Vom Leben und Sterben in Eis und Schnee – der Winter 2009 in Süd-Niedersachsen

Der Winter 2009 war einer der härtesten der jüngeren Regionalgeschichte und machte den südlichen Landeszipfel zum Kältepol Niedersachsens. Zwar fiel er nicht besonders schneereich aus, doch sorgte eine ab dem 31.12.2008 über 15 Tage anhaltende Periode strengen Dauerfrosts mit Nachttemperaturen von bis zu – 24°C dafür, dass sogar die Leine stellenweise zugefroren war. Die Geschiebesperre Hollenstedt war bis auf das schmale Flussbett mit einem dicken Eispanzer bedeckt, ebenso alle Stillgewässer. Am Göttinger Kiessee blieben wegen des Leine-Zulaufs selbst auf dem Höhepunkt der Kältewelle noch ca. 250 m² eisfrei und ermöglichten damit einigen Wasservögeln das Überleben.
Mit Sicherheit war dieser Kältewinter, trotz langsam steigender Jahresdurchschnittstemperaturen, aber nicht der letzte und man fragt sich, was einen gleichermaßen schrulligen wie medienbewussten Starornithologen in der sehenswerten WDR-Sendung „Quarks & Co.“ vom 17.3.2009 zu der grotesken Vermutung getrieben haben mag, dass es im Jahr 2100 nur noch Standvögel geben wird. Sind die Ergebnisse von Kreuzungsexperimenten mit nah- und weitziehenden Mönchsgrasmücken in Volierenhaltung wirklich ohne weiteres auf die freie Wildbahn mit all ihren Unwägbarkeiten und auf obligatorische Transsaharazieher wie, sagen wir mal, Wespenbussard, Baumfalke, Mauersegler, Brachpieper, Fitis und Sumpfrohrsänger übertragbar? Zweifel daran sind aus fachlicher Sicht mehr als berechtigt; sie gelangen aber mangels plakativer Verwertbarkeit durch die Massenmedien nur selten an die Öffentlichkeit…

Zum erstenmal waren in der Region Winterverluste des Silberreihers zu beklagen: An der Geschiebesperre Hollenstedt und am Wendebachstau bei Reinhausen gerieten verendete Einzelvögel ins Blickfeld. Zudem war der Winterbestand mit ca. zehn Ind., darunter wiederum ein „zutraulicher“ Göttinger Stadtreiher, erheblich geringer als in den Vorjahren.

Anfang März lagen in der Feldmark Germershausen zwei verhungerte Graureiher in nur 50 Meter voneinander. Sie machten vermutlich nur einen kleinen Prozentsatz der wirklichen Verluste aus, denn zu der Kälte gesellte sich auch das geringe Mäuseaufkommen aus dem schlechten Vorjahr.

Dagegen erfreuten sich die bis zu 21 überwinternden Singschwäne im Umfeld der Northeimer Kiesteiche bester Gesundheit.

Die Gänsezahlen stiegen im neuen Jahr deutlich an: Bis zu 900 Saatgänse der Unterart rossicus („Tundrasaatgans“) bevölkerten zusammen mit bis zu 250 Blässgänsen die Umgebung der Geschiebesperre Hollenstedt. Graugänse erreichten mit 2400 Ind. am 27.1. ebenda ein neues Maximum. Unter ihnen befanden sich nicht nur die beiden auf Rügen markierten Ind. von der Kiesgrube Reinshof aus unserem Herbstbericht, sondern auch ein Gast südöstlicher Herkunft, der am 7.6.2008 als Jungvogel ca. 100 km südlich von Prag (Tschechische Republik) mit einer Halsmanschette (B 14) versehen worden war.

Während die robusten Wildgänse mit den harschen Bedingungen vergleichsweise gut zurechtkamen, hatte die ursprünglich afrikanische Nilgans Probleme: Von der Geschiebesperre Hollenstedt liegen mehrere Totfunde vor.

Ca. 120 Pfeifenten schafften es, an den grünlandreichen Ufern der schnellfließenden Rhume nahe Northeim zu überwintern – ein Phänomen ohne Präzedenz, das aber mit den steigenden Winterzahlen der letzten Jahre gut in Einklang zu bringen ist. Zwei Trauerenten rasteten Mitte Dezember am Großen See/ Northeimer Kiesteiche nur für wenige Tage und suchten lange vor dem Zufrieren des Gewässers wieder das Weite.

Die meisten Gänsesäger des Winters wurden am kleinen Göttinger Kiessee beobachtet, sie erreichten dort mit 65 Ind. am 25.2. das Maximum.

Ausgesprochen mager fiel für das dritte Jahr in Folge der Winterbestand der Kornweihe aus: Fast alle Beobachtungen betrafen ein adultes Weibchen im Leinepolder Salzderhelden.

Interessant und ermutigend ist das Ergebnis der diesjährigen Rebhuhn-Zählung im Landkreis Göttingen durch das Zentrum für Naturschutz der Uni von Ende Februar bis Mitte März. Im Vergleich zum Vorjahr hat sich die Zahl der rufenden Vögel auf der 90 km² großen Kartierfläche östlich der Leine um ca. 25 Prozent auf 275 Ind. erhöht. Den größten Zuwachs gab es in Gebieten (z.B. südliche Göttinger Feldmark und Feldmark um Nesselröden) mit besonders vielen rebhuhngerecht angelegten Blühstreifen. Die positive Entwicklung zeigt aber auch die offenkundig geringen Auswirkungen des Kältewinters auf diese Vogelart. Wäre er schneereicher ausgefallen, hätte es vermutlich schlimmer ausgesehen.

Leider gab ein beringtes Blässhuhn vom 7.2. am Göttinger Kiessee die Herkunft seines Beinschmucks nicht preis. Zugfahrplangemäß verlief ab dem 10.2. der Heimzug des Kranichs. Vor allem zwischen dem 25. und 28.2. zogen Zehntausende über Göttingen, die meisten von ihnen aber, wie üblich, in der Dunkelheit und daher nicht zählbar.

Von Ende November bis Mitte Dezember versuchten zwei Zwergschnepfen an den Northeimer Kiesteichen zu überwintern. Den sinkenden Temperaturen und einsetzenden Schneefällen wichen sie (hoffentlich) nach Süden aus. Ob dies auch dem optimistischen Flussuferläufer mit (wahrscheinlich) mehrjähriger Überwinterungstradition gelungen ist, kann man nur wünschen: Er wurde Mitte Dezember letztmalig an der Geschiebesperre Hollenstedt gesehen.

Winterliche Steppenmöwen gerieten mit jeweils zwei Ind. am 28.2. im Leinepolder Salzderhelden sowie am 1.3. am Göttinger Kiessee (zweiter Lokalnachweis) ins Visier.

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Abb. 1: Steppenmöwe im 2. Kalenderjahr am Göttinger Kiessee Foto: M. Siebner

Immerhin drei Grünspecht-Paare haben in Göttingen überlebt, und zwar am Kiessee, am Nikolausberger Weg und in der Umgebung des Levin-Parks. Über den aktuellen Status der Population außerhalb Göttingens liegen leider keine Angaben vor.

Als veritable Katastrophe erwies sich der Kältewinter für den Eisvogel. In der Region hat mit hoher Wahrscheinlichkeit keiner überlebt. Am 15.1. wurde ein totes Ind. an der Reinsrinne im Alten Botanischen Garten/Göttinger Innenstadt gefunden. Zur gleichen Zeit ereilte einen Art- und Leidensgenossen in Mingerode das gleiche Schicksal. Obwohl er zunächst an einem offengehaltenen Gartenteich mit vielen Kleinfischen sein Auskommen hatte, wurde er immer schwächer. Schließlich saß er apathisch im Schnee, den Schnabel am Gefieder festgefroren. Auch das kurzzeitige Auftauen in einem Gartenhaus verlängerte seine Lebensfrist nur um einen Tag. Dies deutet darauf hin, dass extrem niedrige Temperaturen den Vögeln auch bei ausreichendem Nahrungsangebot den Garaus machen (können). Gleichwohl ist davon auszugehen, dass der regionale Bestand in zwei bis drei Jahren wieder seine alte Größe erreicht haben wird. Zum einen war es anderswo in Niedersachsen und Deutschland nicht ganz so kalt wie bei uns, so dass Zuzug aus anderen Regionen möglich ist, zum anderen könnten einige süd-niedersächsische Jungvögel andernorts erfolgreich überwintert haben und wohlbehalten wieder zurückkehren, und zum dritten sind die Rahmenbedingungen für eine Bestandserholung immer noch recht günstig.

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Abb. 2: Eisvogel Foto: M. Siebner

Dass es in der heimischen Vogelwelt harte Gesellen gibt, die sich durch nichts erschüttern lassen, belegte auf eindrucksvolle Weise ein Waldkauz-Paar nahe dem Nikolausberger Weg und Nonnenstieg in Göttingen. Es muss um den 10.1., also während der größten Kälte, zur Brut geschritten sein, denn es präsentierte am 20.3. drei ca. 40 Tage alte quietschfidele Jungvögel, die überwiegend mit erbeuteten Singvögeln gefüttert wurden und bereits in den Baumkronen umherflogen, dies allerdings noch recht unbeholfen. Winterbruten des Waldkauzes sind ohnehin ungewöhnlich; im süd-niedersächsischen Bergland dürften sie eine extrem seltene Ausnahme sein, zumal unter solch widrigen Witterungsverhältnissen.

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Abb. 3: Junge Waldkäuze nahe dem Nikolausberger Weg Foto: M. Siebner

Ungewiss war das weitere Schicksal einer Gebirgsstelze, die es bis in die zweite Januar-Dekade in der Göttinger Innenstadt aushielt und, in Ermangelung eisfreier Gewässer, vorwiegend auf Hausdächern nach Nahrung suchte.

Ob die männliche Mönchsgrasmücke, die am 24.1. nahe dem Waldkauz-Brutplatz dem Winter trotzend gesehen wurde, ihre Gene weitergeben wird, um die Art in Windeseile zum Standvogel zu befördern, muss offenbleiben; ebenso, ob dies auch den beiden Hausrotschwanz-Männchen gelingen kann, die am 15.12. im Göttinger Industriegebiet und am 5.1. auf dem Uni-Campus registriert wurden. Dies trifft auch auf die versuchte Überwinterung von zwei bis drei Heckenbraunellen am Göttinger Güterbahnhof zu.

Bedenklich stimmt, dass bis dato (23.3.) der Heimzug von Hausrotschwanz und Zilpzalp in ungewöhnlich geringen Zahlen verlief. Dies könnte auf gravierende Verluste in den südwesteuropäischen Überwinterungsgebieten in Frankreich und Spanien, wo es zeitweise ebenfalls empfindlich kalt war, hindeuten, sollte aber nicht vorschnell als gesichertes Faktum kolportiert werden. Vielleicht treffen die Vögel ja nur etwas später ein als sonst.

Seidenschwänze traten in ihrer Hochburg Göttingen in eher durchschnittlicher Zahl auf und widerlegten damit aufs neue den populären Irrglauben, dass sie gerade in kalten Wintern vermehrt einfliegen – dabei sind es vor allem die Wechselfälle im Reproduktionserfolg und Winternahrungsangebot (Beeren) in der Heimat der Vögel, die für Einflüge bzw. deren Ausbleiben sorgen. Größere Trupps von bis zu 160 Ind. erlangten vor allem von Mitte Februar bis Mitte März die Aufmerksamkeit der Beobachter. Außerhalb des engeren Göttinger Stadtgebiets traten die nordischen Schönheiten im Ortsteil Nikolausberg und in Billingshausen in Erscheinung. Ihre Gesamtzahl kann auf ca. 800 Ind. beziffert werden.

Starke Verluste haben, zumindest am südlichen Göttinger Stadtrand, auch Zaunkönig und, nicht ganz so heftig, Rotkehlchen erlitten – trotz der überall installierten Fütterungen, die diesen Arten mit hohem Insektenanteil der Nahrung aber nur wenig helfen.

Dagegen scheint der Bestand der Schwanzmeise interessanterweise keinen dramatischen Rückgang erfahren zu haben, während Wintergoldhähnchen zum Ende des Winters kaum noch aufzufinden waren. Wie man sieht, lassen sich die Vögel nicht über einen Kamm scheren. Natürlichen Phänomenen sollte immer mit einer differenzierten Sichtweise begegnet werden. Und mit diesem schlichten Sinnspruch von zeitloser Gültigkeit entlassen wir Mensch und Vogel in den Frühling, der sich hoffentlich bald einstellt.

H. H. Dörrie und S. Paul

Die Zusammenstellung erfolgte nach Daten von: W. Beeke, G. Brunken, H. Dörrie, E. Gottschalk, C. Grüneberg, V. Hesse, Herrn Klömme, G. Köhler, S. Paul, I. Schmidt, M. Siebner, A. Stumpner, P. Trumpf, N. Vagt. Vielen Dank!