Vom Kühlschrank ins Solarium: Heimzug und Brutzeit in Süd-Niedersachsen, März bis Juni 2008

Das Frühjahr begann mit einem kalten März und Schneefällen bis in die letzte Dekade ausgesprochen ungemütlich. Erst ab Mitte April setzte wärmeres Frühlingswetter ein. Der Mai fiel dagegen überdurchschnittlich warm und außergewöhnlich trocken aus. Im Juni sorgten kurze Regenperioden und vereinzelte Wärmegewitter endlich für die lang ersehnten Niederschläge.

Ein Prachttaucher im 2. Kalenderjahr hielt sich am 12.5. auf dem Seeburger See auf.

Auf dem Göttinger Kiessee rastete am 25.4. ein Ohrentaucher im Prachtkleid – der erste dort seit 1981. In den Schwanengesang der hinteren Tongrube am Siekgraben bei Rosdorf, die seit dem vergangenen Jahr verfüllt wird, mischte sich ab Mitte April das Balztrillern von Zwergtauchern. Ihnen gelang bis dato eine erfolgreiche Brut mit einem schon recht großen Jungvogel; eine Folgebrut ist in Arbeit. Zuletzt konnte sich diese regional seltene Brutvogelart im Göttinger Umland 1993 an den Tongruben Ascherberg reproduzieren.

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Abb. 1+2: Ohrentaucher im Prachtkleid am Göttinger Kiessee und vorjähriger Prachttaucher am Seeburger See.

Göttingens erster Kuhreiher zog am 30.6. über die Reinhäuser Landstraße nach Süden.

In der Rhumeaue bei Bilshausen wurden vier Graureihernester mit Jungvögeln gefunden. Möglicherweise sind die Altvögel Umsiedler der kleinen Kolonie an den Thiershäuser Teichen bei Gillersheim, die nahezu erloschen ist.

Der dickfellige Silberreiher vom Göttinger Kiessee hielt es bis zum 25.4. aus.

Ein Löffler legte am 27.4. einen kurzen Zwischenstop am Seeanger ein. Damit liegt für den Landkreis Göttingen der zweite Nachweis dieser Art vor, der erste betrifft einen vom 17. bis 20.6.1987 in der Kiesgrube Ballertasche bei Hann. Münden rastenden Vogel.

Eine Blässgans übersommert im Seeanger bzw. an der Geschiebesperre Hollenstedt.

Die exotische Nilgans ist weiterhin auf Expansionskurs. Während eine Pionierbrut an der Kiesgrube Reinshof im kalten März mit bereits geschlüpften Jungvögeln scheiterte, hat sie sich am Levin-Park erfolgreich als neuer Göttinger Stadt-Brutvogel niedergelassen. Interessanterweise gelang es dem Weibchen (das Männchen war frühzeitig verschwunden), seine sieben, später nur noch vier Jungen vor den Attacken der aggressiven Höckerschwäne zu schützen: die Jungen versteckten sich auf der kleinen Insel, während der Altvogel den Schwan ablenkte – und dann für einige Zeit einfach davonflog. Graugänse sind bei der Jungenverteidigung weniger einfallsreich und verlassen ihren Nachwuchs unter keinen Umständen. Die letale Vereitelung aller Graugansbruten an diesem kleinen Gewässer durch den weißen Terminator ist damit programmiert.

Im Levin-Park hielt sich bis weit in den Frühling ein männlicher Hybrid Braut- x Stockente („Brockente“) auf, der selbst unter den kreuzungsfreudigen Tauch- und Schwimmenten etwas Besonderes ist, weil Vertreter zweier nicht besonders nah verwandter Gattungen (Aix und Anas) an seiner Zeugung beteiligt waren.

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Abb. 3: Neuer Göttinger Stadtbrüter: Nilgans im Levin-Park. Foto: N. Vagt

In der Struth bei Weißenborn (Gemeinde Gleichen) brütet ein gemischtes Paar aus Rot- und Schwarzmilan. Zum Beginn der Brutzeit wurde dort auch ein vorjähriger Vogel gesehen, der phänotypische Merkmale eines Hybriden aufwies. Im EU-Vogelschutzgebiet V 19 („Unteres Eichsfeld“), das auf 130 km² zum besonderen Schutz des Rotmilans eingerichtet wurde, ist es um die Flaggschiffart schlecht bestellt. Elf von 16 Bruten, die zudem gegenüber den Vorjahren einen erheblich geringeren Bestand anzeigen, wurden bereits aufgegeben. Durch den vermehrten Raps- und Wintergetreideanbau in Kombination mit dem Verlust von Brachen und mäusereichen Randstrukturen hat sich die Ernährungslage für die Vögel katastrophal verschlechtert.

In der Umgebung des Wendebachstaus wurden im Mai drei Wiesenweihen (darunter auch ein melanistisches Individuum) gesehen, die sich jedoch alle noch auf dem Heimzug befunden haben dürften.

Vom spektakulären Rotfußfalken-Einflug in West- und Mitteleuropa wurde unsere Region nur leicht touchiert: am 10.5. hielt sich ein Männchen im Leinepolder Salzderhelden auf, ein Weibchen jagte am 24.5. über dem Modellflugplatz in der Suhleaue zwischen Seulingen und Germershausen.

Fischadlerbeobachtungen in der dritten Maidekade und im Juni am Seeburger See und an den Northeimer Kiesteichen könnten sich auf einen Vogel beziehen, der in der Region übersommert.

Wachteln wurden, was Wunder bei dem warmen Mai- und Juniwetter, vermehrt gehört. Im traditionellen Verbreitungsschwerpunkt Feldmark Geismar und Diemardener Berg balzten bis zu acht Männchen gleichzeitig.

Am 6.6. riefen im Leinepolder Salzderhelden neun Wachtelkönige. Abseits ihrer Hochburg ließen Männchen ihr Knarren auch in der Feldmark Geismar, im Seeanger (zwei) und in der Rhumeaue bei Bilshausen vernehmen.

Über den vom Orkan „Kyrill“ im vergangenen Jahr in den Bramwald geschlagenen Schneisen und Windwurfflächen balzten fünf  Waldschnepfen-Männchen, aber nur dort, wo die Forstmänner noch nicht für Ordnung gesorgt hatten. Offenflächen im Wald sind selten geworden – schlechte Zeiten für diese faszinierende Limikolenart, deren Brutbestand im Landkreis Göttingen dramatisch zurückgegangen ist und in den meisten Jahren gegen Null tendiert.

Am 12.5. lieferten 11 Temminckstrandläufer im Seeanger ein passables Maximum, während vier Zwergstrandläufer am 15.5. ebenda für den Heimzug recht üppig sind.


Eine Mittelmeermöwe im 2. Kalenderjahr wurde am 12.5. zusammen mit einer alten Steppenmöwe am Seeburger See gesehen. Eine Steppenmöwe im 2. Kalenderjahr zeigte am 23.5. am Kiessee den Erstnachweis dieser Art für das Göttinger Stadtgebiet an.


Eine Raubseeschwalbe geriet am 2.5. an der Geschiebesperre Hollenstedt und im Seeanger ins Blickfeld dreier Beobachter. Mit hoher Wahrscheinlichkeit hat es sich um denselben Vogel gehandelt.

Am 19.6. jagte über dem Kiessee die erste Göttinger Zwergseeschwalbe seit 1964.

Auch die Turteltaube hat von den Verwüstungen durch „Kyrill“ profitiert. Gleich drei Männchen wurden am 1.6. an der Langen Bahn im Bramwald gehört.

Ein Wiedehopf verhielt sich am 21.4. an den Northeimer Kiesteichen recht heimlich, konnte aber dennoch fotografisch belegt werden.

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Abb. 4: Wiedehopf-Suchbild Foto: W. Kühn

Der einzige Brachpieper der Heimzugsaison wurde, recht spät, am 11.5. auf dem Kerstlingeröder Feld gesichtet.

Eine weibliche Bachstelze, die sich Anfang April am Göttinger Kiessee aufhielt, zeigte phänotypische Merkmale der vor allem in Großbritannien heimischen Unterart yarrellii („Trauerbachstelze“).

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Abb. 5: (Trauer-)Bachstelze am Kiessee Foto: V. Hesse

Am 6.6. demonstrierten im Leinepolder Salzderhelden sieben männliche Braunkehlchen Revierverhalten.

Wie im Vorjahr schritten in der Rhumeaue bei Bilshausen Schwarzkehlchen zur Brut. 2008 gab es sogar erfolgreiche Bruten von zwei Paaren mit vier bzw. zwei flüggen Jungvögeln. Die letzte Brut zuvor datiert aus dem Jahr 1998 vom Grenzstreifen bei Ecklingerode (Duderstadt). Angesichts seiner allgemeinen bundesweiten Bestandszunahme wird uns dieser pummelige Sympathieträger (hoffentlich) noch die eine oder andere Überraschung bescheren.

In der Feldmark bei Gieboldehausen zeigte ein Steinschmätzer-Paar an einer Lesestein-Aufschüttung brutverdächtiges Verhalten. Über den weiteren Verlauf dieses Ansiedlungsversuchs, des ersten seit knapp zehn Jahren in der Region, ist leider nichts bekannt.

In der Rhumeaue bei Bilshausen waren zwei Reviere des Schlagschwirls besetzt. Dagegen wurde bis jetzt kein einziger Rohrschwirl vernommen.

Am Seeburger See sangen bis weit in den Juni zwei, ab und an sogar drei Drosselrohrsänger. An der Geschiebesperre Hollenstedt hat ein Schilfrohrsänger-Männchen ein Gesangsrevier bezogen. Auf dem Heimzug trat die Art spärlicher auf als sonst. Der Teichrohrsänger hat sich in diesem Frühjahr geradezu rar gemacht. Im Schilfgürtel des Seeburger Sees sind maximal nur 15 bis 20 Reviere besetzt, die einen dramatischen Bestandseinbruch markieren. Auch im Göttinger Stadtgebiet machte sich der Rückgang (nur ca. 40 Prozent der langjährigen Revierzahlen) bemerkbar. Kurzfristige lokale Schwankungen, auch extreme, sind jedoch besonders für Weitstreckenzieher nicht untypisch und müssen deshalb nicht unbedingt einen anhaltenden Trend anzeigen. Die weitere Entwicklung sollte aufmerksam verfolgt werden.

Es geht aber auch anders: Wo kamen in diesem Frühjahr bloß die vielen Gartengrasmücken her? Nicht nur an den äußeren Göttinger Grüngürteln und in den Fließgewässerauen, sondern auch in kleinen Gebüschgruppen in der Feldmark traten singende Männchen außergewöhnlich häufig auf. Auch dieses Phänomen harrt der Erklärung. Möglicherweise ist die Gartengrasmücke ein Gewinner der allgemeinen Eutrophierung, die für verstärkten Gebüsch- und Gehölzaufwuchs bzw. dessen Verdichtung sorgt.

Am 10.5. rauschten die Wipfel der Baumreihe zwischen Kiessee und Flüthegraben im Takt der klangvollen Strophen eines singenden Zwergschnäppers. Das schlichtgefärbte Männchen war für dieses Gebiet der erste Repräsentant seiner Art seit 1986. Aus jenem Jahr stammen auch die beiden letzten anderen regionalen Beobachtungen, die im Niemetal und in der Billingshäuser Schlucht bei Nikolausberg gelangen.

Die aus Funk und Fernsehen bekannte Parole „Vögel füttern – aber richtig!“ befolgten Blattläuse auf ihre Weise und legten eine spektakuläre Massenvermehrung ins Laubwerk. Der anschließende Mega-Bruterfolg einiger Kleinvögel, unter denen Kohl-, Blau- und Schwanzmeise sowie die Mönchsgrasmücke besonders hervorzuheben sind, wäre auch mit der aufwendigsten Bestückung von Futterhäusern zur Brutzeit nicht zu erzielen gewesen.

Singende Pirole machten am 12.5. am Seeburger See und am 29.5. am Göttinger Kiessee auf sich aufmerksam.

Neuntöter kamen spät, aber gewaltig. Auf dem Kerstlingeröder Feld wurde am 17.6. ein Rekordbestand von 22 revieranzeigenden Männchen ermittelt.

Ungewöhnlich spärlich trat in diesem Frühjahr der Girlitz in Göttingen in Erscheinung. Auf dem Stadtfriedhof, wo er sonst mit bis zu 15 Revieren besonders häufig ist, bestanden nur drei bis vier Reviere. Dieser wärmeliebende Lichtwald-Finkenvogel weist, trotz Klimaerwärmung, seit Jahren einen anhaltend negativen Trend auf. Viele seiner Brutplätze haben mittlerweile ein dunkelwaldähnliches Erscheinungsbild angenommen. Zudem ist der Girlitz erst seit ca. 120 Jahren Göttinger Brutvogel – ein Wimpernschlag in der wechselvollen Naturgeschichte einer Vogelart.

Der einzige Ortolan wurde am 29.4. in der Feldmark Geismar gesehen.

H. H. Dörrie und S. Paul

Nach Daten von R. Aramayo, G. Brunken, H. Dörrie, K. Dornieden, M. Drüner, C. Grüneberg, U. Heitkamp, V. Hesse, A. Jünemann, H.-A. Kerl, F.-J. Lange, S. Paul, D. Radde, M. Schuck, M. Siebner, N. Vagt & W. Kühn