Es herrscht Ruhe im Land – Wegzug und späte Bruten 2011 in Süd-Niedersachsen

Nach einem vergleichsweise kühlen und regenreichen Sommer zeigte sich der Herbst, insbesondere der November, von einer außergewöhnlich trockenen (und an vielen Tagen nebligen) Seite. Die Wegzugaktivitäten der meisten Vögel verliefen von Juli bis November ziemlich ereignisarm bzw. wurden von vielen Beobachter/innen so wahrgenommen. Schmale Kost kann jedoch sehr gesund sein, vor allem für Übersättigte mit Entschlackungsbedarf. Wer die folgende Auflistung hinter sich gebracht hat, wird vielleicht, allen Mäkeleien zum Trotz, zu dem Schluss gelangen, dass auch dieser seltsame Herbst etliche Besonderheiten bereitgehalten hat, die einer Mitteilung wert sind.

Ab dem Spätherbst traten an der Geschiebesperre Hollenstedt und im Göttinger Süden einzelne Weißwangengänse mit langer Verweildauer in Erscheinung, im ersten Gebiet in Gesellschaft einer unvermeidlichen Rostgans. Gleich fünf Weißwangengänse zogen am 13.11. zusammen mit 57 Tundrasaatgänsen über Sattenhausen.

Blässgänse, die normalerweise nördlich der Mittelgebirgsschwelle ihre Überwinterungsgebiete ansteuern, eröffneten die Saison spektakulär: Am 14.10. zogen 2150 Ind. über den Raum Landolfshausen nach Südwesten und zeigten einen neuen Regionalrekord an. Vermutlich dieselben Vögel wurden wenig später über Nordhessen registriert und sorgten auch dort für Aufsehen.

25 Brandgänse, darunter nur ein Jungvogel, bedeckten am 4.7. den Seeanger. Auch diese Zahl ist ein neuer Regionalrekord.

Am 27.11. rastete auf dem Seeburger See eine weibchenfarbene Mandarinente. In Göttingen konnte nur eine Brut der Reiherente registriert werden, und zwar am Levin-Park. Die zwei geschlüpften Jungen erlangten, immerhin, die Selbständigkeit. Eine diesjährige Schellente war am 17.7. auf dem Seeburger See für die Jahreszeit sehr ungewöhnlich.

Am Göttinger Kiessee kam es zu einer späten Haubentaucher-Brut (Schlupf um den 1.8.), die mit zwei selbständig gewordenen Jungvögeln erfolgreich verlief. Gleichwohl fiel das Ergebnis mit vier Jungen aus drei Bruten wiederum recht mager aus.

Vom 23. bis 30.11. gab ein diesjähriger Prachttaucher dem Seeburger See die Ehre.

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Abb. 1: Prachttaucher auf dem Seeburger See. Foto: W. Kühn.

Am 13.7. hielt sich am Seeburger See ein rufendes Zwergdommel-M. auf, das von fern auch fotografiert werden konnte.

Wie gewohnt trafen ab Mitte Juli wieder die ersten Silberreiher ein. Allein in der Leineniederung Northeim – Einbeck konnten an manchen Tagen um die 35 bis 40 Ind. gezählt werden. Ein am 14.10. über Landolfshausen ziehender Trupp von 19 Ind. ist immer noch bemerkenswert.

Unter den knapp 30 Kornweihen, die für den Berichtszeitraum bis Ende November gemeldet wurden, befand sich Anfang Oktober im Leinepolder Salzderhelden ein diesjähriger Vogel, der für Diskussionen sorgte. Wegen seiner ungezeichnet beige-rostfarbenen Unterseite in Verbindung mit einem ausgeprägten, von weitem zeichnungslos wirkenden Kragen mutete er fast wie eine Steppenweihe an. Handschwingenformel und Fotos belegen jedoch eindeutig, dass es sich um eine Kornweihe gehandelt hat. Dergestalt „bunte“ Jungvögel kommen bei dieser Art hin und wieder vor und sind auch in der Literatur beschrieben. Man muss es nur lesen…

Am 5.8. flog ein Wiesenweihen-M. im 2. Kalenderjahr über die Feldmark Diemarden. Ihm folgte am 28.9. ein Jungvogel über Landolfshausen.

Der Wegzug des Rotmilans konnte an zwei Tagen recht spektakulär wahrgenommen werden. Am 14.10. zog eine Rekordzahl von 152 Ind. über den Raum Landolfshausen, 87 Ind. waren es am 12.11. über Gö.-Nikolausberg.

Der seit 1987 beispiellose Einflug des Rauhfußbussards nach Mitteleuropa, der aktuell noch anhält und selbst den des Winters 2010/2011 weit in den Schatten stellt, hat sich auch in unserer Region bemerkbar gemacht. Bis Ende November lagen fünf Nachweise vor, und zwar vom 20.10. im Leinepolder Salzderhelden (ad. W.), vom 21.10. aus der Feldmark Himmigerode (K1), vom 12.11. aus der Feldmark Wollbrandshausen (K1), vom 13.11. nahe der Entsorgungsanlage Dransfeld und vom 23.11. nahe der K 37 westl. Gö.-Esebeck.

Seeadler wurden dreimal beobachtet und mutieren, ihrer allgemeinen Bestandszunahme entsprechend, allmählich zur Normalität: Am 19.9. kreiste ein subadultes Ind. über dem Leinepolder Salzderhelden und am 28.9. zog ein Ind. im 2. Kalenderjahr nahe Landolfshausen nach Westen. Einen Tag später wurde ein immaturer Vogel an der Deponie Blankenhagen gesehen (und fotografiert), bei dem es sich um den des Vortags gehandelt haben könnte.

Am 27.8. zeigte sich ein junger Rotfußfalke in der Feldmark oberhalb der Suhleaue östl. Seulingen gegenüber seinen Bewunderern sehr kooperativ.

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Abb. 2: Rotfußfalke bei Seulingen. Foto: S. Paul.

Vergleichsweise hohe Zahlen wegziehender Kraniche konnten am 14.10. über dem Raum Landolfshausen (3100 Ind.), am 3.11. über dem Leinepolder Salzderhelden (1200 Ind.) und am 5.11. über der gesamten Region (ca. 4500 Ind.) ermittelt werden.

130 Blässhühner, die am 18.9. am Seeburger See gezählt wurden, stellen für dieses Gebiet eine lokale Höchstzahl der letzten ca. 20 Jahre dar. Bald darauf war ein Großteil der Vögel wieder verschwunden, was dieses jähe „Massenaufkommen“ nur noch merk- und denkwürdiger macht.

An der Geschiebesperre Hollenstedt fand, nach mehreren gescheiterten Versuchen, eine späte Brut des Flussregenpfeifers statt. Drei Jungvögel wurden flügge und hielten sich – für die Art recht ungewöhnlich, aber in diesem Fall mit dem späten Brutbeginn schlüssig zu erklären – bis Ende September am Brutplatz auf.

Am 19.8. untermauerten drei adulte Mornellregenpfeifer am Diemardener Berg dessen Status eines traditionellen Rastgebiets, zudem mit einer Rekordzahl, die sich jedoch im Vergleich zur Soester Börde recht mickrig ausnimmt. In der Nacht des 28.7. machte ein rufender Regenbrachvogel über Gö.-Nikolausberg auf sich aufmerksam.

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Abb. 3: Waldschnepfe in Gö.-Geismar. Foto: R. Mederake.

Havarierte Waldschnepfen treten als Opfer der „technischen Umweltverschmutzung“ in Göttingen mittlerweile alljährlich in Erscheinung. Dies belegt ein Vogel, der am 5.11., wohl nach einem Scheibenanflug, den ganzen Tag auf einer Terrasse in Gö.-Geismar verbrachte. Es dürfte ihn kaum getröstet haben, dass er das erste regionale Foto eines lebenden Vertreters seiner Art ermöglichte…

Am 5.11. konnten an den ehemaligen Tongruben Siekgraben, wo wieder einige interessante Vernässungsstellen entstanden sind, vier Zwergschnepfen dingfest machen.
Fast auf den Tag genau wie vor einem Jahr kreiselte am Seeanger vom 18. bis (mindestens) 22. September ein Odinshühnchen.

Eine junge, (noch) recht fit wirkende Dreizehenmöwe machte am Seeburger See vom 23. bis 30.11. Station. Damit ist für unsere Region ein weiteres Mal belegt, dass diese Hochseemöwe im tiefen Binnenland auch bei ruhigem Wetter erscheinen kann und nicht nur nach Sturmereignissen verdriftet wird.

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Abb. 4: Dreizehenmöwe am Seeburger See. Foto: S. Böhner.

Unter 110 Lachmöwen, die sich am 27.11. am Seeburger See zählen ließen, befanden sich zwei Vögel, die in Polen (weißer Ring mit schwarzem Code T5PO) bzw. der Slowakei (Metallring mit dem Code H1780) beringt worden waren.

Ebenda ließen sich von Anfang August bis Mitte September bis zu drei junge Schwarzkopfmöwen (am 13.7. auch ein Altvogel) beobachten. Einer der Jungvögel war beringt (roter Plastikring mit weißem Code) und stammte aus Polen. 31 Sturmmöwen vom 25.11. sind für dieses Gebiet in einer traditionell möwenarmen Region eine recht hohe, aber keineswegs außergewöhnliche Zahl.

Die auf den Namen „Michaela“ getaufte Mittelmeermöwe verbrachte, nunmehr im 4. Kalenderjahr, ab Anfang Juli am Seeburger See ihren dritten Sommer und Herbst in Folge. Am 7.7. bekam sie Besuch von fünf Artgenossen (drei ad., zwei K1-Ind.). Am 5.11. zog eine Steppenmöwe im 2. Kalenderjahr über Ebergötzen.

Eine adulte Weißbart-Seeschwalbe flog am 13.7. über dem Seeburger See umher.

Aus regionaler Sicht sind 99 Hohltauben, die am 16.8. im Seeanger gezählt wurden, eine imposante Zahl, die gut zu der Bestandszunahme im Europäischen Vogelschutzgebiet „Unteres Eichsfeld“ passt. Einer anderen Taubenart geht es erheblich schlechter: Angesichts des regionalen Bestandsrückgangs sind (mindestens) 13 Türkentauben am 28.10. in Bernshausen erwähnenswert.

Ähnlich wie der Rauhfußbussard scheint auch der regional seltene Gastvogel Sumpfohreule vom guten Lemming- und Wühlmausjahr in Nord- und Nordosteuropa profitiert zu haben. Drei Nachweise, die vom 12.10. aus dem Leinepolder Salzderhelden, vom 13.10. aus der Feldmark Sattenhausen und vom 30.10. vom Seeburger See vorliegen, unterstreichen diese Annahme.

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Abb. 5: Sumpfohreule am Seeburger See. Foto: V. Hesse.

Am 9.9. gelangte ein Mauersegler in die Pflegestation an der Weender Landstr. Es handelte sich um einen (vermutlichen) Jungvogel aus einer späten Brut in der Göttinger Nordstadt. Am 28.9. wurde nahe Landolfshausen ein spät ziehendes Ind. gesehen. Eisvögel ließen sich ab dem Sommer in vielen Gebieten blicken. Die Frage „Was der Winter übrig ließ“ kann wohl erst in ein paar Wochen beantwortet werden.

Am 22.10. stattete ein Wiedehopf dem Eichsfelddorf Mingerode einen Besuch ab, sah sich dort in aller Ruhe um, ließ sich zwischenzeitlich auf einem Carport nieder und machte sich wieder davon.

Auf dem Wegzug rastende Wendehälse wurden im August (16., 23. und 27.) notiert, alle am Diemardener Berg.

Im November ließ sich am Gebäude der Fa. Mahr am Göttinger Brauweg tagelang ein Buntspecht beobachten, der mit anhaltendem Enthusiasmus mehrere Höhlen in die Wärmedämmung zimmerte.

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Abb. 6: So wird das nichts mit der Energiewende! Buntspecht in Aktion. Foto: M. Siebner.

Für den Berichtszeitraum liegen bereits ca. 15 Beobachtungen des Raubwürgers vor. Zum Ende des Winters könnte sich erweisen, dass 2011 ein bis dato beispielloser Einflug stattgefunden hat, der sich ebenfalls mit dem guten Mäusejahr in Fennoskandien erklären lässt.

Am 21.9. flog ein Tannenhäher über Fuhrbach. Am 12.11. geriet am Hammberg bei Rosdorf eine – in unserer Region mittlerweile selten gewordene – Nebelkrähe ins Blickfeld. Regional bemerkenswert sind größere Trupps von Kolkraben, die am 26.10. (53 Ind.) den Lutteranger und am 3.11. (36 Ind.) Gö.-Nikolausberg überflogen.

500 Uferschwalben, die am 8.8. über dem Seeburger See Insekten jagten, sind aus regionaler Sicht eine bemerkenswert hohe Zahl.

Am 11.11. strebten bei Sattenhausen sechs jecke Seidenschwänze, bisher die einzigen, nach einem kurzen Zwischenstop den Thüringer Karnevalshochburgen zu.

Südlich des Göttinger Kiessees hat die Stadt das Naherholungsgebiet erweitert, mit einem zweiten Zulauf sediment- und nährstoffreichen Leinewassers, angepflanzten Bäumen (natürlich „standortstypisch“) und einer merkwürdigen Aufschüttung, die wohl als eine Art Aussichtsplattform dienen soll. Weil die aufwendige, z.T. aus Naturschutzmitteln finanzierte Aktion auf eine Vision unseres charismatischen Oberbürgermeisters W. Meyer zurückgehen soll, wurde das Gebiet von einem vogelkundlich engagierten Possenreißer sogleich auf den Namen „Meyerwarft“ getauft. Immerhin blieben Teile einer Rapsbrache mit reicher Ruderalvegetation bis zum Spätherbst von den Umgestaltungsmaßnahmen verschont. Dort entdeckte der Verfasser dieser Zeilen am 31.10. Süd-Niedersachsens erstes Pallasschwarzkehlchen (früher „Sibirisches Schwarzkehlchen“ genannt, obschon dieses Taxon auch in Nordosteuropa brütet). Der schnell herbeigeeilte M. Schuck konnte von dem seltenen Gast noch ein Belegfoto machen, bevor dieser wieder verschwand. Die Beobachtung wurde wenig später bei der Deutschen Avifaunistischen Kommission (DAK) dokumentiert, der ein abschließendes Urteil zur Validität des Nachweises zukommt.

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Abb. 7: Pallasschwarzkehlchen am Göttinger Kiessee. Foto: M. Schuck.

Interessanterweise hielt sich in dem Gebiet zeitgleich auch ein Schwarzkehlchen auf. Diese Art ist, trotz enormer bundesweiter Bestandszunahme, im Göttinger Stadtgebiet immer noch ein seltener Gast.

Zwischen dem 17. und 27.8. traten 13 Brachpieper am Diemardener Berg und am nahen Wüsten Berg in Erscheinung, darunter allein sechs Ind. am 18.8.

Für den Berichtszeitraum liegen vier Beobachtungen nordischer „Trompetergimpel“ vor, darunter auch Vögel im Göttinger Siedlungsbereich bzw. am Stadtrand. Am 20.11. zog (mindestens) ein rufender Berghänfling über Ebergötzen.

Der einzige Ortolan der Wegzugsaison, ein ziehendes Ind., ließ sich am 18.8. am Diemardener Berg bestimmen.

Hans-Heinrich Dörrie

Dieser Bericht basiert auf Daten von: P.H. Barthel, G. Brunken, S. Böhner, J. Bryant, H. Dörrie, M. Drüner, M. Fichtler, M. Göpfert, C. Grüneberg, V. Hesse, S. Hillmer, U. Hinz, S. Hohnwald, K. Jünemann, H.-A. Kerl, G. Köhler, W. Kühn, V. Lipka, T. Matthies, T. Meineke, R. Mederake, K. Menge, F. Mühlberger, M. Otten, S. Paul, D. Radde, U. Rees, A. Schröter, M. Schuck, M. Siebner, F. Steinmeyer, K. Stey, A. Stumpner und H.-J. Thorns.