Das Birdrace 2009 im Göttinger Land

Ist man auf ewig dazu verdammt, in einer trostlosen Wiederholung von Kalamitäten zu vegetieren – gebeutelt von kapitalistischen Krisen, hinters Licht geführt von den Herrschenden, angeekelt vom klebrigen Auswurf der Unterhaltungsindustrie? Und sind es im Grunde nicht immer die gleichen Vogelarten, die als sogenannte Seltenheiten unsere Region beehren? Gibt es wirklich nichts Neues unter der Sonne? Auf diese existentielle Frage hat das in drei Niederlagen gestählte Quartett der “Göttinger Sozialbrachvögel” (Hans H. Dörrie, Christoph Grüneberg, Mathias Siebner und Frontfrau Nikola Vagt) jetzt eine Antwort erhalten. Sie lautet: Nein! Zum ersten Mal wurden wir nämlich nicht gedemütigt! 113 Vogelarten in ca. 18 Stunden sind für einen kleinen Ausschnitt des tiefen Binnenlands ein passables Ergebnis. Es kam vor allem deshalb zustande, weil, anders als im Vorjahr, das Hainholz und der ehemalige Truppenübungsplatz Kerstlingeröder Feld wieder in die Rennstrecke einbezogen wurden.

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Abb.1: Die “Göttinger Sozialbrachvögel” im Reinhäuser Wald

Mit den alteingesessenen “Sozialbrachvögeln” startete in diesem Jahr das Team “Resteküche” (Mischa Drüner, Volker Hesse und Silvio Paul). Der kryptisch anmutende Name des Trios basiert auf dessen personeller Zusammensetzung aus Kombattanten früherer Teams (u.a. “Feuchtkehlchen” und “Ave Göttingen!”), die ihre Kampfkraft durch Wegzug ins Ausland oder in abgelegene deutsche Regionen eingebüßt hatten. Auch die “Resteküche” brachte es auf 113 Arten. Sie konnte aber mit sensationellen 28 Unterstützer/innen, die 475,50 € für die Arbeit am bundesdeutschen Brutvogelatlas ADEBAR berappen, das Spendenaufkommen der “Sozialbrachvögel”, die vom Göttinger Outdoorladen “Bergwelt” mit 50 € befeuert wurden, weit hinter sich lassen und Platz 10 in der Spendenrangliste erobern. Bezogen auf das Artenergebnis belegten beide Teams unter den 132 teilnehmenden Formationen einträchtig den achtbaren 39. Platz (alle Ergebnisse mit Artenlisten auf der Homepage des Dachverbands Deutscher Avifaunisten dda-web.de).

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Abb. 2: Die “Resteküche” am Seeburger See

Ausgesprochen erfolgreich verlief diesmal die Suche nach Spechten: Bunt-, Mittel-, Grau-, Grün- und Schwarzspecht sowie der Wendehals gelangten auf die Listen beider Teams. Vier Eulenarten (Schleiereule, Waldohreule, Waldkauz und Uhu) zeigen, dass sogar in der Dunkelheit noch eifrig beobachtet wurde. Die nervenaufreibend quietschenden jungen Waldkäuze aus der spektakulären Winterbrut am Nikolausberger Weg waren für die “Sozialbrachvögel” gegen 22.45 Uhr der krönende Abschluss eines entspannten Rennverlaufs in ausgesprochen harmonischer Atmosphäre. Mit einem Eisvogel an der Leine unweit der Kiesgrube Reinshof konnte das Traditionsteam zudem nicht nur eine Art verbuchen, die der “Resteküche” fehlte, sondern, was noch erfreulicher ist, auch dokumentieren, dass der “Vogel des Jahres” 2009 nach dem harten Winter offenbar nicht gänzlich aus unserer Region verschwunden ist. Dass von beiden Teams kein Zwergtaucher gesehen wurde, könnte ebenfalls auf hohe (nur regionale?) Winterverluste dieser empfindlichen Art hindeuten.
Bedenklich stimmt, dass nur ein einziger Teichrohrsänger gesehen wurde, und zwar von der “Resteküche” an der Sandgrube Meensen. Ob dies einen verspäteten Heimzug anzeigte oder einen überregionalen Bestandsrückgang (der lokal am Seeburger See evident ist), bleibt abzuwarten. Auf jeden Fall passen solche Beobachtungen rein gar nicht zu plakativen Wortmeldungen von Experten der Heinz-Sielmann-Stiftung, darunter auch eine zum mitteilungsfreudigen Boulevardornithologen mutierte frühere Koryphäe, dass wegen der Klimaerwärmung “die Zugvögel einen Monat früher zurückkommen” (vgl. “Göttinger Tageblatt” vom 8.3.2008). Auch das Fehlen von Gelbspötter, Neuntöter und Turteltaube, vom Sumpfrohrsänger ganz zu schweigen, legt nahe, dass der produktive Beitrag steigender Jahresdurchschnittstemperaturen zum Birdrace noch auf sich warten lässt.
Von beiden Teams schmerzlich vermisst wurde der putzige Mandarinerpel “Cheech” vom Göttinger Kiessee, der in den letzten Jahren – als Vertreter einer dauerhaft eingebürgerten Art – immer für einen sicheren Tick auf der Artenliste gut war. Ob er wohl jemals wieder auftaucht? Regional oder jahreszeitlich ungewöhnliche Beobachtungen gab es nur wenige, wozu sicherlich auch das warme, sonnige und windstille Wetter beigetragen hat, dass kaum einen gefiederten Migranten in tiefere Luftschichten oder gar zu Boden respektive aufs Wasser zwang. Silberreiher, Fischadler, Mittelmeermöwe, Regenbrachvogel und ein später Goldregenpfeifer sorgten dennoch für ein wenig Würze in der Tagessuppe. Die beiden Letztgenannten wurden, neben zahlreichen anderen Vögeln, nahe dem Lutteranger von einem Ballonfahrer aufgescheucht, dessen ungewöhnlich niedrige Flughöhe seinen IQ nachgerade demonstrativ widerspiegelte.
Fazit: Das mittlerweile traditionelle Rennen zum eigenen Vergnügen (den opulenten Verzehr regionaler Wurstspezialitäten und einiger gekochter Haushuhngelege eingeschlossen!) und für einen guten Zweck hat allen wieder richtig Spaß gemacht. Ab sofort darf darüber spekuliert werden, wer und in welcher Zusammensetzung 2010 gegen die “Sozialbrachvögel” zu Felde ziehen wird…

H. H. Dörrie