„… über jeden Schätzungsversuch hinaus liegende Individuenzahlen, dass, deckte das Gebiet von Memel bis zum Ural ein ununterbrochener dichter Wald, und jeder Baum desselben hätte ein Nest getragen, alle Bruten derselben nicht ausgereicht haben würden, das Material auch nur eines der letzten jener Tage zu liefern.“ So Heinrich Gätke, ein Titan der deutschsprachigen Vogelkunde und „Vogelwärter von Helgoland“ in seinem Fazit des Massenzugs von Eichelhähern über die Insel im Oktober 1882. Hat Gätke übertrieben? Mit hoher Wahrscheinlichkeit: ja. Gleichwohl dokumentieren seine Äußerungen die ungeheure Faszination, die von großen Vogelschwärmen ausgeht, gepaart mit einer offenkundigen Hilflosigkeit, diese auch nur annähernd zu quantifizieren.
Im Winter 2023 ging es nicht um Eichelhäher, sondern – um Bergfinken (Fringilla montifringilla), die über fast drei Monate zu Millionen einen Schlafplatz im Solling angeflogen haben. Eigentlich konnte das nicht sein: Der NABU wusste in seiner Auswertung der „Stunde der Wintervögel 2023“ zu vermelden, dass die Bergfinken wegen des milden Winters nicht nach Deutschland gezogen waren. Der Tunnelblick aufs Futterhaus macht’s möglich…
Große Ansammlungen von Bergfinken kommen in unserer Region ab und an vor, vor allem auf dem Heim- und Wegzug bzw. bei extremen Wetterlagen. Als regulärer Wintergast tritt er nur spärlich auf. Herausragend sind „Millionen Vögel“ am 18. Januar 1977 bei Volkmarshausen, gefolgt von ebenso vielen am 3. April 1984, die nach einem Kälteeinbruch mit Schneefall bei Oberode von Ost nach West zogen. Über Schlafplätze war bis 2023 nichts bekannt.
Ein geselliger Nomade
Der Bergfink, das nördliche Pendant unseres Buchfinken, ist ein sehr häufiger Brutvogel der paläarktischen Taiga, von Norwegen bis Kamtschatka. Die fennoskandische Population wird im Europäischen Brutvogelatlas EBBA 2 auf ca. sechs Millionen Paare beziffert. Bergfinken sind Zugvögel. In extremen Mastjahren der Buche können sie auch, wie z.B. in Südschweden 2019/20, zahlreich nahe dem Brutgebiet überwintern. Das Überwinterungsgebiet umfasst im wesentlichen Europa bis in den Kaukasus und die türkische Schwarzmeerregion. In Mitteleuropa vertilgen die Vögel vor allem fettreiche Bucheckern und andere Sämereien, anderswo auch Maiskörner und Sonnenblumenkerne. Zur Brutzeit fressen sie Insekten, besonders Birken-Moorwald-Herbstspanner bzw. deren Raupen. Wenn es zur Massenvermehrung ihrer Nahrung kommt, können sie sich auch in diesem Lebensabschnitt sehr gesellig/nomadisch verhalten und kolonieartig brüten. Im Winter kann es, besonders in Süddeutschland und in der Schweiz, zu spektakulären Masseneinflügen kommen, mit Schlafplätzen, die von Millionen angeflogen werden. Die letzten Vorkommen dieser Art in Deutschland gab es 2015 bei Haiger (Lahn-Dill-Kreis) und 2019 bei Tengen (Landkreis Konstanz).
Das Jahr 2022 war in unserer Region von einer außergewöhnlichen Buchen-Vollmast geprägt. Zudem fiel im Winter vergleichsweise wenig (maximal 20 cm), schnell wieder geschmolzener Schnee, was der Futtersuche am Boden förderlich war.
Der Einflug
Am 13. Januar 2023 meldete D. Herbst in unserer Datenbank ornitho.de, dass sich beim Dörfchen Abbecke am Nordostrand des Sollings ein riesiger Bergfinkenschwarm von mehreren hunderttausend Vögeln aufhält. Nach Angaben von Anwohnern war dort eine Million Bergfinken bereits am 3. Januar präsent. Das massenhafte Auftreten fand relativ weit nördlich in Deutschland statt. Grund dafür könnte gewesen sein, dass regulär im Spätherbst und Frühwinter nach Südwesten ziehende Bergfinken wegen des außergewöhnlichen Nahrungsangebots hier „hängen geblieben“ und nicht weiter gezogen sind.
Am 21. Januar bot sich Göttinger Beobachterinnen und Beobachtern, die sich in der Nähe des Friedrichshäuser Bruchs im Solling postiert hatten, ein unvergleichliches Schauspiel. Ab ca. 45 Minuten vor Sonnenuntergang strebten endlos lange Bänder und Einzeltrupps von bis zu 50.000 Bergfinken einem Schlafplatz zu. Die Szenerie war ungeheuer beeindruckend: Es war windstill und die Vögel stumm, nur ihre rauschenden Flügelschläge waren zu hören. Ihre Gesamtzahl ließ sich auf ca. zweieinhalb Millionen beziffern. Dabei konnte nur ein Teil des Einflugkorridors eingesehen werden, so dass es auch vier bis fünf Millionen gewesen sein könnten.
Der Schlafplatz
Die Büwiesen sind ein kleines Tal, das vom Abbecker Bach durchquert wird. Oberhalb erstreckt sich in Hanglage nahe einem Wanderweg ein gesunder Fichtenbestand im Baumholzstadium. Die Bäume sind stark beastet und stehen dicht und dunkel. Optimal für die Nachtruhe der vielen Vögel. Bald war der Waldboden von unzähligen weißen Kotspritzern bedeckt. Auch die Kleidung der Vogelbeobachter bekam ihr Teil ab. Der Schlafplatz war zunächst 6,5 Hektar groß. Er wurde vorsichtshalber bei ornitho.de gesperrt eingegeben, um, wie etwa bei Haiger 2015 geschehen, Massenaufläufen, Blitzlichtgewittern, illegal angelegten Parkplätzen und dem Errichten von Glühwein- und Bratwurstbuden entgegenzuwirken. Die Finken-Zahlen stiegen bis Mitte März offensichtlich noch an, weil sich vermutlich aus dem Süden heimziehende Artgenossen hinzugesellten.
Am 16. März war der nunmehr 8,5 Hektar große Schlafplatz noch voll besetzt. Am 17. März waren es „nur“ noch 100.000 bis 200.000 Vögel (vor allem in den neu genutzten Bäumen auf der anderen Talseite), am Tag darauf schrumpfte ihre Zahl auf 3000. Wo sind sie hin? Bei ornitho.de gab es danach keine Hinweise auf große Ansammlungen heimziehender Vögel, mit Ausnahme des weit entfernten Erzgebirges, wo Ende März bis zu 30.000 Ind. in einer Zugstausituation gezählt wurden. Bergfinken ziehen auch nachts. Waren unsere Gäste schnell wieder in Skandinavien, das sie in wenigen Etappen oder gar in einem Nonstoppflug erreicht hatten?
Am Schlafplatz gestaltete sich das Geschehen noch eindrucksvoller als am Friedrichshäuser Bruch. Genauere Schätzungen waren hier nicht möglich, aber wenn man eine, nach schwedischen Angaben ermittelte Kapazität von bis zu einer Million pro Hektar (!) Wald mit dicht an dicht schlafenden Finken zugrunde legt, könnten es ca. acht Millionen gewesen sein, nach einigen ornitho-Daten sogar zehn Millionen, praktisch ein Großteil der fennoskandischen (und angrenzenden nordwestrussischen?) Population auf kleiner Fläche! Der Schlafplatz wurde tageweise aus jeweils einer Richtung angeflogen, auch jenseits der Weser aus dem Raum Höxter, was die dortige Tagespresse sogleich zu einem (ziemlich dämlichen) Vergleich mit einem bekannten Hitchcock-Thriller animierte. Vor der Besetzung der Schlafbäume zelebrierten die Riesenschwärme, ähnlich wie Stare, über den Köpfen der Beobachter rasante Flugmanöver. Das war ungeheuer eindrucksvoll und unvergesslich. Hatten die Vögel sich in den Fichten niedergelassen, waren sie alles andere als stumm: Eine enorme Geräuschkulisse aus unablässigem Zwitschern, die an einen großen Wasserfall erinnerte, erfüllte die nähere Umgebung. Diese Zwitscherkaskaden waren den lauschenden Beobachtern bisher unbekannt, sie klangen völlig anders als die vertrauten nasalen Kontaktrufe der Art. Tauschten die Finken, wie z.B. von Corviden-Schlafplätzen bekannt, mit diesem Mittel der Verständigung Informationen aus und verabredeten sich, welche Nahrungsflüge am Folgetag unternommen werden könnten?
Besonders bizarr war der Anblick der wenigen Laubbäume im Tal. Sie wiesen eine Unmenge trockener Blätter auf. Wie verblüfft war man, wenn die „Blätter“ auf einmal aufflogen und der Baum sich in seinem kläglichen Dürrezustand offenbarte!
Nach eingetretener Dunkelheit herrschte totale Stille. Der Abflug erfolgte pünktlich bei Sonnenaufgang, in vielen Fällen jeweils nur in eine Himmelsrichtung. Die Vögel von der anderen Seite des Bachtals flogen zunächst zum Hauptschlafplatz, um dann gemeinsam mit der großen Masse in den Tag zu starten.
Spaziergänger und Vogelfans wurden kaum zur Kenntnis genommen. In der Regel kamen weniger als zehn Personen zusammen, mindestens einmal waren es bei einer Exkursion der Firma Birdingtours mehr. An zwei Tagen wurden die Finken vom Gebell großer Hunde aufgescheucht und verursachten dabei einen lauten Knall, der an einen überdimensionierten Polenböller erinnerte. Kleinere Kläffer in Terriergröße auf täglicher Gassi-Runde wurden augenscheinlich ignoriert.
Unsere Region: Fest im Griff der kleinen Finken
Der Aktionsradius der Vögel umfasste, wie von anderen Schlafplätzen bekannt, ca. 45 Kilometer. Süd-Niedersachsen und Nordhessen mit ihren großen Buchenwäldern wurden massenhaft in Beschlag genommen. Zwischen Ende Januar und Mitte Februar waren riesige Schwärme unterwegs: Am 28. Januar zogen 60.000 Bergfinken bei Deppoldshausen/Gö.-Nikolausberg nach Nordwesten (M. Krömer, M. Göpfert). Am 29. Januar bewegten sich bei Ebergötzen geschätzte ein bis zwei Millionen Richtung Südosten (M. Jenssen), am Lohberg bei Bovenden waren es 150.000 nach Westen ziehende Vögel (A. Stumpner), bei Reinhausen gar 500.000 Ind. (A. Schwarze). Über dem nordhessischen Reinhardswald konnten am 14. Februar ca. zweieinhalb Millionen ermittelt werden (M. Sommerhage). Am 17. Februar flogen bei Wiershausen 100.000 Bergfinken in Richtung Schlafplatz (G. Mackay), am gleichen Tag mindestens eine Million über den Reinhardswald in einem 25 km langen Korridor Richtung Sievershausen (wobei Zwischenstopps eingelegt wurden) (M. Sommerhage). Am 4. März strebten an der Landesgrenze bei Lippoldsberg 50.000 Ind. dem Schlafplatz zu (M. Sommerhage), am 15 März bei Tietelsen (Kreis Höxter) 55.000 Ind. (A. Schwickardi). Und das ist nur eine Auswahl der Höchstzahlen. Kleinere Trupps von bis zu zehn- bis 15.000 Ind. waren praktisch überall unterwegs. Unfassbar und für Niedersachsen in diesen Dimensionen absolut einzigartig! Nahezu alle Beobachtungen gelangen am (späten) Nachmittag und konnten mit hoher Wahrscheinlichkeit dem Sollinger Schlafplatz zugeordnet werden.Interessanterweise gerieten nur vergleichsweise wenige Nahrung suchende Finkenscharen in den Blick, u.a. im Bramwald und in der Billingshäuser Schlucht bei Göttingen. Das ist sicherlich ein Artefakt, weil das Innere von Buchenwäldern im Winter nur selten von Vogelkundigen aufgesucht wird.
Faszinierend ist die Frage wie sich die Vögel orientierten. Schließlich kannten die allermeisten unsere Region nicht. Für flexible Nomaden kein Problem. Offenbar ist es ihnen mit weiträumigen Orientierungs- und Nahrungsflügen schnell gelungen, eine Landkarte im Kopf anzulegen, mit dem Schlafplatz als Zentrum und prominenten Landmarken wie dem Weser- und Leinetal in Kombination mit viel versprechenden Waldgebieten. Dabei erhebt sich die Frage, warum diese Massenzüge im Süden der Region erst nach vier Wochen Anwesenheit des Riesenschwarms registriert wurden. War dies auch ein Artefakt oder hatten die Vögel zuvor Buchenwälder nördlich und westlich des Schlafplatzes aufgesucht? Dazu geben die Daten leider nichts her.
Eine olfaktorische Orientierung an den strengen Guano-Ausdünstungen des Schlafplatzes ist, zumindest für einen derart großen Radius, wenig wahrscheinlich. Zudem waren diese nach Regen- und Schneefällen weniger spürbar als sonst. Rätselhaft bleibt, dass, wie bereits oben erwähnt, die Vögel abends aus einer Richtung einflogen (und tags darauf wieder in eine andere abflogen), und sich dieses Spiel wiederholte. Wie konnten sie das koordinieren? Geben, wie bei den Staren, unzählige Kleingruppen von weniger als zehn Vögeln die Richtung vor? Auf jeden Fall: Schwarmintelligenz in Reinkultur…
Finkenfreunde der besonderen Art
Auf gefiederte Prädatoren übten die Riesenschwärme eine gewisse Anziehungskraft aus. Zu nennen sind hier tageweise Wanderfalken (zwei bis drei), Habichte (zwei bis drei), Sperber (bis zu zehn), Turmfalken (vereinzelt), Merline (einzeln), Waldohreulen (einzeln) und Waldkäuze (einzeln). Besonders skurril verhielten sich die bis zu 15 Mäusebussarde: Sie flogen tollpatschig in den Schwärmen umher, ohne einen Vogel zu erbeuten. Vielleicht wurden sie von der Massendynamik mitgerissen. Oder wollten sie nur die Gesellschaft der zahlreichen Gäste genießen und ihren Spaß haben?
Erstaunlich war, dass am Schlafplatz kaum tote oder geschwächte Vögel gefunden wurden. Rein statistisch hätten dort an jedem Morgen tausende, an natürlichen Todesursachen gestorbene Finken liegen müssen. Für carnivore, terrestrisch aktive Prädatoren jeder Größenklasse ist ein monotoner Fichtenbestand eigentlich nicht sehr attraktiv. Oder doch, wenn es ausnahmsweise so viel zu fressen gibt? Sehr mysteriös, aber vielleicht auch ein Hinweis auf eine hohe Überlebensrate.
Nahrungskonkurrenten?
Wie viele Tonnen Bucheckern haben die Vögelchen gefressen? Eine ganze Menge. Nach Angaben schwedischer Vogelkundler verdrücken eine Million Bergfinken acht Tonnen Bucheckern – pro Tag. Kommentar eines indigenen Spaziergängers: „Die fressen uns ja alle Bucheckern weg!“ Als lebten wir noch in den harten Nachkriegsjahren, als man sich mit Brot und Kaffee aus Bucheckern begnügen musste und die Wälder wegen Brennholzmangels hübsch aufgeräumt wirkten. Oder sorgte sich der Mann, offenkundig ein Jäger, um „seine“ Wildschweine?
Egal: Gönnen wir den Vögeln ihr Futter, das anderswo tonnenweise in Gärten gereicht wird, für ca. 300 Millionen Euro im Jahr. Bei uns ist es ihnen offenbar gut ergangen. Anders hätte es vielleicht ausgesehen, wenn sie in Frankreich oder Italien überwintert hätten.
Kommen die Vögel wieder? Mit großer Sicherheit nicht zu diesem Schlafplatz. Schlafplätze werden in der Regel nur in einem Jahr besetzt. Die Eindrücke aus dem Winter 2023 waren aber so nachhaltig, dass sie für einige Jahrzehnte reichen dürften…
Hans H. Dörrie und Mathias Siebner
Wie beeindruckend diese Vogelmassen waren, lässt sich auf Fotos nur schwer darstellen. Deshalb gibt es zum erstenmal auf dieser Webseite ein Video. Zu beachten ist, kurz vor Ende des Films, der qualifizierte Kommentar eines der Autoren 😉
Literatur
Dörrie, H.H. (2010): Anmerkungen zur Vogelwelt des Leinetals in Süd-Niedersachsen und einiger angrenzender Gebiete 1980-1998. Kommentierte Artenliste. 3., überarb. Fassung
Fokken, A, (o.J., 1989): Die Vogelwelt des Bramwaldes, der Oberweser und des Stadtgebietes Münden. Hann. Münden
Gätke, H. (1900): Die Vogelwarte Helgoland. Zweite vermehrte Auflage. Reprint: Verlag für Helgoland-Literatur M. Knauß. 1987
Glutz von Blotzheim, U.N. (1997): Handbuch der Vögel Mitteleuropas. Band 14/II. Fringillidae. Aula-Verlag, Wiesbaden
Jenni, L. (1987): Mass concentrations of Bramblings Fringilla montifringilla in Europe 1900-1983: Their dependance upon beech mast and the effect of snow-cover. Ornis scandinavica Vol. 18: 84-94
Keller, V. et al. (2020): European Breeding Bird Atlas 2. Distribution, Abundance and Change. Lynx Edicions, Barcelona
Khil, L. et al. (2011): Der Massenschlafplatz von Bergfinken (Fringilla montifringilla) in Österreich im Winter 2008/2009. Limicola 25: 81-100
Svensson, T. (2020): A review of mass concentrations of Bramblings Fringilla montifringilla: implications for assessment of large numbers of birds Cornell Universitiy
Zang, H. et al. (2009): Die Vögel Niedersachsens. Rabenvögel bis Ammern. Natursch. Landschaftspflege Niedersachs. 8. H. 2.11
© alle Fotos im Beitrag und Video: Mathias Siebner