Ein seltener Gast auf Tour in Süd-Niedersachsen

Wer erinnert sich noch an das Jahr 1986? Die Compact Disc hielt langsam Einzug in deutsche Wohnzimmer, Poster von Samantha Fox hingen an der Wand deutscher Jugendzimmer (zumindest beim Bruder des Autors), Boris Becker taugte noch zum Vorbild und Bruce & Bongo stürmten mit „Geil“ die Charts. Sehr lange her – 38 Jahre um genau zu sein. Aber 1986 war eben auch das Jahr, an dem Südniedersachsen zuletzt von einer Brachschwalbe beehrt wurde, nämlich am 21. Mai 1986 im Leinepolder Salzderhelden. Seit 2024 ist die Region um den Besuch eines dieser Schmuckstücke reicher. Dass gleich 23 Beobachter diesen Vogel sehen konnten war keineswegs selbstverständlich und das Resultat guten Durchhaltevermögens gepaart mit exzellenter Koordination.

Fliegende Rotflügel-Brachschwalbe
Abb.1: Besser geht’s nicht: Mit diesem ‚Belegfoto‘ konnte die Brachschwalbe eindeutig bestimmt werden. Foto: Volker Hesse

Am Morgen des 30. April war ich im Seeanger unterwegs. Bei einem Scan mit dem Spektiv durchs Gebiet war alles wie immer – die üblichen Verdächtigen saßen an den immergleichen Stellen und ließen einen eher langweiligen Vormittag vermuten. Nur etwas weiter entfernt, an der Wasserkante in der legendären Kurve, sah ein sitzender Vogel etwas komisch aus. Meinen ersten Eindruck musste ich revidieren als ich mich dem Vogel genähert hatte und im Spektiv den kurzen, rot-schwarzen Schnabel sowie die cremefarbene, mit einer dünnen schwarzen Linie umrandete Kehle erkennen konnte: eindeutig eine Brachschwalbe. Eine Artbestimmung war vorerst nicht möglich, auch wenn der hohe Rotanteil des Schnabels eine Rotflügel-Brachschwalbe vermuten ließ. Auch jahreszeitlich wäre dies die wahrscheinlichere Art, sind doch 35 der 42 der seit 1977 in Deutschland gesehenen Rotflügel-Brachschwalben dem Heimzug zuzuordnen, vornehmlich taucht diese Art in Deutschland in der zweiten Mai-Hälfte auf. Bei der ähnlich aussehenden Schwarzflügel-Brachschwalbe gibt es laut Daten der Internetplattform ornitho.de lediglich eine Sichtung vor Juni; die allermeisten Vögel werden aber auf dem Wegzug gesehen.  So oder so: Nach den Seltenheitenberichten der DSK bzw. DAK und den verifizierbaren Daten auf ornitho stellt der anwesende Vogel den zweitfrühesten Nachweis einer Brachschwalbe in Deutschland dar.

Abb. 2: Rotflügel-Brachschwalben sind auf dem Heimzug viel häufiger zu beobachten als auf dem Wegzug. Grafik: Volker Hesse

Die Nominatform der Rotflügel-Brachschwalbe brütet lückenhaft von Südeuropa und Nordafrika bis nach Kasachstan und Pakistan. Mit 6700 – 22000 Brutpaaren zählt sie zu den selteneren europäischen Limikolen. Der Heimzug der Art aus den Savannen der Sahelzone beginnt im April, hat im Mai seinen Höhepunkt und ebbt in der ersten Junihälfte ab (Karaardic & Özcan 2017). Wie auch andere südlich verbreitete Arten kommt es bei der Rotflügel-Brachschwalbe auf dem Heimzug gerne zum „spring-overshoot“: Die Vögel schießen bei günstigen Wetter- und vor allem Windbedingungen schlicht über das Ziel hinaus und tauchen so an Orten auf, die weit nördlich ihrer eigentlichen Brutgebiete liegen. Das dürfte auch im Falle unseres Vogels der Fall gewesen sein: „Die Wolke kommt!“ kündigte am 27. April ein Meteorologe auf der Internetseite daswetter.com etwas dramatisch mit Saharastaub angereicherte Luftmassen aus dem Süden an. In der Tat dominierten in der Phase vor dem Auftauchen unseres Vogels entsprechende Winde, die vornehmlich aus dem Südwesten wehten. Es ist daher denkbar, dass die anwesende Brachschwalbe diese Winde für den Heimzug nutzte und dabei bis Deutschland geflogen ist. Dabei darf unsere Region getrost als Rotflügel-Brachschwalben-Hotspot gelten: von den sechs der seit 1977 in Niedersachsen nachgewiesenen Vögel ist dies der dritte aus dem Bearbeitungsgebiet des AGO.

Details
Flugroute der Rotflügel-Brachschwalbe

Wer glaubte, mit dem Abflug aus dem Seeanger sei der Vogel verschwunden, der irrt sich, denn um 16:01 Uhr kam die Meldung, dass eine Rotflügel-Brachschwalbe am Northeimer Freizeitsee sitzen würde. Auch hier hielt es den Vogel nicht lange, erneut entfernte er sich erneut in nordwestlicher Richtung und strapazierte die Frusttoleranz derjenigen, die sich noch auf dem Weg zum Freizeitsee befanden. Gebietskennern war klar, dass in Abflugrichtung der Leinepolder Salzderhelden liegt und durchaus passende Rasthabitate bietet. Per Handy wurde eine Nachsuche schnell koordiniert und tatsächlich wurde die Brachschwalbe nur 25 Minuten später später ebendort unter Trauerseeschwalben entdeckt. Hier war sie glücklicherweise etwas geduldiger und zeigte sich auch den spät mit dem Zug anreisenden Enthusiasten bis in die Dämmerung immer wieder.

Eine Rotflügel-Brachschwalbe neben einem Grünschenkel am Freizeitsee in Northeim
Abb. 3: Zwischenstopp am Northeimer Freizeitsee neben einem Grünschenkel. Foto: Bernd Riedel

Ob viele Beobachter auf dem Heimweg das Lied von Bruce & Bongo auf den Lippen hatten, darf bezweifelt werden, Geil fanden den Vogel aber wohl die allermeisten.

Volker Hesse

Quellen:
DSK & DAK-Berichte
ornitho.de (nur verifizierbare Nachweise)
Daswetter.com (27.04.2024): Meteorologe Johannes Habermehl rechnet mit riesiger Sahara-Staubwolke: Wann erreicht sie Deutschland?
Karaardiç, H. & L. Özkan (2017): Breeding and migratory distribution of collared pratincole (Glareola pratincola) at Boğazkent, Southern Turkey. Acta Biologica Turcica 30 (3): 74-78

Die kleine Brachschwalbe neben einer Nilgansfamilie.
Abb. 4: Im Vergleich zu den Nilgansküken wirkt die Rotflügel-Brachschwalbe winzig klein, aufgenommen am Mittag im Seeanger. Foto: Mathias Siebner