Es handelt sich wohl um die ungemütlichste und zugigste Behausung der ganzen Stadt, im Winter ist es dort zudem bitterkalt. Andererseits kann man von hier aus die wohl beste Aussicht genießen und hat die ganze Umgebung unter Kontrolle. Das wussten die Wanderfalken zu schätzen, die hier seit 1993 mit Pausen immer wieder ihre Jungen aufgezogen haben. Den Bewohnern setzte die Jacobi-Gemeinde sogar ein Denkmal: nachdem die Türgriffe 2003 entwendet worden waren, enschied man sich für Türgriffe in Falken-Form, wohl verbunden mit der Hoffnung, dass die Vögel auf Dauer bleiben.
Im letzten Winter interessierte sich jedoch ein Paar Uhus (Bubo bubo) für den zugigen Kasten oberhalb der Innenstadt. Mindestes ab Januar 2024 ließen sich jede Nacht Rufe vom Turm der Jacobi-Kirche, aber auch von anderen erhöhten Warten im Umkreis, vernehmen. Auch in den Jahren zuvor gab es schon Innenstadt-Beobachtungen dieser größten europäischen Eulenart, aber immer nur für jeweils kurze Zeit.
Brutsaison
Hier ein kurzer chronologischer Überblick der Uhu-Aktivitäten im Jahr 2024 in Göttingen:
Ab Januar |
Uhus balzen an verschiedenen Orten in der Innenstadt: Paulinerkirche, Johanniskirche, Baukran an der Baustelle vom Gothaer Haus |
15. März |
Geschätztes Legedatum für das erste Ei (1) mit 36 Tagen Brutzeit |
20. April |
Geschätztes Schlupfdatum für das erste Individuum (1) |
Mitte Mai |
Ein Altvogel sitzt ab jetzt jeden Morgen und Abend vor der Bruthöhle und lässt sich von Krähen und Turmfalken ärgern |
28. Mai |
Jung-Uhus (1), wohl ein Weibchen, und (2) schauen neugierig aus dem Kasten heraus |
7. Juni |
Ein dritter Pullus (3), ein etwas größeres Weibchen, wird zum ersten Mal gesehen |
9. Juni |
(1) fällt eine Etage tiefer auf einen Sims unterhalb des Fachwerks |
13. Juni |
(2) überlebt den Sturz vom Kirchturm nicht |
17. Juni |
(1) segelt herunter und versucht sich am Boden in einer Nische an der Jacobi-Kirche zu verstecken. Vogel wird in den Pfarrgarten gebracht, wo er in den folgenden Tagen von den Alten gefüttert wird |
20. Juni |
(3) kommt vom Turm runter und landet am Abend auf einem Hausdach an der Weender Straße. Es gibt viele Schaulustige. Im Dunkeln rennt der Kleine dann Richtung Jüdenstraße. Kurz vor Mitternacht wird auch dieser Vogel in den Pfarrgarten verbracht |
29. Juni |
Wohl die (3) sitzt in der Fußgängerzone vor einem Hörgeräte-Laden. Drumherum stehen viele Passanten und die Polizei. Als alle etwas Abstand mehr halten, fliegt der Vogel ab |
Ab 7. Juli bis Ende September |
Die beiden Kleinen (1) und (3) mit immer einem Altvogel in ihrer Nähe halten sich im Bereich zwischen dem Brutplatz und dem Wall am Alten Botanischen Garten auf |
Ab Mitte Dezember |
Das adulte Männchen fängt wieder an, in der Innenstadt zu balzen |
Wovon ernähren sich die Uhus in der Stadt?
Die Elterntiere verließen den Nistplatz zur Nahrungssuche meist in östlicher oder nord-östlicher Richtung. Auf dem Dach des Fridtjof-Nansen-Hauses wurde ein Uhu beobachtet. Man kann davon ausgehen, dass die offeneren Gebiete, Parks und Gärten im Ostviertel und die Schillerwiese zur Jagd genutzt wurden.
Auf jeden Fall schleppten die Uhus vor allem Igel und Ratten Richtung Innenstadt. Es berichtete eine Anwohnerin der näheren Umgebung des Brutplatzes, wie mittags ein Uhu von ihrem Balkon abflog. Dieser wurde offensichtlich beim Verspeisen einer Stadttaube gestört. Inwieweit auch Krähen auf dem Nahrungszettel standen, ist unbekannt.
Die Tatsache, dass in der Stadt vor allem Ratten aber auch die „fliegenden Ratten“ auf dem Speisezettel standen, kann durchaus begrüßt werden.
Frage von Passanten: „Gehören die Uhus überhaupt hierher?“
Uhus brüten schon immer regelmäßig in der Region. Das sieht man auch im großen Saal des Alten Rathauses. Dort sitzt auf einem Wandbild ein Uhu vor einer Ansicht der Stadt. Uhus wurden damals wie andere Beutegreifer mindestens seit dem 17. Jahrhundert systematisch verfolgt. Die Vögel wurden gefangen, geschossen und ihre Nistplätze, Eier oder Jungvögel, ausgenommen. Ende des 19. Jahrhunderts waren Uhus in unserer Gegend weitgehend verschwunden. Im Jahr 1937 wurde das Weibchen des letzten Uhupaares von Niedersachsen bei Osterode im Harz geschossen. Das dazugehörende Männchen lebte einsam bis 1965 weiter. Im Nachbarland Hessen wurden Uhus bereits 1910 ausgerottet. Mit dem Start von Wiederansiedlungsprojekten z.B. im Harz in den 1970er Jahren stieg der Uhu-Bestand aber wieder deutlich an. Heute kann man wieder mit weit mehr als 200 Paaren in Niedersachsen rechnen. Der Zuwachs dürfte sich jedoch verlangsamen, da in vielen Bereichen die verfügbaren Reviere besetzt sind. Dieser Umstand könnte dazu führen, dass auch weniger geeignete Gegenden besiedelt werden, wie zum Beispiel die Göttinger Innenstadt.
Wieso ist der Brutplatz in Göttingen besonders?
Uhus sind in der Auswahl ihrer Nistplätze recht flexibel: Sie können in ausgedienten Nestern oder sogar auf dem Boden brüten. In unserer Gegend werden häufig Steilwände in Steinbrüchen genutzt. Sind die entsprechenden Reviere belegt, taugen z.B. alte Wehrtürme oder Kirchtürme als Ersatz.
Die Brut auf einem Kirchturm ist nichts besonderes: so sind die Vögel z.B. auf dem Hildesheimer Dom seit 2014 oder der Elisabeth-Kirche in Marburg zu finden, jeweils mit einer regelrechten Fangemeinde. Im Gegensatz zu den beiden oben genannten Brutstätten, befindet sich die Göttinger Jacobi-Kirche inmitten der Fußgängerzone. Aber wieso macht das einen Unterschied?
Wie bei anderen Eulen verlassen kleine Uhus schon das Nest ehe sie fliegen können. Dabei fängt der Nachwuchs an zu klettern und ist auch auf dem Boden ganz gut zu Fuss. Das nützt den Kleinen auf dem 72 m hohen Kirchtum recht wenig. Wenn es dann passiert, dass sie sich zu weit vorwagen, bleibt ihnen nichts anderes übrig, als irgendwie zum Boden zu flattern. Unten landen die flugunfähigen Pulli auf jeden Fall in der Fussgängerzone und eben nicht in einem geschützten Kreuzgang wie in Hildesheim. Man muss also nicht studierter „Uhuloge“ sein, um zu verstehen, dass dieser Nistplatz Probleme mit sich bringt. Was wäre passiert, wenn der erste Jungvogel in der Nacht vom 8. auf den 9. Juni in einer Menschenmenge gelandet wäre? An jenem Abend fand die sogenannte Göttinger „Nacht der Kultur“ statt. Statt dessen ist der Vogel auf dem Turm nur eine Etage tiefer gefallen.
Nachdem dann die Bild-Zeitung titelte „Göttinger Fußgängerzone: Stadt warnt vor herabstürzenden Uhus„, blickte so mancher Mitbürger etwas ängstlich nach oben. Die Gefahr war aber weniger, dass ein Uhu auf Passanten herabstürzt, als dass man sich den Jungvögeln am Boden nicht nähern sollte. Dies war dann beim NDR korrekterweise nachzulesen.
Uhu-Management
Schlussendlich sind im Jahr 2024 in der Göttinger Innenstadt zwei Uhus flügge geworden und haben mittlerweile mit Sicherheit schon den näheren Umkreis verlassen. Beobachtet wurden die beiden immer in Begleitung des weiblichen Altvogels bis Ende September.
Das Ganze wurde nur dadurch möglich, dass die Jungvögel die Zeit vom Herunterflattern bis zu ihrem Flüggewerden im Pfarrgarten von St. Jacobi verbringen konnten. Durch ihre Bettelrufe ist der Kontakt zu ihren Eltern nie abgebrochen und die Kleinen wurden z.T. auch am Tage mit Nahrung versorgt.
Für 2025 ist die Ausgangssituation ja besser als im gerade ablaufenden Jahr, denn wir wissen eheblich mehr und können uns deshalb besser vorbereiten:
- Wie auch 2024 sollte die Bevölkerung informiert werden, dass mit jungen Uhus in der Fußgängerzone gerechnet werden muss und man zu diesen Abstand halte sollte.
Danke dafür an Britta Bielefeld vom Göttinger Tageblatt und an die engagierten Mitarbeiter vom Fachdienst Umwelt der Stadt Göttingen. - Das beste für die Vögel wäre, sie nach einem Sturz vom Turm wieder in der Fußgängerzone einzufangen und in den Pfarrgarten zu schaffen. Dies könnte durch die Feuerwehr oder z.B. durch ausgebildete Falkner erfolgen.
Danke an Eckhard Gottschalk vom Institut für Naturschutzbilologie der Universität Göttingen, der 2024 beide Jungvögel eingefangen und in den Pfarrgarten getragen hat. Wenn jemand meint im nächsten Jahr, hier mithelfen zu können, bitte Rückmeldung unter info@ornithologie-goettingen.de. - Bis zum Flüggewerden der Jungvögel sind sie im Pfarrgarten von St. Jacobi am besten aufgehoben.
Einen herzlichen Dank dafür an das Team von St. Jacobi um Pastor Áron Bence. In dem großen Garten waren die Vögel sicher vor neugierigen Passanten. - Ebenfalls wie im Jahr 2024 wäre es gut wieder so viele aufmerksame Menschen zu haben, die vor Ort jeweils schnell Hilfe geholt haben.
Allen voran ist hier Veronica Brieke vom Kleinen Ratskeller zu nennen, aber auch viele andere hier nicht genannte Personen.
Wie geht es weiter?
Derzeit sieht es danach aus, als wenn sich die Uhus auf dem Jacobi-Turm für die nächsten Jahre fest einrichten. Bevor die zwei Jungvögel im August/September flügge wurden, gab es schon eine Diskussion, ob es nicht besser wäre diesen „problematischen Brutkasten“ zu verschließen. Das stellt aber meiner Meinung nach keine Lösung dar: Es ist dann davon auszugehen, dass das Uhu-Paar sich einen anderen Platz in dem Innenstadtrevier sucht, was das Problem nur verlagern würde. Am Ende müssten alle anderen geeigneten Brutplätze in der Innenstadt auch geschlossen werden. Das würde zum Verschärfen der Wohnungsnot zum Beispiel auch für die Wanderfalken führen.
Dass es in Göttingen bereits viele Uhu-Fans gibt, konnte man im späten Frühjahr und Sommer im Bereich des Nabels und später an der Oberen Karspüle erleben. Andere fragten sich, was es denn da oben auf dem Turm spannendes zu sehen gäbe. Nach einem Blick durch das Spektiv kam dann der Kommentar: „Krass Alter, ich hab noch nie ’ne Eule gesehen!“. Andere wurden in ihrem Garten oder Balkon von den großen Vögeln überrascht…
Und schließlich wird sich auch die Jacobi-Gemeinde damit anfreunden, dass die Untermieter für die kommende Zeit gewechselt haben und die Wanderfalken erstmal nur noch auf den Türgriffen zu finden sind. Immerhin wurde direkt nach der Entdeckung der Eulen auf dem Kirchturm bei St. Jacobi ein neuer Chor mit dem Namen „Morgen-UHUs„, gegründet…
Mathias Siebner
Alle Fotos dieses Artikels ebenfalls von Mathias Siebner
Literatur:
Dörrie, H.-H. (2010): Anmerkungen zur Vogelwelt des Leinetals in Süd-Niedersachsen und einiger angrenzender Gebiete 1980-1998. Kommentierte Artenliste. 3. korrigierte Fassung, Göttingen, Dezember 2010
Glutz von Blotzheim, U. & Bauer, K., Handbuch der Vögel Mitteleuropas, Band 9: Columbiformes – Piciformes, Aula Wiesbaden (1994)
Heinroth, O. & Heinroth, M.: Die Vögel Mitteleuropas in allen Lebens- und Entwicklungsstufen photographisch aufgenommen und in ihrem Seelenleben bei der Aufzucht vom Ei ab beobachtet. II. Band: Eulen – Tauben- Raubvögel – Ruderfüßer – Sturmvogel – Rheiher-Storchgruppe (1928)
Krüger, T., J. Ludwig, S. Pfützke & H. Zang (2014): Atlas der Brutvögel in Niedersachsen und Bremen 2005-2008. Naturschutz Landschaftspfl. Niedersachsen, H. 47. Hannover
Das Vorkommen von Uhu Bubo bubo und Wanderfalke Falco peregrinus in Hessen: Historie ‑ Niedergang ‑ Gegenwart, 28 Charadrius 46, Heft 1-2, 2010: 28-40
https://www.umwelt.niedersachsen.de/startseite/aktuelles/pressemitteilungen/-7434.html
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