Turmfalken in Göttingen

Die Wahl des Turmfalken zum „Vogel des Jahres 2007“ bietet einen willkommenen Anlass, die Naturgeschichte dieses Greifvogels in unserer Stadt zu skizzieren.

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Abb. 1: Männlicher Turmfalke. Foto: NABU/M. Heng

Einst…

Auf der Sympathieskala der gefiederten Beutegreifer nahm Falco tinnunculus immer schon eine gewisse Sonderstellung ein. Vom verbreiteten Hass auf Greifvögel war er weniger betroffen als seine Verwandten. Die ornithologischen Altmeister des 19. Jahrhunderts verteidigten diesen „liebenswürdigsten Falken“ (A.E. Brehm) als „nützlichen“ Mäusejäger, den es uneingeschränkt zu schützen gelte. Gleichwohl wurde er bis ins zweite Drittel des 20. Jahrhunderts vom Menschen verfolgt. Dabei kam den letalen Verwechslungen mit dem „schädlichen“ Sperber eine besondere Bedeutung zu. Auch das beliebte Ausschießen von Krähennestern hat so mancher Falkenbrut den Garaus bereitet. Dem abstoßenden Treiben nach der Devise „Krummer Schnabel – krummer Abzugfinger“ konnte in Deutschland erst in den 1970er Jahren durch gesetzliche Verordnungen Einhalt geboten werden.
Bis in die 1980er Jahre war der Turmfalke im engeren Göttinger Stadtgebiet nur mit maximal vier Brutpaaren vertreten. Damals machte er seinem Namen noch alle Ehre, denn die Bruten konzentrierten sich im wesentlichen auf die hohen Kirchtürme von St. Johannis und St. Jacobi (Eichler 1949-50, Köpke o.J., Hampel & Heitkamp 1968, Brunken 1978, Zang, Heckenroth & Knolle 1989).

… und jetzt

Köpke (o.J.) brachte Mitte der 1950er Jahre den geringen Brutbestand in Göttingen und Umgebung mit einem Mangel an Nistgelegenheiten in Zusammenhang. Diesem Manko wurde mittlerweile gründlich abgeholfen. Heute hängen an den meisten Schulen und an vielen anderen öffentlichen Gebäuden halboffene Kästen, die von den Vögeln gern angenommen werden. Die artifiziellen Brutnischen haben zum Anwachsen der Population beigetragen. Reduzierte Verfolgung, Entschärfung der DDT-Problematik und insgesamt mildere Winter sind weitere Faktoren, die den Zuwachs begünstigt haben.
1999 erbrachte eine erstmals durchgeführte systematische Erfassung in der südlichen Hälfte des engeren Stadtgebiets auf 13 km² einen Bestand von 15 Brutpaaren. Von diesen hatten allein 11 einen Nistkasten bezogen (Dörrie 2000). Kartierungen im historischen Göttinger Kerngebiet von 3,6 km² ergaben 2005 zehn Brutpaare und 2006 sieben Brutpaare (Dörrie 2006). Die Abundanz ist im altbau- und nistkastenreichen Kerngebiet am höchsten. Doch sind auch aus den Außenbezirken der Stadt (Weende, Uni-Nord, Grone), den eingemeindeten Dörfern (u.a. Groß Ellershausen, Nikolausberg, Roringen) und vom Stadtrand (Klostergut Reinshof, ehemalige Bauschuttdeponie Geismar) weitere Brutplätze bekannt, nicht zu vergessen die traditionellen Vorkommen auf den Offenflächen im Göttinger Wald (Kerstlingeröder Feld und Deppoldshausen). Die aktuelle Populationsgröße beträgt im gesamten Göttinger Stadtgebiet (116 km²) ungefähr 30 Paare. Daraus ergibt sich eine großflächige Siedlungsdichte von ca. 26 Rev./100 km², die einen der vorderen Plätze im niedersächsischen Turmfalken-Ranking anzeigt. Göttingen liegt hinter Osnabrück (40 Paare auf 120 km²), dessen Stadtgebiet jedoch einen geringeren Anteil geschlossener Waldgebiete aufweist, in denen Turmfalken nicht vorkommen, und das insgesamt erheblich offener strukturiert ist (Kooiker 2005).

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Abb. 2: Die Karte zeigt für den Süd- und Mittelteil des engeren Göttinger Stadtgebiets Brutplätze, die zwischen 1999 und 2006 mehrmals besetzt waren.

Ist der Turmfalke ein Stadtvogel?

Ja und nein. Die Vögel brüten zwar in der Stadt, gehen jedoch fast ausschließlich im offenen Kulturland auf Nahrungssuche. Göttingen ist eine kleine Großstadt; deshalb ist kein Brutplatz mehr als drei Kilometer vom Offenland entfernt. Ein vermehrtes Erbeuten von Kleinvögeln im Siedlungsbereich, wie es aus Ballungsgebieten oder weiträumigen Metropolen bekannt ist, wurde bei uns noch nicht dokumentiert.
Obwohl der Turmfalkenbestand im Göttinger Siedlungsbereich deutlich zugenommen hat, wird die Populationsdynamik nach wie vor vom Feldmaus-Angebot bestimmt. In extrem schlechten Mäusejahren finden nur wenige erfolgreiche Bruten statt, so waren es in den Jahren 2002 und 2006 im engeren Stadtgebiet nur deren zwei. Die Abhängigkeit der Bestandszahlen von der verfügbaren Beute wird auch durch die Ergebnisse planmäßig betriebener Zählungen am Diemardener Berg südlich von Göttingen verdeutlicht. Hier versammeln sich im August und September Turmfalken (im wesentlichen Jungvögel), die zu einem Gutteil der Göttinger Stadtpopulation entstammen dürften. Die Graphik basiert auf den höchsten Tagessummen von jeweils ca. 15-20 Zählterminen in den Jahren 1997 bis 2006 und zeigt die Korrelation des Feldmausvorkommens mit der Zahl jagender Turmfalken. Herausragend sind die Gradationsjahre 1998 und 2005, während die Jahre 2002 und 2006 ungewöhnlich mäusearm ausfielen.

Abb. 3: Höchste Tagessummen Turmfalken am Diemardener Berg 1997 bis 2006

Ausblick

Die Nistkästen bieten sichere Brutplätze. Deshalb lohnt es sich für die Falken, kräftezehrende Nahrungsflüge ins Offenland in Kauf zu nehmen. Unmittelbare Gefahr droht ihnen in der Stadt vor allem durch Sanierungsarbeiten in der Reproduktionszeit. So wurde im späten Frühjahr 2005 die Klosterkirche im Stadtteil Nikolausberg eingerüstet. Zwar hielt man den beiden ansässigen Paaren eine schmale Einflugmöglichkeit zu den Brutplätzen offen, doch waren sie von den Bauarbeiten derart gestresst, dass kein einziger Jungvogel flügge wurde (G. Brunken, mdl.).
Bedenklicher fällt das Szenario in den Nahrungshabitaten am Stadtrand aus. Neben dem allgemeinen Grünlandschwund sind es vor allem Veränderungen im Ackerbau, die es den Vögeln zunehmend erschweren, an ihre Beute zu gelangen. Der in Süd-Niedersachsen besonders vehement geförderte Anbau nachwachsender Rohstoffe wird zu einer enormen Erhöhung des Flächenanteils monotoner Raps- und besonders Maisfelder führen. In stark gedüngten und gleichermaßen hoch wie dicht stehenden Kulturen kommen kaum noch Mäuse vor. Selbst für den scharfäugigen Turmfalken mit seinen Sensoren für ultraviolette Strahlung dürfte es unmöglich sein, im dunklen Pflanzengewirr die reflektierenden Urinspuren der wenigen gülleresistenten Kleinnager zu orten.
Zu allem Überfluss schwebt über dem südlichen Göttinger Stadtrand, der im Unterschied zur weithin degradierten nördlichen Peripherie von vielen Turmfalken angeflogen wird, das Damoklesschwert der seit langem geplanten Südumgehung. Weitere Erschließungsmaßnahmen (z.B. Ortsumfahrung Holtensen, Ikea-Ansiedlung) sind am westlichen Stadtrand in Planung. Damit steht zu befürchten, dass etliche Nahrungshabitate gravierende Verschlechterungen erfahren. Die Folge wäre, dass die Göttinger Stadtbrüter immer längere Strecken zurücklegen müssen, um ihren Nachwuchs mit Futter versorgen zu können.
Im Leinetal zwischen Friedland und Nörten-Hardenberg sollen in den kommenden Jahren zusätzliche Gewerbeflächen mit einer Gesamtausdehnung von 600 ha (!) ausgewiesen werden, obwohl die Nachfrage aktuell äußerst gering ist. Ein bezugsfertiges Gewerbegebiet bei Bovenden liegt derzeit völlig brach und stellt mit seiner Ruderalvegetation einen wertvollen Lebensraum für einige Offenlandarten dar. Soll man deshalb die galoppierende Erschließung des Leinetals als angewandten Turmfalken-Schutz preisen? Wohl besser nicht.

Offene Fragen

Im Winter sieht man in der Stadt keine Turmfalken. Dagegen harren im Umland alljährlich einige Altvögel aus. Wohin die Jungvögel entschwinden, ist nicht bekannt. Aus Ringfunden weiß man, dass mitteleuropäische Turmfalken Standvögel, Kurz- und sogar Weitstreckenzieher sind. Mit diesem differenzierten Zugverhalten können Winterverluste ausgeglichen werden, über deren Umfang aber ebenso wenig bekannt ist. Deshalb wären systematische Beringungen wünschenswert. Diese könnten auch Aufschlüsse darüber liefern, ob es einen Austausch zwischen den Stadt- und Offenlandbrütern gibt. hd

Literatur

  • Brunken, G. (1978): Avifaunistischer Jahresbericht 1976 für das übrige Beobachtungsgebiet der OAG Göttingen. Faun. Mitt. Süd-Niedersachsen 1: 101-109.
  • Dörrie, H.H. (2000): Ornithologischer Jahresbericht 1999 für den Raum Göttingen und Northeim. Naturkundl. Ber. Fauna Flora Süd-Niedersachs. 5: 4-147.
  • Dörrie, H.H. (2006): Brutvögel im Göttinger Kerngebiet 1948 – 1965 – 2005/2006. Naturkundl. Ber. Fauna Flora Süd-Niedersachs. 11: 68-80.
  • Eichler, W.-D. (1949-50): Avifauna Gottingensia I-III. Mitt. Mus. Naturk. Vorgesch. Magdeburg 2: 37-51, 101-111, 153-167.
  • Hampel, F. & U. Heitkamp (1968): Quantitative Bestandsaufnahme der Brutvögel Göttingens 1965 und ein Vergleich mit früheren Jahren. Vogelwelt, Beih. 2: 27-38.
  • Köpke, G. (o.J.): Die Göttinger Vogelwelt 1949-1956 nach eigenen Beobachtungen. Unveröff. Manuskr.
  • Kooiker, G. (2005): Brutvogelatlas Stadt Osnabrück. Umweltberichte 11, Sonderband. Osnabrück.
  • Zang, H., H. Heckenroth & F. Knolle (1989): Die Vögel Niedersachsens – Greifvögel. Naturschutz Landschaftspfl. Nieders. B, H. 2.3. Hannover.