Libellen im Aufwind: Neue Entdeckungen und überraschende Entwicklungen

Aus libellenkundlicher Sicht waren die vergangenen zwei Jahre äußerst abwechslungsreich: 52 der 74 in Niedersachsen vorkommenden Libellenarten konnten von einer Handvoll Enthusiasten in Südniedersachsen gefunden werden, davon ließen sich drei Arten nur im Landkreis Northeim blicken; fünf waren exklusiv auf den Landkreis Göttingen beschränkt.
Auch 2023/2024 gab es vermeintliche Neuentdeckungen, die aber nur in einem Fall tatsächlich erst seit kurzem in der Region zu finden sind. Diesmal waren es gleich drei Arten, aber dazu weiter unten mehr.

Die Auflistung erfolgt nach Häufigkeitsklassen. Als sehr häufig wurden die Libellen eingestuft, die in den vergangenen zwei Jahren mehr als 5% aller Datensätze der letzten zwei Jahre ausmachten. Waren es mehr als 2,5%, so wurden die Arten als häufig deklariert. Mäßig häufige oder lokale Arten machten mehr als 1% der Daten aus, der Rest wurde als selten angegeben.

Sehr häufige Arten

An der Spitze hat sich wenig getan: die im letzten Bericht sehr häufigen Arten waren auch in den vergangenen zwei Jahren wieder in den Top 5: Große Pechlibelle (Titelbild), Hufeisen-Azurjungfer und Gemeine Becherjungfer waren die am häufigsten gemeldeten Kleinlibellen. Unter den Großlibellen gerieten erneut Große Königslibelle und Großer Blaupfeil am häufigsten vor die Optik.
Neu in dieser Häufigkeitsklasse ist die Blutrote Heidelibelle, welche ab Mitte Juni an zahlreichen Gewässern der Region anzutreffen ist. In passenden Lebensräumen wie dem Leinepolder Salzderhelden ist es schwer, die Art zu übersehen: hier wurden Zahlen im unteren vierstelligen Bereich geschätzt.

Eine blaue Libelle, eine Gemeine Becherjungfer
Abb. 1: Eine Gemeine Becherjungfer an den Northeimer Kiesteichen. Foto: Volker Hesse

Häufige Arten

Bei den elf Arten dieser Häufigkeitsklasse spiegeln sich die allgemein in Niedersachsen beobachtbaren Trends auch regional wider. So ist die Große Heidelibelle zunehmend an den unterschiedlichsten Gewässern zu finden und zählt mittlerweile zu den häufigsten Arten in den Landkreisen Northeim und Göttingen. Zunahmen wurden auch bei den ehemals seltenen Fließgewässer-Arten Blauflügel-Prachtlibelle und Gebänderte Prachtlibelle registriert, deren Ausbreitung in Niedersachsen mit der verbesserten Gewässerqualität in Verbindung gebracht wird.
Das ist insbesondere für die erste dieser beiden Arten sehr erfreulich, galt sie doch bis in die frühen 2000er-Jahre bei uns noch als ausgestorben. Die weiteren Arten dieser Häufigkeitsklasse sind eher Generalisten, die an den meisten Gewässern der Region gefunden werden können: Frühe Adonislibelle, Großes Granatauge, Plattbauch, Blaugrüne Mosaikjungfer, Vierfleck, Falkenlibelle, Blaue Federlibelle und Herbst-Mosaikjungfer.

Ein Libelle mit dem Namen Vierfleck
Abb. 2: Ein frisch geschlüpfter Vierfleck am Teich der Billingshäuser Schlucht. Foto: Volker Hesse

Mäßig häufig oder lokale Arten

In diese Kategorie fielen in den vergangenen zwei Jahren acht Arten. Hier finden sich überwiegend wärmeliebende Arten mit bevorzugter Verbreitung im Tiefland (Gemeine Winterlibelle, Früher Schilfjäger, Kleine Königslibelle und Feuerlibelle). Insbesondere die ersten beiden Arten wurden 2023 und 2024 in zunehmender Anzahl gesehen, was wohl eher auf das Aufsuchen entsprechender Lebensräume als auf eine tatsächliche Zunahme zurückzuführen ist. Erfassungen im Leinepolder förderten jedenfalls eine zuvor nie festgestellte Anzahl an Frühen Schilfjägern zutage. Die letzten beiden Arten wurden vor allem an Bodenabbaugebieten festgestellt: sie waren jeweils an den Kiesteichen Northeim, der Kiesgrube Angerstein oder dem Siekgraben vertreten.
Dieselben Gebiete werden auch bevorzugt von dem westeuropäischen Endemiten Westliche Keiljungfer beflogen, der anderweitig nur noch an der Tongrube Parensen und dem NSG Priorteich bei Walkenried gefunden wurde. Etwas spezialisierter ist die Kleine Pechlibelle, welche immerhin an neun Gewässern angetroffen wurde. Schwerpunkte sind dabei, wie in den Vorjahren, der Siekgraben und die Tongrube Ascherberg. Maximal zwölf Individuen wurden dort gezählt. Erfreulich sind mehrere Beobachtungen aus dem Leinepolder, aus dem acht Beobachtungen gemeldet wurden, die sich über einen Zeitraum von über zwei Monaten erstrecken. Von den Teichen am Kleinen Steinberg – hier war die Art in den letzten beiden Jahren regelmäßig anzutreffen- gab es dagegen nur eine Meldung. Ob sie dort lediglich übersehen wurde oder die fortschreitende Sukzession die Gewässer unattraktiv macht, ist unklar.
Weidenjungfern wurden an weit über beide Landkreise verteilten Orten wahrgenommen, zumeist aber in geringer Anzahl. Die Art kann eigentlich überall angetroffen werden, auch im städtischen Bereich. Beobachtungen existieren z.B. vom alten und vom Neuen Botanischen Garten, aber auch von einem Hausgarten in Göttingen-Treuenhagen.

Eine Libelle, eine westliche Keiljungfer
Abb. 3: Westliche Keiljungfern besiedeln bevorzugt Bodenabbaugebiete wie die Kiesgruben Klein Schneen. Foto: Volker Hesse

Seltene Arten

In dieser Häufigkeitsklasse findet sich vor allem eine Kombination aus Arten mit speziellen Lebensraumansprüchen und solchen mit einem ursprünglich südlicheren Verbreitungsgebiet, die aktuell nach Norden vorstoßen und sich im Bundesland noch nicht verbreitet etabliert haben. Aus ersterer Kategorie sind zum Beispiel mooraffine Arten zu nennen: Speer-Azurjungfer, Große und Kleine Moosjungfer flogen ausschließlich und in kleiner Anzahl an den Weihern am Kleinen Steinberg. Maximal drei Individuen dieser Arten klingen alarmierend, sind aber zum Teil auch auf ausbleibende Besuche zur passenden Jahreszeit zurückzuführen. Auf dieses Gebiet weitgehend beschränkt ist auch die Kleine Binsenjungfer, welche dort aber in deutlich höheren Abundanzen fliegt als die vorangegangenen Arten. Die einzige weitere Beobachtung stammt vom LIFE BoVar-Teich bei Düna. Als letzte Art mit Präferenz für moorige Gewässer ist die europaweit stark abnehmende Schwarze Heidelibelle zu nennen. Nach nahezu vollständiger Absenz in den Jahren 2021 – 2023 (nur ein herumstreifendes Männchen) ist die mehrfache Sichtung im Jahr 2024 sehr erfreulich. Besonders an den Teichen am Kleinen Steinberg wurden knapp 10 Individuen, darunter auch Paarungsräder, an einem passenden Gewässer gefunden. Die Art war dort in den vergangenen Jahren mit ziemlicher Sicherheit nicht präsent.
Ein weiteres Sorgenkind unter den europäischen Libellen ist die Torf-Mosaikjungfer, welche regional ebenfalls selten wahrgenommen wurde. Neben dem Neuen Botanischen Garten als verlässlichstem Beobachtungort gelangen in den vergangenen zwei Jahren aber Nachweise an einer Reihe weiterer Gewässer. Hier ist besonders der Papenpfuhl hervorzuheben, wo bis zu sieben Individuen gleichzeitig rekordverdächtig sind. Auf dem Acker im Harz ist die Art ebenfalls noch zahlreich vertreten. Für ihre Vorliebe für klare Bäche mit feinem Sediment in Waldnähe dürfte auch die geringe Anzahl der Meldungen der Zweigestreiften Quelljungfer verantwortlich sein, werden doch solche Gebiete traditionell eher selten aufgesucht. Immerhin deuten mehrere Beobachtungen im NSG Husumer Tal, an der nahegelegenen Ruhme sowie der Leine zwischen Einbeck und Northeim eine weitere Verbreitung im LK Northeim an. Im Landkreis Göttingen gab es dagegen lediglich eine Sichtung an der Weser bei Hann. Münden. Die bekannten Reproduktionsgewässer im Kaufunger Wald wurden in den vergangenen zwei Jahren allerdings nicht aufgesucht. Rar macht sich auch eine weitere Fließgewässer-Art: Die einzige Sichtung einer Grünen Flussjungfer stammt aus dem Leinepolder. Positive Trends scheint es bei vielen der wärmeliebenden Arten zu geben. Deutlich wird das zum Beispiel an allem, was „Südlich“ im Namen trägt: Südliche Binsenjungfer, Südliche Mosaikjungfer sowie Südliche Heidelibelle waren in den vergangenen Jahren sehr selten oder abwesend; 2024 konnte für alle drei Arten Reproduktion im Leinepolder nachgewiesen werden. Zudem wurden alle auch anderweitig wahrgenommen. Beobachtungen der Südlichen Binsenjungfer gelangen an fünf weiteren Orten. Ein eierlegendes Weibchen im Experimentellen Botanischen Garten lässt dort auf ein Wiedersehen 2025 hoffen. Individuenzahlen im mittleren zweistelligen bis dreistelligen Bereich gab es vom Leinepolder und dem Biotop Leineaue am Flüthewehr. Letzteres Gebiet wurde auch von der Südlichen Mosaikjungfer beflogen, welche zudem am Bölle-Stau und der Kiesgrube Angerstein gefunden wurde. Von der Südlichen Heidelibelle gelang dagegen lediglich eine weitere Beobachtung eines Männchens am Siekgraben. Ausbreitung wird auch von der Helm-Azurjungfer beobachtet. Neben den bekannten Populationen an Weende und Suhle/Ellerbach gibt es Hinweise auf Etablierung im Seeanger und dem Landwehrgraben. Erfreulich sind auch mehrere Beobachtungen der Keilfleck-Mosaikjungfer. Insgesamt sieben Beobachtungen im Leinepolder sowie an den Kiesteichen Northeim inklusive dem Freizeitsee nähren den  Eindruck, dass die Art hier selten ist, aber sich etabliert haben könnte. Alles andere als selten scheint sie dagegen im NSG Priorteich bei Walkenried zu sein. Etwa 30 Individuen versetzten dort Ende Juni 2024 den Beobachter in Staunen. Eine Art, die noch nicht lange in der Region heimisch ist, ist die Gabel-Azurjungfer, welche 2021 erstmalig in Niedersachsen beobachtet wurde. Eines der Fundgewässer, ein Teich am Kleinen Steinberg, bot auch in den letzten zwei Jahren verlässliche Sichtungen im Juni / Juli.  Daneben mehren sich aber die Meldungen auch von anderen Orten. Hier sticht besonders der Siekanger ins Auge, denn seit 2022 gelingen dort jährliche Nachweise, 2024 sogar von einem Paarungsrad. Hier sollte künftig auf diese schnell zu übersehende Art geachtet werden. Vom Leinepolder sowie dem Northeimer Freizeitsee liegen aus 2024 insgesamt drei Meldungen vor. Für eine größere Überraschung sorgten gleich mehrere Beobachtungen der Fledermaus-Azurjungfer. Die Art ist regional sehr selten und wurde zuletzt 2017 an den Naturschutzteichen Schwiegershausen wahrgenommen. Entsprechend erfreulich sind Beobachtungen am Siekgraben, dem Leinepolder und vor allem dem Seeanger im Jahr 2024. Während in den ersten beiden Gebieten 1-3 Individuen beobachtet wurden, konnten im Seeanger bis zu 60 Tiere, zum Teil als Paarungsräder, nachgewiesen werden. Die hohe Anzahl lässt vermuten, dass sich die Art dort bereits erfolgreich reproduziert hat, in den vergangenen Jahren ist sie dort (bei aber auch nur sporadischen Kontrollen) nicht aufgefallen.
Keine nennenswerten Neuerkenntnisse gibt es für eine Reihe weiterer seltener Arten: Kleiner Blaupfeil, Glänzende Smaragdlibelle, Saphirauge, Gemeine Binsenjungfer, Braune Mosaikjungfer, Südlicher Blaupfeil sowie Frühe Heidelibelle fliegen in den Landkreisen an den zumeist immer gleichen Gewässern. Immerhin wurde vom Südlichen Blaupfeil erneut erfolgreiche Reproduktion im Rückhaltebecken Holtenser Berg belegt, zudem wurde die Art beim Schlupf in der Leineaue  am Flüthewehr beobachtet. Auch für die Frühe Heidelibelle liegen – keineswegs selbstverständliche- Reproduktionsnachweise vor, diese stammen vom Northeimer Freizeitsee sowie dem Leinepolder. Recht düster sieht es nach wie vor für die ehemals häufige Gemeine Heidelibelle sowie die Glänzende Binsenjungfer aus. Eine Kontrolle der LIFE Bovar-Projektteiche bei Düna, wo beide Arten in der Vergangenheit zu finden waren, verlief negativ. Möglicherweise hat das Ausbaggern eines der Teiche zum Erlöschen der möglichen Population geführt. Zwar gelangen vier Beobachtungen der Gemeinen Heidelibelle (Freizeitsee Northeim, Leinepolder, Neuer Botanischer Garten) und mehrere der Glänzenden Binsenjungfer (Leinepolder), es ist aber anzunehmen, dass es sich um herumstreifende Tiere handelt.

Eine Libelle, eine kleine Moosjungfer
Abb. 4: Kleine Moosjungfern sind in der Region selten und auf wenige Gewässer beschränkt. Foto: Volker Hesse

Neu in der Region

Als Glücksfall entpuppten sich Besuche des Sackteiches bei Walkenried, denn hier flogen 2024 gleich zwei Arten, die als bislang in Südniedersachsen noch nicht beobachtet angenommen wurden. Das betrifft zum einen die Zierliche Moosjungfer, die im gleichen Jahr auch noch am Northeimer Freizeitsee dokumentiert wurde. Die Art zeigt niedersachsenweit einen positiven Trend, in dessen Zuge möglicherweise auch die Landkreise Göttingen und Northeim erreicht wurde. Recherchen auf observation.org förderten allerdings zu Tage, dass die Art bereits 2021 am Sackteich zu finden war. Sehr erfreulich war auch die Entdeckung von mindestens vier Gefleckten Smaragdlibellen an ebenjenem Gewässer. Die Art ist eine der seltensten des Bundeslandes zudem mit abnehmenden Beständen. Alle bislang bekannten Reproduktionsgewässer liegen im Tiefland, daher war der Fund eine faustdicke Überraschung. Aber auch in diesem Fall hätten die einschlägigen Internetseiten wie oberservation.org darauf vorbereiten können: bereits aus dem Jahr 2018 liegen Fotos der Art aus dem Gebiet vor.
Deutlich erwartbarer, da in Niedersachsen in starker Ausbreitung begriffen, waren Funde des Spitzenflecks im Leinepolder sowie vor allem im Seeanger, wo sich die Art vermutlich erfolgreich fortpflanzt. Um die Entwicklungen der heimischen Libellenarten auch weiterhin im Blick behalten zu können, sind nach wie vor ALLE Meldungen (auch historische) von großem Interesse. 

Eine Libelle mit dem Namen Gefleckte Smaragdlibelle
Abb. 5: Die Sichtung der Gefleckten Smaragdlibelle zählt zu den größten Überraschungen der letzten zwei Jahre. Foto: Volker Hesse

Nähere Informationen können der Publikation im Download entnommen werden. In dieser wird der aktuelle Kenntnisstand aller in Südniedersachsen nachgewiesenen Arten vorgestellt. Besonderes Augenmerk liegt dabei auf den letzten sechs Jahren. Die Veröffentlichung bietet dabei einen vollständigen Überblick über die Libellenfauna Südniedersachsens, inklusive Verbreitungskarten:



Die Zusammenstellung für die Jahre 2023 und 2024 beruht auf Daten von vielen Beobachtern, denen an dieser Stelle ein herzlicher Dank ausgesprochen werden muss: Alexander Franzen, Andreas Stumpner, Bernd Riedel, Daniel Schmidt, Henning Pehlemann, Jakob Demmer, Kathrin Baumann, Janna Ouedraogo, Martin Fichtler und Ole Henning.

Volker Hesse

 

Literatur

Baumann, K. (2024): Die aktuelle Situation der Libellenarten in Niedersachsen/Bremen – Trends für die Jahre 2019–2023 mit besonderem Fokus auf mooraffine Arten. Mitteilungen der AG Libellen in Niedersachsen und Bremen Nr. 6: 5–26

Eine Libelle mit dem Namen Spitzenfleck
Abb. 6: Der Spitzenfleck ist erst seit 2023 in Südniedersachsen zu finden. Foto: Volker Hesse