Der Kormoran – Vogel des Jahres 2010 – in Süd-Niedersachsen

Abb. 1: Adulter Kormoran. Foto: M. Siebner

Alle Achtung! Der kollektive Wutausbruch der Sportangler-Lobby im Internet und anderswo belegt, dass der NABU mit seiner Wahl richtig gelegen hat. Endlich mal kein konsensfähiger Sympathieträger, an dem sich umtriebige Vogelschützer mit Biotopverbesserungen, Nisthilfen u.ä. abarbeiten können, sondern ein umstrittener „Problemvogel“ im bleihaltigen Spannungsfeld von Naturschutz- und Naturnutzerinteressen. Die Göttinger Vogelkundler haben sich schon immer für den knorrigen Ruderfüßler stark gemacht, zuletzt in der Glosse „Neues von unerwünschten Fischfressern und pelzigen Neubürgern“ vom 27.11.2007 auf dieser Homepage. Der Wahl können sie wärmstens und zudem mit einer gewissen Genugtuung applaudieren.

Einst und jetzt


Die Naturgeschichte des Kormorans (Phalacrocorax carbo) in unserer Region ist schnell erzählt. Bis zum Beginn der 1980er Jahre war er eine mittlere Rarität, die in Truppgrößen von weniger als zehn Individuen auftrat. Die meisten Kormorane wurden in den Jahren 1998 bis 2002 beobachtet; damals waren Ansammlungen von mehr als 200 Individuen, die sich auf dem Heim- und Wegzug am Seeburger See und an den Northeimer Kiesteichen einfanden, keine Seltenheit. Heutzutage sind Tagessummen von 80 bis 100 Individuen die Ausnahme.1998 etablierte sich an den Northeimer Kiesteichen eine Brutkolonie mit maximal 50 Nestern in den Folgejahren, die 2004 durch einen Ableger an der ehemaligen Kiesgrube im Leinepolder Salzderhelden mit 16 Nestern erweitert wurde. Obwohl sich dort zum Beginn der Brutzeit immer noch ein paar balzende Vögel aufhalten, sind beide Kolonien mittlerweile verwaist; eine erfolgreiche Brut hat in den letzten drei Jahren nicht stattgefunden. Grund dafür ist mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit die Plünderung der Gelege durch Waschbären (vgl. den oben genannten Beitrag auf dieser Homepage). Der Kormoran ist daher bis auf weiteres als regional (wieder) verschwundener Brutvogel einzustufen.

Soweit die dürren Fakten, die sich recht gut in das allgemeine Bild einer rasanten Bestandszunahme bis zum Erreichen der Plateauphase mit aktuell stabilen bis leicht sinkenden Zahlen einfügen. Neben dem Waschbären hat andernorts auch der Seeadler für das Erlöschen von Kolonien gesorgt, z.B. am Steinhuder Meer. Dies zeigt, dass eine schleichende, aber durchaus nachhaltige Regulierung der Kormoran-Brutbestände ohne Pulver und Blei eingesetzt hat; diese wird in dem Maße, wie Waschbär und Seeadler sich weiter ausbreiten, noch zunehmen.

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Abb. 2: Kormoran ruht in luftiger Höhe. Foto: M. Siebner

Der Kormoran – ein Kulturfolger der besonderen Art


Ein wesentlicher Katalysator der Bestandszunahme dieser in der alten Bundesrepublik faktisch ausgerotteten und in der damaligen DDR von Staats wegen auf 1500 Paare limitierten Brutvogelart war die nachlassende Verfolgung in den Nachbarländern und die europaweite Unterschutzstellung nach der EU-Vogelschutzrichtlinie von 1979. Das vermehrte Auftreten in Süd-Niedersachsen wurde jedoch auch durch andere anthropogene Faktoren begünstigt. In unserer an natürlichen Stillgewässern armen Region entstanden in den 1960er und 1970er Jahren zahlreiche Sekundärgewässer, im wesentlichen Kiesgruben, die – und jetzt wird’s interessant – bis auf wenige Ausnahmen sogleich von Sportanglern in Beschlag genommen und mit schmackhaften Speisefischen aller Art bestückt wurden. Hinzu kommt, dass viele unserer Gewässer durch die Klärung von Abwässern weniger mit Schadstoffen belastet und sauberer geworden sind. Permanenter Nährstoff- und Sedimenteintrag aus der industriellen Landwirtschaft und abgeregnete Stickstoffverbindungen aus dem Automobilverkehr haben jedoch vielerorts zum starken Wachstum von Wasserpflanzen geführt. Davon profitieren einige anpassungsfähige Fischarten, für andere hingegen wie z.B. die Äsche, die bei ihrer Reproduktion auf vegetationsfreie Flachzonen schnellfließender Gewässer angewiesen ist, hat sich die Lebensraumqualität verschlechtert.

Somit stehen den Kormoranen seit einiger Zeit ergiebige Nahrungsquellen zur Verfügung, die sie, wer will es ihnen verdenken, effektiv ausbeuten. Dies tun sie überwiegend an stehenden Gewässern. Nur in ausgeprägten Kältewintern fliegen sie, notgedrungen, Fließgewässer wie Leine und Rhume vermehrt an. Unsere Binnenland-Kormorane sind klassische „Kulturfolger“, die, ähnlich wie Kraniche auf abgeernteten Maisfeldern oder Gänse auf Ackerflächen mit Zwischenfruchteinsaat, von anthropogenen Veränderungen in der Nutzung von Natur und Landschaft profitieren. Dass sie dabei ihre Beute an den Rand des Aussterbens bringen, gehört ebenso ins Reich der Legende wie das Gruselmärchen von den Rabenvögeln, die angeblich Singvögel ausrotten. Wäre dem so, gäbe es in unserer Region schon seit einiger Zeit keine Kormorane mehr. Gleichwohl ist nicht auszuschließen, dass Fischbestände von den geschickt in Gruppen operierenden Tauchjägern gravierend in Mitleidenschaft gezogen werden können. Dass Fische von ihren Feinden gefressen werden, manchmal auch in Massen, ist jedoch ein ebenso natürlicher Vorgang wie z.B. die Plünderung von Seeschwalbengelegen durch räuberische Silbermöwen, die von jeher den Zorn von Vogelschützern erregt. An Rhume und Leine geschieht dies jedoch immer nur lokal und keineswegs alljährlich. Ein klarer Beleg für einen ausschließlich durch Kormorane herbeigeführten großflächigen Rückgang sogenannter „Edelfischarten“ steht für unsere Region immer noch aus. Dabei wird es wohl auch bleiben. Neben anderen ökologischen Parametern wird der Einfluss von Raubfischen und Laichräubern wie dem (ausgesetzten) Aal, der, das ergab eine Elektrobefischung 2006, mittlerweile knapp zwei Drittel des Fischbestands der Göttinger Leine stellt, mangels Interesse nicht genauer untersucht. Warum auch: Man hat ja einen idealen Sündenbock…

Kormoran-Bekämpfung zur Wiederherstellung einer intakten Natur?

Wer diese Zusammenhänge nicht kennt oder beiseite schiebt und stattdessen von „Überpopulationen“, Begrenzung der Kormoranzahlen auf ein (für wen?) „erträgliches Maß“, den gezielten „Schutz gefährdeter Fischarten“ durch Kormoran-Massenabschüsse und die Wiederherstellung eines imaginären „biologischen Gleichgewichts“ schwadroniert, für den ist auch die Dynamik ökologischer Prozesse ein Buch mit sieben Siegeln. Wer in der Tagespresse oder in Youtube-Filmchen mit dramatisch-düsterer Musikuntermalung den Einflug von 50 Kormoranen als nackten Horror präsentiert, nur weil jeder dieser Vögel, wie es nun mal seine Art ist, pro Tag ca. 350 Gramm Fisch verspeist, bewegt sich in einer unseligen Tradition der Dämonisierung vermeintlicher „Schädlinge“.

Für die Handvoll hauptberuflicher Teichwirte im Binnenland, deren materielle Existenz vom Verkauf der Fische abhängt, hat es bekanntlich schon vor der Genehmigung flächendeckender Abschüsse in fast allen Bundesländern Möglichkeiten der lokalen Vergrämung gegeben, damit sie ihr Kapital vor den gefiederten Konkurrenten schützen können – kein Naturschützer hatte etwas dagegen einzuwenden. Dabei hat sich die Überspannung von Fischzuchtanlagen mit Netzen im Vergleich zu Vergrämungsabschüssen als erheblich effektiver erwiesen.

Mittlerweile werden in Deutschland alljährlich ca. 15.000 Kormorane „zum Schutz der heimischen Tierwelt“ geschossen. Für die Sportangler-Lobby ist aber selbst dieses Blutbad an einer nach EU-Recht immer noch geschützten Vogelart nur der berühmte Tropfen auf den heißen Stein. Um die Natur „wieder in Ordnung zu bringen“ fordern sie jetzt, den Bestand europaweit um 50 Prozent zu reduzieren. Die Durchsetzung dieses Vorhabens würde beispiellose Massaker in den Brutkolonien nach sich ziehen – eine Barbarei, die allenfalls mit der gnadenlosen Greifvogelverfolgung oder dem massenhaften Abschlachten von Reihern und Seevögeln zur Gewinnung von Modeschmuckfedern im ausgehenden 19. Jahrhundert verglichen werden kann.

Durch das verbreitete Aussetzen gebietsfremder Fischarten – vom Aal im Chiemsee bis zum Zander in der Kiesgrube Reinshof bei Göttingen, ganz zu schweigen von nordamerikanischen Bachsaiblingen und Regenbogenforellen – haben sich die Freizeitangler vielerorts ihre eigene, hochgradig naturferne und entsprechend aufwendig „gemanagte“ Fischfauna zusammengestellt. Diese soll jetzt mit aller Gewalt vor einem natürlichen Fressfeind geschützt werden. Es ist an der Zeit, diesem Widersinn ein Ende zu bereiten und Vernunft einkehren zu lassen.

Angler und Naturschützer haben durchaus gemeinsame Interessen, wenn es um den Schutz von Fließ- und Stillgewässern samt ihrer Flora und Fauna (zu der nun auch der Kormoran zählt) geht. In Göttingen haben beide Seiten 2007 einträchtig die Ausbaggerung der Leine für den Hochwasserschutz verhindert, und auch gegen die Planung neuer Wasserkraftwerke wird man sicher an einem Strang ziehen. Insofern sollte die Wahl des Jahresvogels 2010 von den Anglern nicht als bloße Provokation, sondern vielmehr als Angebot verstanden werden, sich gemeinsam der wahrhaft gravierenden Probleme im Natur- und Artenschutz anzunehmen, zu denen die erfreuliche Bestandszunahme eines zuvor fast ausgerotteten Wasservogels gewiss nicht zählt.

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Abb. 3: Trocknet die Federn. Foto: M. Siebner

Kormorane beobachten – wann und wo

Am Seeburger See, an den Northeimer Kiesteichen und an der Geschiebesperre Hollenstedt halten sich, wenn die Gewässer nicht vereist sind, ständig Kormorane auf, zumeist in Ansammlungen von weniger als 50 Tieren.

Als GöttingerIn hat man es besonders leicht und bequem, den Vogel des Jahres zu sehen. Am stadtnahen Kiessee, wo nicht auf die Vögel geschossen werden darf, können sich ab Oktober 50 bis 80 Kormorane mit geringer Fluchtdistanz einfinden, die beim Zufrieren des Gewässers wieder abziehen oder auf die Leine ausweichen. Ab April sind sie wieder verschwunden, nur zwei bis drei bleiben über den Sommer. Schwärme von mehr als 200 Vögeln oder gar „Kolonien“ haben dort bislang nur ein paar Angler zu Gesicht bekommen. Das Flunkern und Übertreiben (sooo groß war der Fisch!) ist aber von jeher ein unverzichtbarer Bestandteil dieser Freizeitbeschäftigung. Man sollte nachsichtig sein, aber sich zu Wort melden, wenn solche Rekordleistungen Eingang in die Berichterstattung der Tagespresse finden…

Ein kleine, subjektiv gefärbte Anregung zum Schluss: Die vorurteilsfreie Betrachtung unseres Jahresvogels bringt ans Licht, wie schön er ist. Sein Gefieder erscheint nur einfarbig schwarz. In Wirklichkeit schillert es dezent in vielen Blau- und Grüntönen. Die silbrig schimmernden Köpfe der brutwilligen Altvögel in Kombination mit dem dunklen Federkleid erinnern wahlweise an einen in Würde gealterten katholischen Prälaten oder evangelischen Propst. Die quarrenden Balzrufe klingen hingegen ziemlich unchristlich. Ein Kormoran, der regungslos auf einem Ast steht und seine ausgebreiteten Flügel von der Sonne trocknen lässt, verleiht auch dem ödesten Tümpel seinen besonderen Reiz: So soll es sein – so soll es bleiben!

H. H. Dörrie

Ausführliche Informationen über den Kormoran können der Sonderseite des NABU zum Vogel des Jahres 2010 entnommen werden. Der Verband hat eine Seite eingerichtet, auf der man sich als Kormoranfreund outen und, wenn man möchte, Diskussionen mit netten und weniger netten Zeitgenossen führen kann (www.kormoranfreunde.de) – (Anm.: diese Seite existiert leider nicht mehr)