Wenn man im Raum Göttingen wohnt und sich für Vögel begeistert, dann führt derzeit kein Weg an der Leineaue am Flüthewehr im Süden der Stadt vorbei. Dank der Initiative der Firma Sartorius in Zusammenarbeit mit der Stadt Göttingen und der Heinz Sielmann Stiftung in Duderstadt konnten ab dem August 2021 zwei von der Leine geteilte, insgesamt 16 Hektar große Ackerflächen umgestaltet werden, mit Tümpeln und einer Flutrinne. Die Fläche ist (sehr segensreich!) elektrisch eingezäunt und wird mit freundlichen Zwergzebus beweidet. Gleichwohl existieren mit einem Beobachtungsturm und einer –plattform exzellente Einrichtungen zum störungsfreien Beobachten. Solche „Renaturierungsprojekte“ sind, wenn die Bagger verschwunden sind, wegen ihrer extensiven Offenflächen für eine Vielzahl von Vogelarten attraktiv. Die Nähe zur Leine mit ihrer Leitlinienfunktion für Zugvögel verstärkt dies noch. Mittlerweile wurden hier schon 15 Limikolenarten gesehen, Seltenheiten wie Seidenreiher und, als jüngstes Highlight, Mitte Mai sechs Sichler auf der Flucht vor der Dürre in Südeuropa. Man muss kein Prophet sein, um weitere Seltenheiten zu prognostizieren…
Am späten Vormittag des 5. Mai 2023 war ich mit Henning Pehlemann und Johanna Seefeld auf einer kleinen Beobachtungsrunde zwischen zwei Uni-Veranstaltungen. Dabei hielten wir uns unter anderem auf dem Beobachtungssteg im Ostteil des Gebiets auf. Erst nach einigen Minuten Beobachtungszeit geriet eine vergleichsweise große Limikole in den Blick. Ihr hellbraunes Gefieder in Kombination mit großen gelben Augen ließ nur eine Diagnose zu: Triel! Der überwiegend nachtaktive Vogel verhielt sich eher träge und suchte ab und an nach Nahrung. Munter wurde er allenfalls, wenn er von Rabenkrähen belästigt wurde, denen sein eulenähnliches Erscheinungsbild nicht geheuer war.
Der seltene Gast blieb den ganzen Tag im Gebiet und konnte von mehr als 30 herbeigeeilten Beobachterinnen und Beobachtern bestaunt werden. In der Nacht zog er weiter – sehr zum Verdruss der 42 Birdrace-Teilnehmer im Landkreis Göttingen, die ihn am Folgetag gern auf ihre Liste bekommen hätten.
Der Triel (Burhinus oedicnemus) ist ein Bewohner trockener Lebensräume. Er brütet von den Kanarischen Inseln bis zum indischen Subkontinent. Die Vorkommen im östlichen Mitteleuropa sind praktisch erloschen (Keller et al. 2020). Der Verbreitungsschwerpunkt auf unserem Kontinent liegt heute in Spanien, kleinere Populationen existieren noch in Frankreich und einem kleinen Teil Englands. In Deutschland galt der Triel ab 1987 als ausgestorbener Brutvogel (Bauer et al. 2005). Hier konnte er sich am längsten in Sachsen und Brandenburg halten, unter anderem in scheinbar öden Bergbau-Folgelandschaften. Im heutigen Niedersachsen kam der Triel als spärlicher Brutvogel in Dünenlandschaften, Sandheiden und anderen trockenen Sonderstandorten vor. Diese Lebensräume sind ab Mitte des 19. Jahrhunderts bis auf ein paar kleine Reste verschwunden. Der letzte Brutnachweis stammt aus dem Jahr 1969 (Lüneburger Heide). Danach gab es über Jahrzehnte keinen Nachweis.
Mittlerweile ist er in unserem Bundesland ein sehr seltener Gast, der nicht alljährlich nachgewiesen wird. Aber: Erfreulicherweise konnte diese faszinierende Art anderswo ein kleines Revival feiern: Ab 2011 wird im Markgräflerland in Südbaden eine kleine Brutpopulation von bis zu fünf Paaren dokumentiert (Kratzer & Daniels-Trautner 2022). Diese ist ein Ausläufer des elsässischen Bestands auf der gegenüberliegenden Rheinseite. Der Lebensraum sieht ganz anders aus als die früher besiedelten Habitate. Es handelt sich um großflächige Mais- und Kartoffeläcker, wo die Vögel offenbar ihr Auskommen finden. Gibt das Anlass zur Hoffnung? Maisäcker sind in Deutschland nicht gerade selten…
Mit Sicherheit war der Triel am südlichen Göttinger Stadtrand der erste für Stadt und Landkreis. Auch für ganz Süd-Niedersachsen? Brinkmann (1933) führt zwar einen Triel aus „Northeim“ im damaligen Hannoverschen Provinzialmuseum (heute Landesmuseum) auf. Weitere Angaben zu Ort und Datum nennt er aber nicht.
Unser Starvogel vom Flüthewehr wurde gegen 12 Uhr an einem Freitag entdeckt, mit allen Konsequenzen: Gleich mehrere Leute verspäteten sich bei Pflichtveranstaltungen der Universität und ein Beobachter war während des Triel-Bestaunens sogar Teilnehmer in einem Online-Meeting. Eine gute halbe Stunde nachdem in der WhatsApp-Gruppe „Seltene Vögel Göttingen“ die Nachricht „Triel Flüthewehr Ost“ auftauchte, waren 15 Leute auf der Beobachtungsplattform und genossen den Anblick des etwa 100 Meter entfernten Vogels. Darunter war auch ein betagtes Urgestein, das Jahrzehnte davon geträumt hatte, einen Triel im heimatlichen Umfeld zu sehen. Deutlich spürbar war an diesem Freitagmittag eine ganz besondere Atmosphäre, das Wetter war (noch) wunderschön und alle waren von diesem ganz besonderen Vogel restlos begeistert.
Viele neue Kontakte wurden geknüpft und es haben sich tolle Gespräche ergeben. Einige Vogelbegeisterte habe ich erst dort kennen lernen dürfen. Was gibt es Besseres als ein Tier, welches Menschen mit derselben Leidenschaft verbindet?
Daniel Schmidt, unter Mitarbeit von Mathias Siebner und Hans H. Dörrie
Literatur:
Bauer et al. (2005): Das Kompendium der Vögel Mitteleuropas. Nichtsingvögel. Wiesbaden
Brinkmann, M. (1933): Die Vogelwelt Nordwestdeutschlands. Hildesheim
Keller, V. et al. (2020): European Breeding Bird Atlas 2. Distribution, Abundance and Change. Lynx Edicions, Barcelona
Kratzer, D. & D. Daniels-Trautner (2022): Wiederbesiedelung der badischen Rheinebene durch den Triel Burhinus oedicnemus. Seltene Vögel in Deutschland 2020
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