Noch beeindruckender als der Anblick des Riesenvogels ist die geballte Ignoranz der herbeigeeilten Experten. Von einem auf einheimische Beute geeichten Jäger oder einer bodenständigen Bauernfamilie kann man kaum erwarten, dass sie den exotischen Dachbesucher auf Artniveau bestimmen. Anders verhält es sich mit dem Betreiber des Harzer Falkenhofs und dem medienbewussten Rüdershausener Vogelpfleger, der sich bislang vor allem mit einem gescheiterten Steinkauz-Wiederansiedlungsprojekt hervorgetan hat. Sie hätten nach kurzem Studium der Fachliteratur herausbekommen können, dass es sich weder um einen Gänse- noch Himalayageier, sondern zweifelsfrei um einen Sperbergeier handelt. Diese Greifvogelart brütet in Afrika südlich der Sahara. Einzelvögel tauchen seit ein paar Jahren in südspanischen Gänsegeier-Kolonien auf bzw. werden auf dem Zug über die Straße von Gibraltar beobachtet. Möglicherweise folgen sie, aus welchen Gründen auch immer, überwinternden spanischen Gänsegeiern in ihr Brutgebiet. Alle artdiagnostischen Merkmale sind auf den Fotos gut zu erkennen. Die Spannweite des Geiers beträgt, anders als im GT-Artikel behauptet, ungefähr das Doppelte der eher für einen Rotmilan typischen 1,50 Meter.
Der Elbinger Sperbergeier ist aber keineswegs aus Afrika zugewandert, sondern zeigt mit Ring und Lederriemen unverkennbare Hinweise auf ein Entweichen aus Gefangenschaft. Welchem Halter er entkommen ist, muss vorerst offen bleiben. Insoweit ist der GT-Artikel zutreffend.
Man kann ja verstehen, dass die Tagespresse auf solche events abfährt und diese entsprechend aufbläst. Die Elbinger Dorfgemeinschaft, Amtspersonen und „Experten“ mag es freuen: Sie werden, ungeachtet des dürftigen Informationsgehalts ihrer Aussagen, namentlich zitiert und teilweise mit Fotos gewürdigt. Vermissen tut man eigentlich nur noch den Landrat und einen Vertreter der Firma Otto Bock.
Auch bei einigen Kennern der regionalen Vogelwelt hat das Ereignis tiefe Spuren hinterlassen. Die Herren Holzapfel und Böning von der Polizei Gieboldehausen haben „in ihrer Dienstzeit so etwas noch nie erlebt“. Wir auch nicht.
H.H. Dörrie
Zum Weiterlesen: Sperbergeier bei Wikipedia
Nachtrag
Das Göttinger Tageblatt vom 11. Mai meldet die (Wieder-)Inhaftierung von Sperbergeier Theo – damit fand der Ausflug des imposanten Aasfressers in die Freiheit nach elf Tagen ein abruptes Ende. Der Vogel war einem Falkner im Ostharz während einer Greifvogelschau entflogen.