Wasser, sagt man, hat keine Balken. Aber stimmt das eigentlich? Am Göttinger Kiessee herrscht endlich Klarheit. Seit dem Frühjahr 2016 ist das Gewässer um eine Attraktion reicher. Nach einer Vereinbarung zwischen Naturschützern, Stadtverwaltung und Wassersportlern wurden Baumstämme zu Wasser gelassen und am Grund verankert. Sie dienen einerseits als „Wellenbrecher“ zum Schutz des Röhrichts an der Ost- und Südseite, an anderer Stelle als Barrieren, die das Umfahren der Vogelschutzinsel mit Booten verhindern sollen.
Bei den Baumstämmen handelt es sich um die Reste der gefällten Robinien aus der Groner Straße im Stadtzentrum, die nach ihrer Sanierung in steriler Tristesse mit immer mehr Leerstand vor sich hin vegetiert. Die schrundige Oberfläche der neuen Strukturelemente ermuntert Lebewesen aller Art, sich auf ihnen niederzulassen, sei es zur Nahrungssuche oder zum Ausruhen. Neben den vor Jahrzehnten von ihren überforderten Besitzern ausgesetzten Schmuckschildkröten (die damals um die fünf DM kosteten und nicht viel größer waren als die gleichwertige Münze) sind dies vor allem Vögel.
Göttinger Vogelkundler reagierten schnell: Während anfangs nur eher beiläufige Beobachtungen anfielen, werden mittlerweile alle Vögel, die auf den Balken sitzen, penibel in einer speziellen Artenliste erfasst. Klingt das nicht total bescheuert? Irgendwie schon, ist aber auf jeden Fall naturverträglicher und erholsamer als andere Freizeitbeschäftigungen in diesem Naherholungsgebiet.
Derzeit steht die Liste bei 31 Arten, es ist also noch viel Luft nach oben. Immerhin befinden sich auf ihr bereits jetzt schon Seltenheiten wie Moorente, Schwarzkopfmöwe und Weißbart-Seeschwalbe, während Singvögel mit nur drei Arten (Rabenkrähe, Gebirgsstelze und Bachstelze) dramatisch unterrepräsentiert sind.
Damit die Liste weiter wächst und ständig aktualisiert werden kann, sollten entsprechende Beobachtungen in unserer Datenbank ornitho.de mit dem Verweis „Balkenart“ versehen oder an info@ornithologie-goettingen.de geschickt werden.
Natürlich ergeben sich aus der neuen Aufgabestellung vielfältige Fragen, denen mit gebotener Ernsthaftigkeit nachgegangen werden sollte:
Wie beeinflusst der Klimawandel das Nahrungs- und Komfortverhalten der Vögel? Ist es möglich, faunenfremde Einwanderer wie die Nilgans gezielt von den Balken fernzuhalten – zum Schutz unserer einheimischen Wasservögel? Können aufmontierte und ganzjährig beschickte Futterhäuschen die Artenzahl bei den Sperlingsvögeln erhöhen? Ändert sich das Nutzerverhalten, wenn die ursprünglich nordamerikanischen Robinien nach ihrem Verrotten gegen deutsche Eichen ausgetauscht werden? Wird sich die „Balken-Artenliste“ zu einem aussagekräftigen Indikator der biologischen Vielfalt entwickeln? Entsteht am Kiessee ein beispielhaftes Citizen-Science-Projekt mit bundesweiter Strahlkraft? Hoffen wir das Beste!
Hans H. Dörrie