Der Eisvogel in Süd-Niedersachsen – ein Torpedo auf Erfolgskurs

Soll man darüber räsonieren, dass es sich der NABU mit dem Vogel des Jahres 2009 wieder einmal recht einfach gemacht hat? Wären, nur als Beispiel, Habicht und Kolkrabe nicht bessere Kandidaten gewesen? Beide geraten zunehmend ins Visier hasserfüllter Interessengruppen und sind massiven illegalen Verfolgungen ausgesetzt. Dem anachronistischen, aber äußerst vitalen Gedankengut, das Vogelarten in nützlich und schädlich selektiert, kommt man nicht bei, wenn Jahr für Jahr konsensfähige Sympathieträger präsentiert werden.

Wie auch immer: Die Wahl des Eisvogels (Alcedo atthis) zum gefiederten Jahresemblem – er durfte sich bereits 1973 dieser Ehrung erfreuen – kann zum Anlass genommen werden, seine Naturgeschichte in unserer Region nachzuzeichnen.

Abb. 1: Eisvogelweibchen am Flüthewehr. Foto: M. Siebner

Historische Bestandsentwicklung

Das waldreiche niedersächsische Bergland ist kein bevorzugter Lebensraum des Eisvogels. Gleichwohl dürfte er bis Anfang des 20. Jahrhunderts auch hier nicht selten gewesen sein. Das alljährliche Töten von 15 bis 60 Individuen mit Hilfe kleiner Schlagfallen allein an einer Fischzuchtanlage bei Walkenried (Arens 1909) belegt dies auf makabre Weise. In den folgenden Jahrzehnten ging es mit dem Brutbestand rapide bergab. Die Übersichten von Bruns (1949), Eichler (1949-50) und Hampel (1965) vermitteln für Süd-Niedersachsen übereinstimmend das Bild eines sehr spärlichen bis seltenen Brut- und Gastvogels mit einem regionalen Brutbestand von vermutlich weniger als fünf Paaren. Regelmäßig und über einen längeren Zeitraum besetzt war letztlich nur ein Revier an der Leine südlich von Göttingen.

Die Populationsdynamik des obligatorischen Fischfressers Eisvogel wird von jeher durch Kältewinter geprägt. Sind die Nahrungsquellen wegen Vereisung großflächig nicht erreichbar, muss unser Held verhungern. Insbesondere der Horrorwinter 1962/63, mit einer geschlossenen Schnee- und Eisdecke vom Nordkap bis Saloniki und Sevilla, brachte die bislang schwersten, über Jahre nachwirkenden Verluste. Eine 1978 auf 200 km Gewässerlänge in Süd-Niedersachsen vorgenommene Suche förderte nur eine einzige Brutzeitbeobachtung am Weendespring in Göttingen zu Tage (Schmidt et al. 1979). Die damaligen Auswirkungen von Kältewintern müssen jedoch im Zusammenhang mit anderen ökologischen Faktoren betrachtet werden: Der Winter 1962/63 konnte nur deshalb seine nachhaltig katastrophale Wirkmächtigkeit entfalten, weil Gewässerverschmutzung und rabiater Uferverbau eine Bestandserholung des Eisvogels verhinderten.

An der desolaten Situation änderte sich auch nach 1978 kaum etwas: In der weiteren Umgebung war nur der altbekannte Brutplatz an der Leine südlich von Göttingen besetzt. Die Kältewinter 1984/85 und 1986/87 bekräftigten den prekären Status: Mit Nachweisen von weniger als fünf Individuen zwischen Göttingen und Hannover geriet der Eisvogel nachgerade zur Seltenheit, deren Wahrnehmung in den Tagebüchern der Vogelkundler mit einem Ausrufezeichen versehen wurde (Dörrie 2000).

Mit den 1990er Jahren kam endlich die Wende zum Besseren. Die Gewässerbelastung mit Chemie- und anderen Industrierückständen verringerte sich; die Unterhaltungsmaßnahmen zum Zweck des Hochwasserschutzes wurden nicht mehr ganz so akribisch und klotzig in Szene gesetzt wie früher. Zwar verliefen auch die Kältewinter 1995/96 und 1996/97 für den Eisvogel alles andere als ersprießlich, doch konnten diesmal die Verluste weitaus schneller wettgemacht werden. Die gravierenden Auswirkungen des jüngsten Kältewinters 2005/06, der die Göttinger Population auf ein einsames Männchen reduziert hatte, vermochte unser Porträtvogel binnen zweier Brutperioden souverän auszugleichen.

Aktueller Status und Lebensraum

Die Größe der Brutpopulation im Landkreis Göttingen und im Altkreis Northeim kann heutzutage verlässlich mit ca. 35 bis 38 Paaren, davon acht in Göttingen und seiner südlichen Umgebung, beziffert werden. Eisvögel brüten mittlerweile regelmäßig an den strukturreichen Abschnitten von Leine, Schwülme, Harste, Garte, Rase, Rhume, Hahle, Nieste und Nieme. Auch Stillgewässer wie Kies- und Tongruben oder angestaute Bäche werden besiedelt. Optimal ist eine kleinräumige Kombination beider Gewässertypen: Sie ermöglicht den Vögeln bei Hochwasser oder nach wassertrübenden Starkregenereignissen von den Fließgewässern in klarere Fischgründe auszuweichen, in denen Futter für den hungrigen Nachwuchs erbeutet werden kann.

Die Qualität von Brut- und Nahrungsrevier bemisst sich, neben dem Vorhandensein geeigneter Brutplätzen, vor allem am Fischreichtum bzw. an dessen Erreichbarkeit, weniger an der Gewässergüte allein. Der Eisvogel ist mit einiger Wahrscheinlichkeit sekundärer Nutznießer von Eutrophierungsprozessen, die, zumindest kurz- bis mittelfristig, den Fischbestand eines Gewässers anwachsen lassen.

Der Göttinger Kiessee ist stark mit Nährstoffen befrachtet, aber voller Fische und wird deshalb von den Vögeln regelmäßig aufgesucht. 1999 und 2008 haben sie dort, vom regen Besucherverkehr und Bootsbetrieb unbeeindruckt, erfolgreich in der Böschung unter Wurzelüberhängen gebrütet. Am Wendebachstau bei Reinhausen, dessen Wasser sich auch nicht gerade durch Nährstoffarmut auszeichnet, brütet die Art mitunter ebenfalls unter einem Wurzelteller. Eisvögel, die sich seit Jahren an einem naturnahen Prallufer der schnellfließenden und flachen Garte reproduzieren, fliegen zum Beutemachen an den Leineanstau beim Flüthewehr – wenn es zur Brutzeit schnell gehen muss, mit einer Abkürzung auch ca. 800 Meter über das freie Feld. Wie man sieht, sind die Vögel recht anpassungsfähig. Das popularisierte Bild eines an Prallufer und Abbruchkanten gebundenen Charaktervogels von Fließgewässern mit Trinkwasserqualität entspricht nur bedingt der Realität.

eisvogelhöhle.jpg
Abb. 2: Ungenutzte Bruthöhle an der Rosdorfer Tongrube, Mai 2008. Die Brut fand letztlich woanders statt. Foto: M. Siebner

Gefährdung und Schutz

In der bundesdeutschen Roten Liste der Brutvögel (Südbeck et al. 2007) wird der Eisvogel nicht (mehr) geführt. In der niedersächsischen Roten Liste (Krüger & Oltmanns 2007) rangiert er in Kategorie 3 („gefährdet“). Trotz des allgemein positiven Bestandstrends wird ein Eisvogelleben, das ohnehin im Schnitt nur etwas mehr als drei Jahre währt, immer noch durch allerlei Widrigkeiten beeinträchtigt. Obschon die Auswirkungen von Kältewintern den Löwenanteil der Verluste verursachen und viele Eisvögel natürlichen Fressfeinden wie z.B. dem Sperber zum Opfer fallen, sind zusätzliche anthropogene Kalamitäten in der Summe nicht zu vernachlässigen. Die direkten Nachstellungen durch Fischzüchter und Sportangler sind stark zurückgegangen, doch darf daran erinnert werden, dass nach einem Bericht im „Falken“ noch 1998 in einer bayrischen Forellenzucht Eisvögel mit Mausefallen, auf Ansitzpfählen montiert, getötet wurden. Der negative Einfluss des Menschen vollzieht sich heute eher indirekt und zumeist unbeabsichtigt: So manche Brut dürfte scheitern oder beeinträchtigt werden, wenn sich ein Sportfischer stundenlang nahe der Bruthöhle breitmacht und die Altvögel vom Füttern abhält. Auch Vogelfotografen und -beobachter mit eindimensionaler Begeisterung für alles, was farbenprächtig daherfliegt, fordern ihren Tribut, wenn sie unbedingt die Vögel bei ihrem Brutgeschäft ablichten oder „in aller Ruhe“ betrachten möchten.

Eisvögel ertrinken manchmal unter Abdeckungen von Fischzuchtanlagen (z.B. 2004 bei Oldenrode im Landkreis Northeim). Angesichts der geringen Populationsgröße sterben unverhältnismäßig viele von ihnen nach Kollisionen mit Glasscheiben, denen sie bei ihrem rasanten geradlinigen Streckenflug kaum ausweichen können. Das jüngste bekannt gewordene Opfer datiert vom 12.1.2008 am Neuen Göttinger Rathaus.

Was besondere „Artenschutzprogramme“ für den Eisvogel anbelangt, bei denen sich wohlmeinende Vogelschützer mit medienwirksamer Unterstützung von kommunalen Kreditinstituten oder Energie-Oligopolisten ihre eigene Eisvogelwand zurechtzimmern, sei vor blindem Aktionismus gewarnt. Es ist erheblicher sinnvoller und auch mit weniger materiellem Aufwand verbunden, die Unterhaltungsverbände mit Blick auf die EU-Wasserrahmenrichtline zu motivieren, an den Fließgewässern zumindest abschnittsweise der natürlichen Dynamik Raum zu geben. An den ausgeräumten Leineufern zwischen dem nördlichen Göttinger Stadtrand und Nörten-Hardenberg, wo kein einziges Eisvogelpaar brütet, ist dies mehr als überfällig. Die vergangenen Jahrzehnte haben gezeigt, dass das Befolgen der Devise „Weniger bringt mehr“ schnelle Früchte trägt und dem Eisvogel eine gedeihliche Zukunft bescheren kann.

Offene Fragen

In der kalten Jahreszeit scheinen nur wenige Eisvögel, zumeist Männchen, im niedersächsischen Bergland auszuharren – auch in milden Wintern. Warum ist das so? Die Reviertreue der Weibchen ist augenscheinlich wenig ausgeprägt, zudem werden sie im Winter von den einzelgängerischen Männchen nicht in ihrer Nähe geduldet. Für die Jungvögel kann als gesichert gelten, dass sie bereits kurz nach dem Selbständigwerden von ihren Eltern vertrieben werden und einen Dispersionszug antreten (Bauer et al. 2005).
In unserer Region werden die meisten Reviere erst wieder im April besetzt. Wo die Revierinhaber den Winter verbringen, ist unklar und könnte allenfalls durch systematische Beringungen mit entsprechenden Kontrollfängen oder Ringablesungen erhellt werden.

Eisvögel sehen – wann und wo

Die allgemeine Bestandszunahme drückt sich auch darin aus, dass Eisvögel praktisch an jedem Gewässer, das Fische beherbergt, beobachtet werden können. Sie tauchen außerhalb der Brutzeit an den kleinen Teichen mitten im Reinhäuser Wald (im Reintal oder nahe dem Hurkutstein) auf, machen im Herbst Beute an Gartenteichen in Göttingen-Geismar oder finden sich, wie im Jahr 2000, sogar an den Wasserbecken auf dem Universitätscampus ein. Im Winter halten sie sich am Leinekanal in der Göttinger Innenstadt auf, vor allem nach dem Zufrieren der meisten Stillgewässer.

Göttinger sind in Sachen Eisvogel auf der sicheren und bequemen Seite: Sie müssen sich nicht extra an die Geschiebesperre Hollenstedt bemühen und dort von Autofahrern mit Northeimer Kennzeichen anhupen lassen, während sich die Zielart nur von ferne betrachten lässt. Auch eine Spezialexkursion zum Seeburger See, wo der Eisvogel nur unregelmäßig brütet, aber die Auemündung beständig zur Nahrungssuche anfliegt, ist nicht erforderlich. Es reicht, sich aufs Rad zu schwingen und zum Kiessee zu fahren, wo aktuell (Oktober 2008) bis zu drei gefiederte Turmaline anzutreffen sind. Klappt es dort nicht, begibt man sich einfach zum nahen Flüthewehr. Der kleine Teich auf dem Stadtfriedhof ist, obschon bereits bei wenigen Minusgraden schnell zugefroren, bis in den November eine Eisvogel-Bank mit nahezu hundertprozentiger Garantie.

IMG_3528FriedhofTeich.jpg
Abb. 3: Teich auf dem Stadtfriedhof. Foto: N. Vagt

Unsere Stadt- und Stadtrandvögel sind in der Regel wenig scheu und lassen sich aus geringer Entfernung bewundern. Von großem Vorteil ist dabei die Kenntnis des durchdringenden Rufs, mit dem die Vögel sich ankündigen: Er erinnert an eine Hundepfeife und ist, hat man ihn einmal gelernt, allenfalls mit dem der Heckenbraunelle zu verwechseln. Stille Eisvögel, die regungslos in der Ufervegetation sitzen, sind, obwohl auffällig gefärbt, zumeist erstaunlich schwer auszumachen.

In diesem Sinne: Viel Spaß beim Suchen und Finden des Eisvogels vor der Haustür!

H. H. Dörrie

Literatur

Arens, P. (1909): Zur Eisvogelfrage. Fischerei-Ztg. 12: 404-405
Bauer, H.-G., Bezzel, E. & W. Fiedler (Hrsg.) (2005): Das Kompendium der Vögel Mitteleuropas. Nonpasseriformes – Nichtsperlingsvögel. 2., vollständig überarbeitete Auflage. Aula-Verlag. Wiebelsheim
Bruns, H. (1949): Die Vogelwelt Südniedersachsens. Orn. Abh. 3. Göttingen

Dörrie, H.H. (2000): Anmerkungen zur Vogelwelt des Leinetals in Süd-Niedersachsen und einiger angrenzender Gebiete 1980-1998. Kommentierte Artenliste. Erweiterte und überarbeitete Fassung. Göttingen

Eichler, W.-D. (1949-50): Avifauna Gottingensia I-III. Mitt. Mus. Naturk. Vorgesch. Magdeburg 2: 37-51, 101-111, 153-167

Hampel, F. (1965): Artenliste vom Seeburger See 1955-64 (unter knapper Berücksichtigung des Raumes um Göttingen). Unveröff. Typoskript, hektogr. Göttingen

Krüger, T. & B. Oltmanns (2007): Rote Liste der in Niedersachsen und Bremen gefährdeten Brutvögel. 7. Fassung, Stand 2007. Inform.d. Naturschutz Niedersachs. 27: 131-175

Schmidt, F.-U., M. Corsmann, N. Kolley & R. Lottmann (1979): Beiträge zur Kenntnis der Verbreitung von Eisvogel (Alcedo atthis), Wasseramsel (Cinclus cinclus) und Gebirgsstelze (Motacilla cinerea) und der Qualität ihres Lebensraumes im südlichen Niedersachsen. Faun. Mitt. Süd-Niedersachsen 2: 59-78

Südbeck, P., H.-G. Bauer, M. Boschert, P. Boye & W. Knief ( 2007): Rote Liste der Brutvögel Deutschlands. 4. Fassung, 30. November 2007. Ber. Vogelschutz 44: 23-81

Links zum Weiterlesen

Die Jahresberichte 1999 bis 2007 des Arbeitskreises Göttinger Ornithologen (AGO) enthalten eine Fülle von Informationen über den Eisvogel, die in dieser kurzen Abhandlung nicht annähernd berücksichtigt werden konnten. Die Berichte in PDF-Form kann man sich auf dieser Homepage unter „Publikationen“ herunterladen