Süd-Niedersachsens zweiter Eistaucher : ein kleines Lehrstück für Anfänger (und Fortgeschrittene)

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Abb. 1: Eistaucher im ersten Kalenderjahr an der Kiesgrube Reinshof. Foto: M. Siebner

Nach einem total verregneten und deshalb fast „vogelfreien“ Samstag zog es Hans-Jürgen Thorns (Göttingen-Groß Ellershausen) am darauf folgenden Sonntag, dem 14.11.2010 gegen 7.30 Uhr an die Kiesgrube Reinshof südlich von Göttingen. Das Wetter war mit 14°C und einer föhnigen Brise aus Südwest angenehm frühlingshaft. Ein paar Tage zuvor gab es an dem ca. neun Hektar großen Abbaugewässer einen bunten Gänsemix zu sehen, u.a. mit diesjährigen Blässgänsen wie aus dem Bilderbuch.

Dieses Mal verlief der Rundgang zunächst eher unspektakulär: Eine Höckerschwan-Familie, ein paar Stockenten, eine Reiherente und zwei Dutzend Blässhühner dominierten das schmale Artenspektrum. Knapp 50 Graugänse, die in kleinen Trupps einflogen, machten viel Lärm um was auch immer.

Dann aber geriet gegen 8.30 Uhr im Nordostbereich der Kiesgrube für wenige Sekunden ein großer Taucher ins Blickfeld, der sofort wieder abtauchte. War es ein Sterntaucher (Gavia stellata)? Minuten später – und mindestens 100 m weiter südlich – war er wieder ganz kurz zu sehen. Nach drei weiteren Tauchgängen hielt er sich bereits am Südende auf, wo er sich zum ersten Mal richtig betrachten und fotografieren ließ, bevor er wieder Richtung Norden abtauchte. Hier kam er langsam zur Ruhe, zeigte ein paar Mal das typische „Wasserlugen“ und schwamm dann weiter in den nördlichen, neu ausgebaggerten Bereich. Dort stand inzwischen mit W. Kassebeer (Northeim) ein zweiter aufgeregter Beobachter. Er hatte zum Glück den Kosmos-Vogelführer (Svensson et al.) im Gepäck. Nach einem gemeinsamen Blick ins Buch schied der Sterntaucher wegen des geraden, klobigen Schnabels aus und die Vermutung ging in Richtung diesjähriger Prachttaucher (Gavia arctica), obwohl der dunkle Halskragen und der „Höcker“ auf dem Kopf HJT etwas skeptisch machten.

Erst zu Hause – nach einem erneuten Blick ins Buch und auf die Fotos – keimte bei HJT die Hoffnung auf eine dritte Seetaucherart: Eistaucher!? Ein Anruf bei Martin Schuck (Göttingen), und die Hoffnung erlitt einen Dämpfer: „ Ein Eistaucher? Weißt du, dass dies die zweite oder dritte regionale Sichtung überhaupt wäre? Na gut, Prachttaucher wäre auch mein erster für dieses Jahr. Ich fahre mal raus“. Eine Stunde später kam dann der Rückruf und die Bekräftigung: Es war tatsächlich ein diesjähriger Eistaucher, bestätigt nicht nur von Martin mit Hans H. Dörrie im Schlepptau, sondern auch von den etwas später eingetroffenen Herren Silvio Paul, Mathias Siebner (beide Göttingen) und Stefan Hohnwald (Rosdorf), die über das Handy bzw. die regionale Newsgroup avigoe.de alarmiert worden waren.

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Abb. 2: Eistaucher im ersten Kalenderjahr an der Kiesgrube Reinshof. Foto: M. Siebner

Auf den Fotos sind alle Merkmale eines Eistauchers (Gavia immer) im ersten Kalenderjahr gut zu erkennen: Der kräftige Dolchschnabel, der „eingedellte“ Kopf, der dunkle Halbring im Brustbereich, die Aufhellung ums Auge und, last but not least, die markante Wellenzeichnung des Rückens. An der Größe allein hätte man den Vogel nicht auf Artniveau bestimmen können, denn er war nicht viel größer als ein stämmiger Prachttaucher, zumindest wirkte er so.

Ob das binnenländische Auftreten des seltenen Gasts mit dem Sturmtief „Carmen“ zusammen hing, das in den Vortagen über Mittel- und Nordeuropa hinweg gezogen war, darf vermutet werden. Eistaucher brüten auf Inseln und Inselchen von Binnengewässern jeder Größe in Nordamerika, Grönland und (mit ca. 300 Paaren) Island. Sie überwintern in küstennahen Bereichen des Atlantiks und treten zu dieser Zeit in Europa vor Großbritannien, Irland und Nordwest-Frankreich in größerer Zahl auf. An Nord- und Ostsee bekommt man sie erheblich spärlicher zu Gesicht. Im deutschen Binnenland sind sie Ausnahmegäste mit, im Schnitt, einer buchstäblichen Handvoll Nachweisen pro Jahr. Ihre Seltenheit wird nur noch vom imposanten Gelbschnabeltaucher (Gavia adamsii) übertroffen (Bauer et al. 2005). Dieser besonders urtümlich anmutende Geselle – nach Größe, Gewicht und Heimatregion gleichsam der Nikolai Valujev unter den Seetauchern – fehlt bislang auf der Artenliste unseres Bearbeitungsgebiets.

Weniger bekannt ist, dass Normalbürger jeder geografischen Herkunft und Couleur, selbst wenn sie sich nicht die Bohne für Vögel interessieren, mit dem Eistaucher vertraut sind, allerdings unwissentlich. Wie das? Ganz einfach: Viele Kriminal- und Gruselfilme werden mit dem schaurig-schönen Balzwiehern des Eistauchers akustisch untermalt, ganz gleich wo ihre Handlung spielt bzw. wo sie gedreht wurden…

Wo auch immer „unser“ Eistaucher seinen Lebensweg angetreten bzw. -geschwommen haben mag: Er hatte offenkundig großen Hunger und tauchte ununterbrochen nach Fischen, erfreulicherweise mehrmals mit Erfolg. Dabei ließ er sich auch nicht von zwei Kanuten beirren, die an der Kiesgrube bis dato ebenfalls eine Ausnahmeerscheinung darstellten. Gegen 12.00 Uhr war er augenscheinlich satt. M. Siebner konnte noch beobachten, wie er sich ausgiebig putzte, ab und an mit den Flügeln schlug, einen großen Anlauf nahm und nach einer Ehrenrunde nach Norden davonflog. Weg war er. Eine derart kurze Verweildauer von nur knapp einem Vormittag hatte kaum jemand erwartet; der Frust der später herbeigeeilten Beobachter war entsprechend groß…

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Abb. 3: … und tschüss! Foto: M. Siebner

Fazit: Die kleine Kiesgrube Reinshof ist immer wieder einen Rundgang wert, vor allem während der Zugzeiten. Anerkannte Nachweise von Brandseeschwalbe (August 2000), Küstenseeschwalbe (April und Mai 2003), Schmarotzerraubmöwe (August 2000) und Dreizehenmöwe (drei Nachweise, der letzte im November 1997) belegen, dass dieses unspektakuläre Gewässer (auch) auf Vertreter von Vogelarten, die man normalerweise an den Gestaden der Nordsee vermuten würde, eine gewisse Anziehungskraft ausüben kann – man muss als Beobachter nur zum richtigen Zeitpunkt zur Stelle sein!

Mit dem Vogel vom 14.11.2010 liegt für Süd-Niedersachsen die zweite dokumentierte Beobachtung eines Eistauchers vor. Zur Beurteilung einer älteren, mangels Beschreibung nicht nachvollziehbaren Wahrnehmung vom 3. bis 5.12.1977 am Seeburger See (Brunken 1978) vgl. die Anmerkungen bei Dörrie (2000).
Der von der Deutschen Seltenheitenkommission anerkannte Erstnachweis betrifft einen Vogel im zweiten Kalenderjahr vom 12. bis 20.1.1991 auf dem Seeburger See (D. Wucherpfennig, K. Dornieden u.a. in DSK 1994). Er harrte bis zum nahezu kompletten Zufrieren des Gewässers aus und hielt sich durch beständiges Herumrudern eine Fläche von zuletzt nur noch knapp 15 Quadratmetern (!) eisfrei. Dabei wurde er von Beobachtern aus ganz Deutschland bestaunt und von einem Haubentaucher tatkräftig unterstützt.
Seetaucher (wie auch Schwäne) benötigen eine lange Startbahn, um ihren massigen Leib aus dem Wasser zu hieven. An Land sind sie wegen ihres Körperbaus, der an ein aquatisches Leben angepasst ist und sich u.a. durch kurze und sehr weit hinten am Rumpf liegende Beine auszeichnet, äußerst unbeholfen. Die düstere Prognose, dass der Taucher dem Festfrieren geweiht war, wurde zum Glück gegenstandslos: Am 20.1. konnten Fabian Bindrich (damals Hildesheim, heute Hamburg) und Dieter Oelkers (Hildesheim) verfolgen, wie er in einem finalen Kraftakt flügelschlagend über die kleine Wasserfläche lief, danach mit Schwung über das Eis, schließlich mühsam abhob und nach Nordwesten entschwand.

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Abb. 4: Kiesgrube Reinshof: ein Allerweltsgewässer, das manchmal Überraschungen bereithält. Foto: M. Siebner

Sein Artgenosse von der Kiesgrube Reinshof hat sich ein derart knappes Entkommen – und vielleicht auch das qualvolle Verenden an einer der zahlreichen, von gedankenlosen Sportanglern „vergessenen“ Schnüre samt Haken – durch frühzeitiges Verschwinden in die richtige Himmelsrichtung erspart. Für ihn war es sicher das Beste, obschon einige Beobachter, die leer ausgehen mussten, das sicher anders sehen…

Hans-Jürgen Thorns, Mathias Siebner & Hans-Heinrich Dörrie

Literatur

Bauer, H.-G., Bezzel, E. & W. Fiedler (Hrsg.) (2005): Das Kompendium der Vögel Mitteleuropas. Nonpasseriformes – Nichtsperlingsvögel. 2. Aufl., Aula-Verlag, Wiebelsheim

Brunken, G. (1978): Avifaunistischer Jahresbericht 1977 Seeburger See und Umgebung. Faun. Mitt. Süd-Niedersachsen 1: 235-258

Deutsche Seltenheitenkommission (DSK) (1994): Seltene Vogelarten in Deutschland 1991 und 1992. Limicola 8: 153-209

Dörrie, H.H. (2000): Anmerkungen zur Vogelwelt des Leinetals in Süd-Niedersachsen und einiger angrenzender Gebiete 1980-1998. Kommentierte Artenliste. Erweiterte und überarbeitete Fassung. Göttingen