Massenevents sind heutzutage durchaus populär und auch legitim, um viele Menschen zu unterhalten und dies mit einem Hobby wie dem Ausüben einer Sportart zu verbinden. Leider wird hierbei nicht immer Rücksicht auf die Natur und ihre Bewohner genommen. Dies war auch beim so genannten „Erlebnis Turnfest“ der Fall, das vom 23. bis 26. Juni mit ca. 20.000 Aktiven und (angeblich) 250.000 Besuchern in Göttingen stattgefunden hat. Der Schwerpunkt der Aktivitäten lag dabei am Kiessee und seiner Umgebung in einem Landschaftsschutzgebiet.
Ursprünglich war die Veranstaltung für den Mai 2016 geplant. An der West- und Ostseite des Kiessees sollten zwei Bühnen errichtet werden, von denen man über einen Ponton übers Wasser hätte wechseln können. In der Dunkelheit sollten illuminierte “Wellness-Inseln” aus Plastik auf dem Wasser zum Verweilen einladen. Diese Planungen konnten von der Unteren Naturschutzbehörde der Stadt in Kooperation mit Natur- und Vogelschützern modifiziert werden. Übrig blieb eine große Bühne auf der Rasenfläche im Osten des Kiessees, wo den Tag über Auftritte von Musikern und anderen Künstlern stattfanden. Der Besucherverkehr war in diesem Bereich am lebhaftesten, während z.B. ein Drachenboot-Rennen erheblich weniger Zuspruch fand.
Die Verlegung auf Ende Juni sollte dem Schutz brütender Vögel dienen, die im Mai besonders aktiv sind. Gleichwohl brüten auch Ende Juni viele Arten noch und füttern ihre Jungen. Der Vorschlag, das Event auf die Zeit ab Ende Juli zu verlegen, stieß bei den Betreibern auf taube Ohren.
Vor diesem Hintergrund haben Mitarbeiter des Arbeitskreises Göttinger Ornithologen (AGO) während des “Erlebnis Turnfests” Untersuchungen zu möglichen Störungen angestellt.
Während der Veranstaltung wurden einige Bäume am Sandweg für einen “Kletterpark” umgewidmet. Um Störungen brütender Vögel zu vermeiden, bekam ein Vogelkundler den Auftrag, die Bäume von einem Hubsteiger aus nach Nestern abzusuchen. In einem Baum befand sich ein Nest, worauf dieser für Kletterer gesperrt blieb. Darüber hinaus wurden keine Nester gefunden, dafür aber jede Menge singende Vögel. Diese Vorgehensweise ist kritisch zu sehen und hat eher Alibi-Charakter. Nester der Wacholderdrossel oder der Rabenkrähe sind in der Regel nicht schwer zu entdecken. Kleine Finkenvögel wie etwa der Birkenzeisig (der am Sandweg brütet) bauen winzige Nester von der Größe eines Überraschungseis. Wenn diese in einer Astgabel im dicht belaubten Kronenbereich platziert werden, sind sie praktisch, Hubsteiger hin oder her, unauffindbar. Dies gilt auch für einen Gartenbaumläufer, der versteckt hinter einer abgeplatzten Rinde sein Nest hat. Die vielen Sänger, die der Gutachter feststellen konnte, haben sich bestimmt nicht nur zum puren Vergnügen in den Bäumen aufgehalten.
Ein weiterer Punkt war der Schutz des Röhrichts im Bereich der Bühne an der Ostseite. Dieses ist ein äußerst wichtiger Lebensraum für viele Vogelarten, unter denen der Teichrohrsänger, der in Göttingen eher selten ist und hier seine größte Population hat, besonders hervorsticht. Teichrohrsänger brüten bis weit in den Sommer. Für Brutvogelarten wie Haubentaucher, Blässhuhn, Teichhuhn und Stockente ist dieser Lebensraum ebenfalls von hoher Bedeutung und erfüllt gerade bei starkem Besucherverkehr oder Wassersportveranstaltungen eine wichtige Schutzfunktion. Deshalb sollte der Röhrichtgürtel mit einem abgedeckten Zaun vor Besuchern geschützt werden. Bei einer Begehung vor und nach dem Fest mussten wir feststellen, dass das Röhricht nicht geschützt war, sondern der Zaun sich auf den baumbestandenen Uferbereich nördlich davon beschränkte. Durch diesen mangelnden Schutz wurde begünstigt, dass eine Schneise ins Schilf getreten wurde.
Schäden an der Vegetation wurden auch bei einer Begehung in einem Gehölzbestand im Osten zwischen Kiessee und Flüthegraben festgestellt. Hier wurden Bäume gefällt und Jungwuchs beseitigt. Der Grund für diese Maßnahme bleibt im Dunkeln. Den Boden bedeckte man größtenteils mit Schotter. Am ersten Tag fand das Areal eine Verwendung als Fahrradparkplatz, später wurden dort zwei Generatoren hingestellt. Ob vor dieser Maßnahme eine Untersuchung des ansässigen Brutvogelbestands erfolgte, ist unbekannt.
Eine Spezialität unter den Vögeln am Kiessee sind brütende Waldohreulen. Am 18. Juni machten erstmals zwei Jungvögel am Ascherberg durch ihr andauerndes Fiepen auf sich aufmerksam. Sie saßen sehr verlässlich immer am Nordrand des Wäldchens. In der Nacht vom 26. Juni wurde allerdings nur noch ein rufender Jungvogel wahrgenommen. Während des Festes hatte man die Hauptnahrungsfläche der fütternden Altvögel, eine Wiese am Rosdorfer Weg nördlich des Ascherbergs, in einen Parkplatz verwandelt. Die teilweise auch über Nacht dort geparkten Autos und der entsprechende Besucherverkehr übten sicher einen Scheucheffekt auf die Vögel aus. Hinzu trat eine deutliche Abnutzung der Wiese mit breiten, auch durch Regenfälle verursachten Schlammspuren, die auch den Mäusen abträglich war. Die Lebensqualität der brütenden Waldohreulen (und die ihrer Beute) war durch den Parkplatz mit Sicherheit eingeschränkt.
Sehr befremdlich war die Installation eines startbereiten Heißluftballons mit der Aufschrift „Kölln-Flocken“ zu Werbezwecken am 23. Juni. Dies war im Vorfeld nicht abgesprochen, sondern erfolgte offenbar auf Grund einer sehr kurzfristigen Genehmigung der Unteren Naturschutzbehörde des Landkreises Göttingen, in dessen Zuständigkeitsbereich sich die Westseite des Kiessees befindet. Konnte man nach der ursprünglichen Planung noch die Hoffnung hegen, dass auf der Westseite eine Art Schutzzone für Gänse auf der Suche nach Nahrung existierte (die Ostseite war für die Vögel nicht mehr nutzbar), wurde man nach der Installation des Ballons eines Schlechteren belehrt: Beim Aufstellen des Riesengeräts flogen sämtliche Enten und Gänse auf und waren sichtlich in Aufruhr. Diejenigen Vögel, die noch keinen flüggen Nachwuchs hatten, versteckten sich so schnell wie es eben ging im Röhricht an der Südseite. Welche Störung und Stresssituation für die Tiere dies darstellte kann man sich ausmalen. Nach einigen Minuten landeten die ersten Tiere wieder auf dem See, mieden aber die Westseite, wo der Ballon aufgeblasen präsentiert wurde (aber seltsamerweise nicht abhob).
Ebenfalls entgegen der ursprünglichen Planung wurde in der Nacht des 26. Juni ein Feuerwerk gezündet. Auch dieses hatte der Landkreis, dessen Engagement in Sachen Natur- und Artenschutz am Kiessee sich anscheinend in engen Grenzen hält, offenbar kurzfristig genehmigt. Es dauerte nur einige Minuten, sorgte aber in der Tierwelt für viel Aufruhr. Nach der ersten Rakete flogen alle Wasservögel auf. Die Höckerschwäne suchten mit ihren Jungen im südlichen Röhricht Schutz, auch die auf der Insel brütenden Graureiher wurden aufgescheucht. Es dauerte einige Zeit, bis sich die Vögel, nachdem wieder Ruhe eingekehrt war, auf dem Wasser niederließen. Auf jeden Fall fiel ihre Reaktion auf das Feuerwerk dramatischer aus als bei den vielen Besuchern, die auch von einem N-Joy- Anheizer nicht dazu animiert werden konnten, in laute „Ahh-“, „Uuh-“ oder „Hui“- Rufe auszubrechen…
Wie ernst man es mit dem Vogelschutz meint, könnten drei Schilder belegen, die der städtische Bauhof am Ascherberg aufgestellt hat. So löblich es ist, Vogelbruten zu schützen: Die Motivation lag eher darin, eine Haftung bei möglichen Personenschäden durch herabfallende Äste oder umstürzende Bäume zu vermeiden. Dabei wird der Ascherberg von den allermeisten Spaziergängern ohnehin gemieden. Ob die Schilder im Zusammenhang mit dem „Erlebnis Turnfest“ angebracht wurden ist unklar.
So gravierend die Störungen vor allem während des Feuerwerks und durch den Heißluftballon ausgefallen sind: Bei den auffälligen Bruten z.B. von Höckerschwan, Blässhuhn und Graureiher konnten keine durch den Rummel verursachten Verluste dokumentiert werden. Für kleine, versteckt brütende Singvögel ist dies ohnhin kaum nachzuweisen. Das Beispiel einer Grauschnäpper-Brut in einem maroden Nistkasten, die Tag und Nacht einer Disko-Befeuerung in Gestalt einer Warnleuchte ausgesetzt war und dennnoch erfolgreich verlief, zeigt die Anhänglichkeit von Vögeln an ihren Nachwuchs, die auch durch sehr starke menschliche Einwirkungen mit hohem Stresspotential kaum gelockert werden kann.
Fazit:
Bei der Planung und Durchführung des „Erlebnis Turnfests“ wurde auf die Belange des Landschafts-, Natur- und Artenschutzes nur ungenügend Rücksicht genommen. Mit einer Verlegung in den Spätsommer/Herbst hätte viele negative Begleiterscheinungen abgemildert werden können. Derartige Massenveranstaltungen sollten in der Brutzeit der Vögel nicht mehr genehmigt werden, erst recht nicht in einem Landschaftsschutzgebiet. Sollte, wie von der Göttinger Verwaltung vorgeschlagen, der Kiessee aus dem Landschaftsschutz entlassen werden, wären solche Veranstaltungen künftig ohne Auflagen und zu jeder Jahreszeit möglich. Deshalb bleibt als zentrale Forderung zur Bewahrung der Artenvielfalt in Göttingens beliebtestem Naherholungsgebiet: Kein Wegfall des Landschaftsschutzes am Göttinger Kiessee!
Phil Keuschen, unter Mitarbeit von Hans H. Dörrie