dass der Biozideinsatz in den Kleingärten in letzter Zeit gegen Null tendiert (H. Weitemeier, mdl.), was den Beutetier-Populationen von Insekten und anderen Arthropoden zuträglich ist. Koniferen werden bis zu einem gewissen Beschattungsgrad toleriert, die Bäume sogar bevorzugt als Singwarten genutzt (eig. Beob.).

Schutzmaßnahmen

Die vom NABU und anderen Naturschutzorganisationen ins Zentrum von Schutzmaßnahmen gestellten Hochstamm-Streuobstwiesen sind als museale Relikte einer ehemals extensiv genutzten Kulturlandschaft für den Gartenrotschwanz kaum noch besiedelbar – zumindest in unserer Region, in Süddeutschland mag es sich (noch) anders verhalten. Viele ähneln inzwischen mangels Nutzung und Pflege Feldgehölzen mit einer dichten Krautschicht aus Nährstoffanzeigern. Dieses Schicksal erwartet mit hoher Wahrscheinlichkeit auch die meisten der gutgemeinten kleinflächigen Neuanpflanzungen, die als Ausgleichsmaßnahmen für Bauvorhaben (z.B. neben einer Biogasanlage) oder als medienwirksame PR-Aktionen von Firmen wie Fielmann oder dem (ehemaligen) Göttinger Brauhaus in die Normallandschaft gesetzt wurden. Vom Artenreichtum dieses Lebensraums künden allenfalls die hoffnungsfrohen Schautafeln, die sich zumeist in einem erheblich besseren Zustand befinden als ihr Demonstrationsobjekt. Deshalb ist – sicher zum Missvergnügen von Sponsoren und Landschaftsarchitekten – aus fachlicher Sicht davon abzuraten, „zum Schutz des Gartenrotschwanzes“ weitere Anpflanzungen dieser Art in Szene zu setzen. Dies betrifft auch das zusätzliche Anbringen von Nistkästen: diese hängen bereits buchstäblich überall und werden in einem geeigneten Lebensraum (s.o.) auch jetzt schon gut angenommen.

Um die (wenigen) verbliebenen alten Hochstamm-Streuobstwiesen wieder in einen rotschwanzfreundlichen Zustand zu versetzen, müssten sie nicht nur, wie bisher, sporadisch gemäht, sondern radikal entbuscht, ausgelichtet und danach mit großen Schafherden beweidet werden. Das dunkelwaldartige Erscheinungsbild einer alten Obstwiese oberhalb des Gartetals am Diemardener Berg südlich von Göttingen demonstriert, dass eine partielle Nutzung als Rinder- und Pferdeweide nicht ausreicht, um, wenn überhaupt (!), der galoppierenden Sukzession Einhalt gebieten zu können. Sisyphos lässt grüßen!
Die Handvoll Schafhalter der Region ist momentan mit der kostenträchtigen Pflege verbuschender Mager- und Trockenrasen ausgelastet. Im Landkreis Göttingen fließt, von einer Art Simbabwe-Koalition aus Schwarz über Rot bis Gelb und Grün im Lobbyinteresse einiger hochsubventionierter Agraringenieure politisch vorangetrieben, der Löwenanteil von EU-Fördermitteln für den ländlichen Raum (z.B. Leader +) in die überall aus dem Boden schießenden „Bioenergiedörfer“. Damit ist der weitere Niedergang des Lebensraums Streuobstwiese mit einem derzeitigen Flächenanteil von ganzen 0,4 Prozent programmiert.

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Abb. 3: Für den Gartenrotschwanz unbrauchbar: Ungenutztes Streuobstwiesen-Relikt mit dichter Krautschicht in Gö.-Geismar. Foto: M. Siebner

Das aktuell beste Schutzkonzept für unsere Gartenrotschwanz-Population ist die weitere Nutzung der Kleingärten für die Lebensmittelproduktion. Ihre Umwandlung in dekorative Ziergärten zu Erholungszwecken wäre für die Vögel ein ähnliches Desaster wie zuvor im Göttinger Kerngebiet. Obwohl es, vor allem auf frei verpachtetem städtischen Grabeland, vermehrt Anzeichen dafür gibt, ist das Interesse an Vereins-Parzellen für die Erzeugung von Obst, Gemüse und Feldfrüchten nach wie vor groß – auch und gerade bei MitbürgerInnen, die mit dem Gartenrotschwanz den Migrationshintergrund gemeinsam haben.

Der Gartenrotschwanz und andere Langstreckenzieher – besondere Opfer des Klimawandels?

Selbst der Katastrophenszenarien nicht gerade abgeneigte Weltklimarat IPCC übt sich in Sachen Sahelzone in ungewohnter Bescheidenheit und konstatiert, dass bislang weithin unklar ist, wie sich das Klima in diesem dynamischen Übergangsbereich zwischen Wald und Wüste in den kommenden Jahrzehnten entwickeln könnte (IPCC 2007). Zudem steht den oft zitierten Negativerscheinungen wie Überweidung, Degradation und Zerstörung von Feuchtgebieten, Bevölkerungsexplosion, verfehlte Agrarpolitik (z.B. hochsubventionierter Anbau von Reis anstelle der traditionellen Hirse) seit jüngstem auch Positives gegenüber. Satellitenbilder belegen, dass die Zahl der Akazien enorm zugelegt hat, Hunderte Millionen neuer Bäume sind herangewachsen – Optimisten sprechen bereits vom „ergrünten Sahel“. Für die neuerliche Ausbreitung vitaler Akaziensavannen, in denen viele in der Westpaläarktis brütende Langstreckenzieher überwintern, sind nicht nur erhöhte Niederschläge verantwortlich, sondern in erster Linie der behutsamere Umgang der Dorfgemeinschaften mit ihren Bäumen und deren Schutz vor Abholzung durch Auswärtige (SPIEGEL 17/2009).
Das Schreckensbild von den Weitstreckenziehern, die in besonderem Maße vom Klimawandel und ökologischen Kalamitäten in ihren Überwinterungsgebieten betroffen sind und die deshalb im Bestand zurückgehen, verliert damit weiter an Überzeugungskraft. Stimmig war es ohnehin nicht. Die wie der Gartenrotschwanz von der Sahel-Dürre der 1960er/1970er Jahre besonders gebeutelte Dorngrasmücke ist in unserer Region wieder zahlreich vertreten und macht ihrem Artnamen „communis“ alle Ehre. Die Klappergrasmücke konnte die Auswirkungen ihres katastrophalen Bestandseinbruchs von 1996 auf 1997 nach kurzer Zeit wieder wettmachen. Die Nachtigall hat seit Mitte der 1990er Jahre signifikant im Bestand zugelegt, selbst der von Eutrophierung und Ausräumung der Agrarlandschaft besonders betroffene Neuntöter konnte sich – für viele Vogelkundler überraschend – in den letzten 20 Jahren recht gut behaupten.
Die Gartengrasmücke ist in Göttingen zwar entstädtert, aber außerhalb des Siedlungsbereichs nicht nur immer noch häufig, sondern hat in Teilen der Agrarlandschaft wie z.B. im EU-Vogelschutzgebiet „Unteres Eichsfeld“ von Sukzessionsprozessen profitiert und auffallend im Bestand zugenommen (G. Brunken, mdl.). Schafstelze und (mit Einschränkung, vgl. den Spezialbeitrag zu dieser Art vom 1.8.2008 auf dieser Homepage) Wachtel zeigen ebenfalls einen positiven Bestandstrend.
Von einem allgemeinen Bestandsrückgang der Transsaharazieher in ihren Brutgebieten kann also, zumindest aus regionaler Sicht, ernsthaft keine Rede sein (alle Angaben nach Dörrie 2000, 2000-2008, 2009).

Blickt man auf die Weitstreckenzieher mit negativem Bestandstrend, dann lassen sich für jede dieser Arten anthropogene Ursachen ausmachen, die nicht im fernen Sahel zu suchen sind. Für den Gartenrotschwanz und andere Lichtwaldarten wurden einige schon benannt. Bezieht man beispielsweise den Kuckuck (vgl. sein Porträt vom 3.11.2007 auf dieser Homepage), den Wendehals (Verlust nährstoffarmer Offenflächen, beweideter Hochstamm-Streuobstwiesen und extensiv genutzter Obstgärten mit Nestern der Wiesenameise), Rauchschwalbe (Aufgabe der traditionellen Großviehhaltung in schwalbenfreundlichen Ställen), Steinschmätzer (Ödlandverlust), Sumpfrohrsänger (Monotonisierung des Agrarlands und übermäßige „Pflege“ von Entwässerungsgräben), Waldlaubsänger (Verdunkelung des Baumbestands in Kombination mit einer für Bodenbrüter zu dichten Krautschicht) und Fitis (Verlust birkenreicher Sukzessionsflächen und anderer Lichtwaldhabitate) ein, ergibt sich eine breite Palette von Rückgangsursachen, die allesamt hausgemacht sind.

Zusammengenommen dürfte der Einfluss anthropogener Umgestaltungen unserer Kulturlandschaft die, bislang weitgehend hypothetischen, Auswirkungen klimatischer Veränderungen in der Sahelzone (und möglicherweise auch im Mittelmeerraum) um einiges übertreffen. Es spricht vieles dafür, dass periodische Dürrekatastrophen einen nachhaltig verheerenden Einfluss auf die (ohnehin schrumpfenden) Brutbestände einiger Transsaharazieher nur dann ausüben, wenn solche Verluste im Brutgebiet wegen verschlechterter Habitatqualität und, damit einhergehend, verminderter Reproduktion nicht ausgeglichen werden können.

Wo und wann bekommt man den „Vogel des Jahres 2011“ zu Gesicht?

In Göttingen sollte es kein Problem sein, einen (singenden) Gartenrotschwanz auszumachen. Die Vögel treffen Anfang bis Mitte April im Brutgebiet ein. Nahezu jede Kleingartenkolonie hat ihre (bis zu drei) Gartenrotschwanz-Reviere, im Süden der Stadt beispielsweise die Kolonien „Lange Bünde“, „An der Stegemühle“, „Wiesengrund“ und „Am Kiessee“, im Westen „Leineberg West“ und im Norden „Edelweiß“, „Auf der Masch“ und „Am Rothenberg“ in Weende. Die Kolonien lassen sich auf halböffentlichen Wegen gut begehen und die Parzellenpächter verhalten sich zumeist freundlich. 2010 war ein gutes Jahr für ihre gefiederten Vereinskollegen. Den weittragenden, etwas wehmütigen Gesang der Männchen, die prominente Singwarten auf Baumspitzen beziehen und sich dort gut beobachten lassen, kann man eigentlich nicht überhören.

Zur Zugzeit von Ende März bis in die dritte Maidekade kann man rastende Individuen auf dem Kerstlingeröder Feld, am Kiessee, an der Kiesgrube Reinshof und in der Feldmark Geismar-Süd beobachten, auf dem Wegzug ebenda von Anfang August bis Mitte Oktober.

Besonderheiten und offene Fragen

Im Göttinger Ostviertel (mehrfach), am Hohen Hagen bei Dransfeld und bei Diemarden wurden in der Vergangenheit abweichend singende Gartenrotschwänze wahrgenommen, die entweder einen Mischgesang hervorbrachten, der auch die schmatzenden Elemente des Hausrotschwanz-Gesangs enthielt, oder einen aus Nachahmungen anderer Singvogelstimmen bestehenden Imitativgesang. Vermutlich hatten es diese Männchen in Ermangelung eines arteigenen Partners darauf abgesehen, sich mit einem Hausrotschwanz zu verpaaren – nach der besonders unter Enten und Gänsen populären Devise „besser Sex mit einem fremdartigen Partner als überhaupt keinen“. Ob solche Mischsänger Anzeiger des Bestandsrückgangs und einer möglichen „Verinselung“ kleiner Lokalpopulationen mit negativem Trend sind, kann vermutet werden.

Mischlinge aus den beiden heimischen Rotschwanz-Arten, die aus anderen Regionen bekannt sind (zu ihrer manchmal kniffligen Bestimmung vgl. Nicolai et al. 1996), wurden bei uns noch nicht festgestellt. Die Beschreibung eines vermeintlichen Hybriden aus der Wendebachaue im Frühling 2008 (Heitkamp et al. 2010) deutet eher auf ein leicht aberrant gefärbtes Hausrotschwanz-Männchen.

Wissenslücken bestehen hinsichtlich des Bruterfolgs der Rotschwänze. Reicht er aus, um den Bestand langfristig zu sichern oder ist die lokale Population auf Zuzug angewiesen – von wo auch immer? Bis zur Beantwortung dieser Frage und darüber hinaus kann sich aber (hoffentlich) jede(r) Interessierte auch in den kommenden Jahren an diesem attraktiven Singvogel vor der Haustür erfreuen!

Hans-Heinrich Dörrie (hd)

Literatur

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Dörrie, H.-H. (2000-2008): Avifaunistische Jahresberichte 1999 bis 2007 für den Raum Göttingen und Northeim. Naturkundl. Ber. Fauna Flora Süd-Niedersachs., Bde. 5-13.

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