Einflug des Wachtelkönigs im Gebiet der Stadt Göttingen im Frühsommer 2007

Ab Mitte Juni 2007 kam es im Göttinger Stadtgebiet zu einem bemerkenswerten Einflug von Wachtelkönigen (Crex crex).

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Abb. 1: Wachtelkönig in typischem Lebensraum. Foto: SVS/BirdLife Schweiz, Zürich

Rufende Männchen erschienen in mindestens sechs verschiedenen Gebieten und konnten hier teilweise bis in die zweite Julidekade gehört werden. Die Rufplätze befanden sich in der Regel in hochwüchsigem Mähgrünland oder in Brachen.
Über die Ursachen des Einflugs, der sich auch in anderen Regionen (z.B. Westfalen) manifestierte, sind letztlich nur Spekulationen möglich. Die Untere Naturschutzbehörde der Stadt Göttingen hat sich erfolgreich um den Schutz der Vögel bemüht und eine Verschiebung der Mähtermine soweit wie möglich nach hinten erreicht.
Der Wachtelkönig ist ein Brutvogel offener, hochgrasiger und möglichst extensiv bewirtschafteter Grünlandflächen. Als Optimalhabitate gelten in Mitteleuropa Überschwemmungsauen in Flussniederungen, Niedermoore sowie ungedüngte, feuchte Mähwiesen. Zu nasse Flächen werden gemieden, eher trockene, intensiv genutzte landwirtschaftliche Schläge besiedelt der Wachtelkönig unregelmäßig. Die Besiedlung typischer Kulturlandhabitate hat unter – erheblichen regionalen Unterschieden – in neuerer Zeit deutlich zugenommen.

Mehr als 50 % der Weltpopulation des paläarktisch verbreiteten Wachtelkönigs lebt in Europa mit Schwerpunkt im Osten des Kontinents. Wachtelkönige sind Langstreckenzieher, die im tropischen Afrika südlich der Sahara überwintern. Der größte Teil der Vögel bevorzugt südliche bis südöstliche Wegzugrichtungen und meidet somit Mitteleuropa. Die Besetzung der Brutplätze erfolgt hier in der Regel im Laufe des Mai und kann sich bis deutlich in den Juni hineinziehen.

Als Konsequenz eines sehr dynamischen Siedlungsverhaltens tritt der Wachtelkönig als Brutvogel in jahrweise stark schwankenden Beständen auf. Ortswechsel auch über längere Distanzen sind als Folge agrarischer Bewirtschaftungsweisen oder von Wettereinflüssen normal und erschweren oft die Einschätzung von Populationsgrößen.
Nach katastrophalen Bestandsrückgängen vor allem zwischen 1970 und 1990 in den meisten Regionen Europas galt der Wachtelkönig zeitweise als eine der am stärksten gefährdeten Vogelarten. Ab den 1990er Jahren setzte in den meisten europäischen Populationen eine Bestandskonsolidierung ein, ehedem verlassene Areale wurden wiederbesiedelt.

Bis zum Jahr 2000 galt der Leinepolder bei Salzderhelden als einziges Gebiet Süd-Niedersachsens mit regelmäßigem Wachtelkönigvorkommen. Der Bestand in den 1970er und 1980er Jahren wurde auf ca. 15 – 20 rufende Männchen geschätzt. Der Bruterfolg war vermutlich minimal, weil die besiedelten Flächen viel zu früh gemäht wurden. Naturschutzmaßnahmen im Polder ließen den Bestand ab Mitte der 1990er Jahre auf bis zu 50 rufende Männchen ansteigen, auch Bruterfolge konnten vermeldet werden.
Über frühere südniedersächsische Vorkommen abseits der Leineniederung zwischen Northeim und Salzderhelden liegen nur wenige Mitteilungen vor. Wiederholte Hinweise auf Brutvorkommen gab es seit den 1930er Jahren vor allem von der Leineniederung südlich Göttingens, aus der Umgebung Nikolausbergs, der Region um den Seeburger See und in letzter Zeit aus der Feldmark um Reckershausen und Reiffenhausen.

Innerhalb des jetzigen Stadtgebiets von Göttingen trat der Wachtelkönig außerhalb von Leineniederung und Nikolausberg erstmals 1999 auf dem Kerstlingeröder Feld auf. Während eines Einflugs 2002 riefen hier maximal vier Männchen und es gelang ein Brutnachweis. Um Herberhausen riefen im selben Jahr gleich neun Vögel. Ebenfalls 2002 wurde jeweils ein rufender Wachtelkönig von der ehemaligen Bauschuttdeponie in Geismar und dem Diemardener Berg gemeldet.

Während des Einflugs 2002 wurden auffallend oft suboptimal erscheinende Habitate in höheren Lagen besiedelt. Zumindest für einen Teil der Vögel dürfte die Herkunft klar sein. Starke Niederschläge im Mai führten zu einem Hochwasser in der Leineniederung zwischen Salzderhelden und Northeim und veranlassten offensichtlich mindestens einen Teil der Vögel zum Ausweichen in höher gelegene Gebiete.

Im Juni/Juli 2007 dürften insgesamt acht bis neun Männchen im Bereich der Stadt Göttingen gerufen haben (s. Karte). Nicht auszuschließen sind räumliche Verlagerungen, wie sie bei der kleinen Gruppe von Rufern im Wassergewinnungsgelände nachgewiesen wurden, auch zwischen den Rufplätzen.

Maximal vier gleichzeitig rufende Wachtelkönige wurden im Wassergewinnungsgelände südlich der Stegemühle verhört (s. Karte). Bei der Fläche südlich des Wasserwerks handelt es sich um ungemähtes, hochgrasiges Grünland. Hinsichtlich der Vegetationshöhe und der damit verbundenen Deckungsmöglichkeiten erscheint die Fläche als Bruthabitat optimal. Ähnlich strukturiert ist die angrenzende “Drachenwiese” mit einem erhöhten Anteil krautiger Pflanzen. Strukturell abweichend ist der nördliche Rufplatz, weil dieser sich in der Nähe zweier Gebüschgruppen befindet. Die Ansiedlung der Vögel im Wassergewinnungsgelände wurde durch die feuchte Witterung ermöglicht, die das in anderen Jahren übliche Mähen ab Juni nicht zuließ.

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Abb. 2: Östliches Wassergewinnungsgelände (von der Kiesseestraße aus). Alle Habitataufnahmen: G. Brunken

Im nordwestexponierten Hangbereich der ehemaligen Bauschuttdeponie Geismar (Entfernung zum Wassergewinnungsgelände ca. 2,7 km) wurde ein weiteres rufendes Männchen festgestellt. Strukturell ähnelt die Brache dem Grünland südlich der Stegemühle.
Ein weiterer Rufplatz existierte im südwestexponierten Hangbereich des Diemardener Berges (Landkreis Göttingen, Samtgemeinde Gleichen). Die Entfernung zum Wassergewinnungsgelände beträgt ca. 3,5 km. Das Habitat ist eine von Luzerne dominierte Brache, die zur Lebensraumverbesserung der ansässigen Rebhuhnpopulation eingesät wurde. Beide Rufplätze südlich von Geismar waren auch beim Einflug 2002 von rufenden Wachtelkönigen besetzt.

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Abb. 3: Ehemalige Bauschuttdeponie Geismar
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Abb. 4: Blühstreifen am Diemardener Berg

Östlich des Stadtkerns rief ein Wachtelkönig auf dem Kerstlingeröder Feld in hochwüchsigem Extensivgrünland.
Auf dem Uni-Nordgelände westlich des Neuen Botanischen Gartens unterhalb des Fassbergs hielt sich ein rufender Wachtelkönig in einer hochwüchsigen Brache auf. Ein Individuum rief im mittleren Bratental zwischen Roringen und Nikolausberg auf einer südostexponierten, stark hängigen Brache.

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Abb. 5: Brache im Neuen Botanischen Garten
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Abb. 6: Brache im Bratental

Dass der Einflug 2007 auch regional nicht auf das Stadtgebiet von Göttingen beschränkt war, belegen Meldungen aus der Feldmark um Parensen, Gladebeck und Wolbrechtshausen (Landkreis Northeim). In diesem Gebiet, aus dem keine früheren Wachtelkönignachweise vorliegen, wurden bis zu sechs Männchen verhört.
Trotz des unregelmäßigen Auftretens revierbesetzender Wachtelkönige wird deutlich, dass traditionelle Bindungen an bestimmte Bereiche offensichtlich bestehen bzw. sich zu entwickeln beginnen. Die Vorkommen in der Leineniederung am südlichen Stadtrand von Göttingen lassen sich auf ca. 70 Jahre zurückverfolgen. Auch für die Flächen um Nikolausberg existieren Nachweise seit den 1940er Jahren. Weiterhin sind Nachweise vom Kerstlingeröder Feld, der Bauschuttdeponie Geismar und dem Diemardener Berg – allerdings nur aus neuerer Zeit – bekannt.

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Abb. 7: Der Süd-Osten von Göttingen: Kleine Punkte = ein Rufer, große Punkte = mehrere Rufer
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Abb. 8: Detailkarte vom Wassergewinnungsgelände in der Nähe der B27

Der Wachtelkönig ist vor allem auf Grund seines Verbreitungsareals mit mehr als 50 % der Weltpopulation in Europa sowie seines aktuellen Gefährdungsstatus eine Brutvogelart, für die die einzelnen europäischen Staaten eine besondere Verantwortung tragen. In der EU-Vogelschutzrichtlinie wird diesen Tatsachen Rechnung getragen, indem er Aufnahme in die Liste der besonders zu schützenden Arten gemäß Art. 4, Abs. 1 (Anhang I) fand.
Lebensräume des Wachtelkönigs sollten demgemäß während der Brutzeit und der Phase der Jungenaufzucht von Beeinträchtigungen möglichst frei bleiben. Ein Biotopmanagement mit der entsprechenden Pflege- und Entwicklungsplanung ist vor allem für solche Bereiche anzustreben, zu denen die Art eine offensichtliche traditionelle Bindung besitzt bzw. eine solche sich zu entwickeln scheint, ebenso für Flächen, auf denen überdurchschnittliche Abundanzen nachgewiesen wurden.
Der Einflug im Bereich der Stadt Göttingen fand offensichtlich nach der normalen Heimzugphase statt. Es ist zu vermuten, dass diese Wachtelkönige zuvor anderenorts Reviere besetzt hatten bzw. die kaum nachweisbaren Weibchen dort auch bereits mit der Brut begonnen hatten. Ungeklärt ist, woher die Vögel stammen.
Die Rufphasen der Männchen in den Göttinger Revieren – sofern sie ausreichend dokumentiert wurden – deuten zumindest teilweise darauf hin, dass Verpaarungen erfolgten. Die Rufaktivität hält etwa zwei bis vier Wochen an, bei spät im Brutgebiet eintreffenden Vögeln ist sie kürzer. Unverpaarte Männchen rufen länger oder wandern ab. Beide Geschlechter sind polygam und können sich in einer Saison mehrfach verpaaren.
Die Hauptgefährdungsursachen für den Wachtelkönig sind Lebensraumverluste und die konventionelle agrarische Bewirtschaftung. Der regionsweise katastrophale Rückgang der Bestände in den Jahrzehnten vor 1990 war in erster Linie auf großflächige Habitatverluste zurückzuführen. Neue Reproduktionshabitate entstanden in der Folge durch Flächenstilllegungen, aber auch durch das Aufblühen der ökologischen Landwirtschaft. Es ist allerdings absehbar, dass die Förderung des Anbaus nachwachsender Rohstoffe eine Trendumkehr bewirken wird.
Zu frühe Mahdtermine sowie gleichzeitig großflächige Mahd können den Bruterfolg ganzer Populationen zunichte machen. Ausbleibender Reproduktionserfolg ist somit regional der Hauptgefährdungsfaktor. Umso wichtiger ist der Schutz der Wachtelkönige auf Flächen, in die sie sich nach Verlust der Erstgelege noch zurückziehen können.

G. Brunken

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