Explosionen im Seeanger – unser erster Seidensänger

Am 25. März hat erstmals ein Seidensänger Süd-Niedersachsen besucht. Zwei Tage verblieb der Vogel im Seeanger. Unerwartet war seine Stippvisite nicht. Auch sehen ließ sich der Kurzbesucher nicht. Seine unsichtbare Präsenz hat er arttypisch mitgeteilt, lautstark und explosiv.

Seeanger bei Seeburg mit einem Windrad im Hintergrund
Abb. 1. Tatort. Rechts: Seeanger-Weg. Links: Retlake-begleitendes Weidengebüsch, in dem sich der Sänger versteckt hielt. Aus diesem Gebüsch rief letzten Herbst bereits ein Taigazilpzalp, Ohren auf wer dort langgeht (und überhaupt). Foto: Martin Göpfert

Die beiden renommierten Vogelführer-Illustratoren Lars Jonsson und Killian Mullarney haben einmal zugegeben, dass sie mehr als 60 bzw. 80 Prozent der Vögel in Wirklichkeit nicht optisch, sondern akustisch bestimmen. Kennt man die Gesänge und Rufe, kann man unsichtbare Vögel finden, zumal manche von ihnen sich rein optisch schlichtweg kaum bestimmen lassen. Letzteres gilt beispielsweise für den Taigazilpzalp, die ostpaläarktische Unterart des Zilpzalps, dessen Bestimmung der erwähnte Artikel unterhaltsam diskutiert. Tatsächlich gibt es viele solcher kleinen unscheinbaren, optisch trist braunen Vogelarten, die optisch schwer bestimmbar sind. Im englischsprachigen Raum werden diese als „little brown jobs“ subsumiert. Zu diesen Arten gehört der Seidensänger (Cettia cetti), der sich zudem fast nie zeigt, dafür aber explosiv und sehr laut singt. Der Rhythmus der Seidensängerstrophe ist so prägnant, dass diese sich leicht umschreiben lässt, im von Killian Mullarney mitillustrierten Svensson Vogelführer [1] mit „Hör ZU!…Wie HEIss ich denn?…CETti-CETti-CETti, ich bin’s!“. Schon die alten Griechen kannten dieses auffällige Lied, der unsichtbare Urheber blieb jedoch unbekannt. 1819 bekam dann der italienische Vogelkundler Alberto della Marmora einen der mysteriösen Sänger vors Gesicht und hat ihn auf Kimme und Korn genommen, nach Manier des legendären Helgoländer Vogelwärters Heinrich Gätke. Berühmtheitsstatus erlangte dieses bedauernswerte Individuum posthum, als der niederländische Zoologe Coenraad Jacob Temminck 1822 mit ihm als Typusexemplar die Art als Sylvia cetti erstbeschrieb. Das „cetti“ ist eine Reminiszenz an den italienischen Zoologen Francesco Cetti, der den Vogel zuvor kannte, ihm aber keinen Namen gab. Als Cettia cetti hat der Seidensänger eine eigene Vogelgattung, Cettia, begründet. Zu guter Letzt sogar eine Vogelfamilie, die Cettidae, die 32 Vogelarten umfasst. Der französische Komponist Olivier Messiaen widmete dem Seidensänger einen Satz im Klavierzyklus Catalogue d’oiseaux. Dass der Seidensängergesang den 4. Satz von Beethovens 2. Sinfonie (oder war’s der 2. Satz der 4. Sinfonie?) inspiriert hat, ist wohl eine Mär.

Weg entlang des Seeangers bei Seeburg.
Abb. 2. Seidensänger-Habitat („Ökostrom“ inklusive). Foto: Martin Göpfert

Die Berühmtheit von Marmora’s Seidensänger erlangt unser Besucher wohl nicht, aber als erstem Süd-Niedersachsen-Eroberer seiner Art ist ihm ein Platz in den Annalen unserer Vogelwelt gewiss. Einer der beiden Verfasser fand den Vogel am 25. März, als er, gerade aus dem Urlaub zurück, müde durch die Gegend schlenderte, auf dem Seeanger-Weg. Durch eine abrupte Gesangseruption wurde er mit einem Schlag hellwach. Seidensänger! War das Einbildung? Die Müdigkeit? Ganz sicher war er nicht. Erstmal Tonaufnahmegerät eingeschaltet und dann gemütlich auf den Weg gelegt. Glück gehabt, kein Traktor unterwegs, die Müdigkeit kam zurück, fast wäre er eingenickt. Grob eine Viertelstunde verstreicht, nichts passiert, da plötzlich eine zweite Strophe, lauter und näher, aus dem Retlaken-Weidengebüsch beim Weg (Abb. 1 und 2). Tonaufnahme abgehört, Tonbeleg liegt vor (Audio 1), Bestimmung sicher, andere Vogelkundler informiert. Noch ein bisschen gewartet, aber erstmal nichts zu hören, daher weitergeschlendert, allerdings jetzt ohne Mütze. Die diente als Unterlage für das Aufnahmegerät, das in der taunassen Wiese vor Ort verblieb. Nachdem Uferschnepfe, Beutelmeise und Co. gefunden waren, trifft er Dietmar Radde, angestrengt lauschend bei der Mütze. Nichts passiert während sie plaudernd warten, Dietmar geht die Uferschnepfe suchen, etwas resigniert. Gleich darauf kommt Karl Jünemann und wartet mit, sein Warten wird mit einer Strophe belohnt. Beglückt geht Karl weiter und gibt Dietmar Bescheid, der kommt zurück und kann jetzt auch den Sänger hören (Audio 2).
Aufnahmegerät lief ununterbrochen, d.h. genug Tonmaterial, Mütze eingesammelt und zur Familie zurück. Noch am selben Tag konnten viele Vogelkundler den Vogel hören, auch am Folgetag. Gesehen wurde der Vogel nicht, und am 27. März war er schon wieder weg. An diesem Tag wollte der Finder den Vogel besuchen, fand aber lediglich einen weiteren frustrierten Sucher, der zudem zuvor noch eine Klangattrappe plärren lies.

Audio 1: Territorialgesang des Seidensängers. Mehrere Einzelstrophen sind zu hören, mal näher, mal entfernter. Die Pausen zwischen den Strophen sind gekürzt, als Entgegenkommen für den Hörer. Aufnahme: Martin Göpfert

Sonagramm vom Gesang eines Seidensängers
Abb. 2: Sonagramme von Gesangsstrophen von Audio 1. Der Vogel singt immer wieder exakt die gleiche Strophe. Der Territorialgesang des Seidensängers ist individuenspezifisch; jeder Sänger singt etwas anders, aber der einzelne Sänger singt immer exakt das Gleiche, ohne es zu variieren

Audio 2: Not Radde’s warbler, Radde’s Cetti’s warbler! (Kein Bartlaubsänger, Radde’s Seidensänger!). Aufnahme: Martin Göpfert

Während seinem zweitägigen Besuch sang der Vogel durchweg Einzelstrophen (Audio 1 und 2), mit langen Pausen zwischendrin. Mal waren die Strophen leise, mal waren sie laut, während der Pausen wechselte der Vogel seine Position. Dieses Versteckspiel, gepaart mit abruptem Gesang und langen Pausen, ist möglicherweise eine raffinierte Strategie, um anderen Männchen anzuzeigen, dass hier kein Platz mehr ist. Dieselbe Strategie benutzt ein ausgebuffter „letzter Mohikaner“, der für jeden seiner Schüsse klammheimlich ein neues Schiessversteck aufsucht, um seinen Angreifern eine Übermacht zu suggerieren. Bei den Gesangsstrophen unseres Vogels handelte es sich um Territorialgesang, was auf ein Männchen hindeutet. In der Bestimmungsliteratur findet sich der Hinweis, dass auch Seidensänger-Weibchen singen [2], aber offenbar weicher und nicht so laut und explosiv [3]. Neben ihrem Territorialgesang singen auch Männchen mitunter nicht explosiv, sperlingsähnlich schwätzend, so auch unser Vogel:

Audio 3: Sperlingsähnliche „Schwatz-Strophe“ unseres Vogels. Für die Audiodatei auf das Sonagramm klicken. Im Hintergrund Grünfink. Aufnahme: Martin Göpfert

Zudem besitzen Seidensänger ein vielfältiges Ruf-Repertoire. Der häufigste Ruf, ein scharfes „Plitt“, konnte aufgezeichnet werden – in Form gereihter Einzelrufe und als rasselnde Ruf-Serie. Prägt man sich diesen Ruf ein, kann man mit Glück nicht-singende Seidensänger finden:

Audio 4: „Plitt“-Rufe unseres Vogels. Für die Audiodatei auf das Sonagramm klicken. Dieses metallische „plitt“ ist vermutlich ganzjährig der häufigste Ruf der Art, der auch nichtsingende Überwinterer verrät (siehe auch Aufnahme 12 bei soundapproach.co.uk. Aufnahme: Martin Göpfert

Wer wissen will, wie Seidensänger aussehen, muss in seinen Vogelführer gucken oder im Internet suchen. Mancher kennt ihn vielleicht aus dem Urlaub – als einziger Vertreter seiner Gattung kommt der Seidensänger in Europa und Nordafrika vor, vor allem rund um das Mittelmeer und gern in Wassernähe. Dort sind die Winter mild, was für ihn als nicht ziehendem Standvogel überlebensentscheidend ist. Während die Alten eher ortsverliebt sind, streifen junge Seidensänger abenteuerlustig umher und können so neue Lebensräume erschließen. So gab es in den 1960er bis 1980er Jahren mehrere Vorstöße der Art nach Südengland und in die Niederlande. Diese wurden allerdings regelmäßig durch kalte Winter zum Erliegen gebracht. In Südengland hat sich die Art mittlerweile fest etabliert, und ab 2005 gab es eine spektakuläre Eroberung der Niederlande. Hier spielte der 10.000 ha große Nationalpark „Brabantse Biesbosch“ (= Binsenwald) im Südwesten des Landes die zentrale Rolle. In dieser von den Gezeiten beeinflussten Wasserwildnis haben sich optimale Lebensräume entwickelt, z.B. durch die Herausbildung einer dichten Krautschicht und, an den Gewässerufern, von teils verrottenden und damit insektenreichen Röhrichtbeständen und dichtem Weidengestrüpp. Zudem sorgen 300 Biber für ein dynamisches, vogelfreundliches Wasserregime. Bei einer intensiven Kartierung wurden dort im Jahr 2015 enorme 745 Reviere ermittelt. Einen exzellenten Einblick in den Seidensänger-Lebensraum verschafft uns ein Video.
Mittlerweile hat sich unser Porträtvogel in unserem Nachbarland ähnlich explosiv ausgebreitet wie sein Gesang klingt. 2022 wurden dort beeindruckende 4314 Reviere gezählt. In optimalen Habitaten mit reichhaltigem Insektenangebot können, nach Angaben im aktuellen Brutvogelatlas, Seidensänger auch kältere Winter besser überstehen als früher (dutchavifauna.nl).

In Anbetracht dieser Bestandsexplosion ist es nicht überraschend, dass der Seidensänger auch Deutschland zunehmend besiedelt.
Der erste (isolierte und überraschende) Brutnachweis für Deutschland liegt lange zurück. Er stammt aus dem Jahr 1975 von den Derneburger Fischteichen (Landkreis Hildesheim, Niedersachsen). Dort brachte ein Paar zwei Bruten hoch. Davor und danach war die Art bundesweit eine sehr seltene Ausnahmeerscheinung. Vierzig Jahre später wurde 2015 in Hessen ein Brutverdacht (Rheingau-Taunus-Kreis) gemeldet und im Schwalm-Eder-Kreis eine Brut dokumentiert (Seltene Vögel in Deutschland 2021). Danach mehrten sich die Nachweise, vor allem im Westen von Nordrhein-Westfalen, wo Seidensänger mittlerweile als etablierte Brutvögel gelten und sich, mit niederländischer Unterstützung, immer weiter nach Nordosten ausbreiten (Abb. 3). Knapp nördlich von uns hat die Art im Hildesheimer Raum bereits Fuß gefasst und auch bei uns ist damit zu rechnen, vor allem bei milden Wintern wie diesem.

Karte über die Ausbreitung des Seidensängers
Abb. 3. Seiden(sänger)straße entsteht! Verteilung der Seidensänger-Meldungen auf ornitho.de in den Jahren 2019/20, 21/22, und 23/24. Gelber Pfeil: unser Vogel. Beachte die Vorkommen im westlichen NRW und nördlich des Harzes

Dass das erste ertappte Mitglied der Seidensänger-Vorhut ausgerechnet den Seeanger aussuchte, scheint durchaus bezeichnend. Dieses Gebiet ist ein früheres als Grünland genutztes Niedermoor, 2001 wurde es wiedervernässt. Seitdem verläuft die von Nährstoffeinträgen geförderte Sukzession ungebremst. Schilf- und Röhrichtbestände breiteten sich aus, Weidengestrüpp und andere Büsche traten hinzu, in Kombination mit der Entwicklung einer dichten Krautschicht – optimal für diesen Eutrophierungsgewinner. Mittlerweile existieren großflächig an den Ufern von Abbaugewässern und ehemaligen Klärteichen ähnliche Strukturen, die einer Ansiedlung zuträglich sind.

Seeanger aus der Vogelperspektive
Abb. 4. Seeanger, aus Seidensänger-Anflugperspektive. Foto: Martin Göpfert

Einen Tag nach unserem Vogel schlug ein weiterer grob 35 km südwestlich von Göttingen auf, Fabian Hirschauer konnte ihn an den Kelzer Teichen (Altkreis Hofgeismar, Hessen) singend entdecken. Fabians Vogel blieb vor Ort, während es unserem bei uns offenbar nicht gefiel. Der Grund dafür ist unbekannt, eventuell hat ihm das Abspielen von Klangattrappen suggeriert, sein neu gefundenes Revier sei bereits besetzt. Den Einsatz von Klangattrappen verbietet das Bundesnaturschutzgesetz und, vertiefend, die Bundesartenschutzverordnung. Auch finden vorjährige Neuankömmlinge die lautstarken Gesänge potenter Schreier mit Sicherheit weder animierend noch lockend, sondern machen sich ganz schnell aus dem Staub. Nördlich von uns erfolgen Seidensänger-Meldungen auf ornitho.de zumeist geschützt, was zumindest den Vögeln offensichtlich ganz und gar nicht missfällt.
Für das Ansiedlungs- und Ausbreitungsverhalten mancher Vogelarten sind kopfstarke Quellpopulationen von entscheidender Bedeutung. Das belegt ein Blick auf die bemerkenswerte Bestandszunahme von Blau- und Schwarzkehlchen in Norddeutschland. Auch sie kann letztlich auf die Einrichtung großer Polderkomplexe und Schutzgebiete in den Niederlanden zurückgeführt werden, wo sich beide Arten stark vermehren konnten. Hinzu trat die beginnende „Renaturierung“ abgetorfter Moore in Norddeutschland, deren Randbereiche vom Schwarzkehlchen schnell in Beschlag genommen wurden. Von dieser überraschenden Entwicklung konnte auch unsere Region (abgeschwächt) profitieren.
Neben lekker Gouda, Edamer und Lakritz – nicht zu vergessen einige charismatische Fußballspieler und –trainer – hat uns unser Nachbarland sehr viel Gutes beschert. Jetzt schickt es uns Seidensänger – auf dass es die nächsten bei uns hält!

Martin Göpfert und Hans H. Dörrie

 

Literatur
[1] Lars Svensson, Dan Zetterström, Killian Mullarney: Der Kosmos-Vogelführer. 3. Auflage. Kosmos, Stuttgart 2023.
[2] Robert Hume, Andy Swash, Robert Still, Hugh Harrop: Europe’s Birds: An Identification Guide. Princeton University Press, Princeton 2021.
[3] Frances Le Sueur: Some Cetti’s Warbler breeding observations, Bird Study 27, 249-253, 1980.