Das Birdrace 2011 im Göttinger Land

Sonnenschein aus einem strahlend blauen Himmel bei 24°C, dazu ein leichter Ostwind – Kundige wissen, dass derart angenehm erscheinende Bedingungen für das Aufspüren von Vögeln alles andere als optimal sind. Dessen ungeachtet traten am 7. Mai zwei Göttinger Teams mit- und gegeneinander an: die seit 2005 alljährlich startenden „Sozialbrachvögel“ und, in ihrem zweiten Jahr, die „Leinehänflinge“. Mit 102 (Platz 90 bundesweit) zu 117 Arten (Platz 51) kassierten die „Sozialbrachvögel“ eine Niederlage, die als „krachend“ zu bezeichnen noch untertrieben ist. Ergebnisse und Namen der SponsorInnen können auf der Homepage des Dachverbands Deutscher Avifaunisten (DDA) im Einzelnen studiert werden.

Beide Teams verzichteten in diesem Jahr auf einen Besuch des Reinhäuser Waldes. Warum? Der langjährige Uhu-Brutplatz ist aus unbekannten Gründen verwaist. Direkt an einem Brutbaum des Sperlingskauzes, der auch dem Forstamt Reinhausen bekannt ist, wurde eine forstliche Versuchsfläche unter Einsatz von schwerem Gerät mit einem Metallzaun eingehegt und für Probeentnahmen aller Art hergerichtet. Kein Wunder, dass der Eulenzwerg daraufhin das Weite suchte. So viel zum vollmundig postulierten „Artenschutz“ in unseren Wirtschaftswäldern, in dessen Genuss, wenn überhaupt, offenkundig nur Vögel ab Schwarzstorchgröße kommen.
Die ehrgeizigen „Leinehänflinge“ ließen sich von diesen Widrigkeiten nicht beeindrucken und wichen in den Bramwald aus. Die Umorientierung trug reiche Früchte. An der „Langen Bahn“ balzten, trotz der extremen Trockenheit, in der Morgendämmerung gleich fünf Waldschnepfen. Ebendort und an einer Offenfläche bei Ellershausen konnte mit der Turteltaube eine weitere Vogelart registriert werden, die im Landkreis Göttingen sehr selten geworden ist. Hinzu kamen, neben Bunt- und Schwarzspecht, auch Grau- und Mittelspecht. Beeinträchtigt wurde das arglose Beobachten jedoch von omnipräsenten Waidwerkern auf der Rehbockjagd, darunter ein schnöseliger Jungjäger, der sich in der Rolle des aufgeblasenen Platzhirsches gefiel.
Der weitere Rennverlauf verlief für das ambitionierte Team ähnlich ersprießlich. Wie im Vorjahr wurde das Kerstlingeröder Feld kräfte- und zeitsparend mit dem Fahrrad bewältigt, um danach am Klausberg eine ausgiebige Mittagspause (diesmal mit Linsensuppe statt Spaghetti) einzulegen. Mit Beobachtungen von Rebhuhn, Eisvogel, Schilfrohrsänger, Waldlaubsänger und Gelbspötter gelangten traditionell knifflige Arten auf die Liste, die zudem der Konkurrenz fehlten. Letztlich befand sich auf der Sollseite nur die Wasseramsel, deren regionaler Bestand aus ungeklärter Ursache zusammengebrochen ist. Dazu demnächst mehr auf dieser Homepage.
Von beiden Teams schmerzlich vermisst wurde „Mandy“, das von allen Fraktionen der Göttinger Vogelkundler sorgsam umhegte Mandarinenten-Weibchen vom Levin-Park. Das treulose Luder hatte seinen angestammten Schwimm- und Futterplatz schon Tage vor dem Birdrace verlassen. Darf man dieses skandalöse Verhalten einem Kommentar in der Tradition Schopenhauers unterziehen? Natürlich nicht…

Obwohl ihr Ergebnis mit 117 Arten leicht unter dem des Vorjahrs (120 Arten, die den ersten Platz unter vier Göttinger Teams bedeuteten) lag, waren die „Leinehänflinge“ sehr zufrieden. Das Fehlen ihrer derzeit zu Forschungszwecken in Spanien weilenden Spitzenkraft Martin Schuck konnte durch die Rekrutierung des viel versprechenden J. Fleischfresser locker kompensiert werden. Auch das Spendenergebnis von 265,95 €, verteilt auf 19 (!) Sponsoren, kann sich sehen lassen.

Die â��Göttinger Leinehänflingeâ�� (Silvio Paul, Jan Fleischfresser, Steffen Böhner, Mischa Drüner, Lisa Hülsmann) â�� von wegen allein im Wald!
Abb. 1: Die „Göttinger Leinehänflinge“ (Silvio Paul, Jan Fleischfresser, Steffen Böhner, Mischa Drüner, Lisa Hülsmann) – von wegen allein im Wald!

Ganz anders erging es den „Sozialbrachvögeln“, die dieses Mal mit dem rätselhaften Zusatz „feat. Berliner Extrawurst“ antraten (dazu weiter unten). Durch das Aussparen eines großen Mischwaldgebiets, dessen frühzeitiger Besuch zwei weitere Stunden Schlaf gekostet hätte, war die Niederlage von Anbeginn programmiert. Dieser Tatbestand ist den „Sozialbrachvögeln“ jedoch aus praktisch allen bisherigen Rennen (mit Ausnahme des Jahres 2009, als es ein Unentschieden gab!) gut vertraut und fast schon ans Herz gewachsen. Als sie am Kiessee in Begleitung von Redakteur U. Schubert, der für das „Göttinger Tageblatt“ eine Birdrace-Reportage machte, gegen 10 Uhr auf die Konkurrenz trafen, ließen deren raunende Andeutungen wiederum nichts Gutes erahnen.
Zu der Schlafmützigkeit kam zu allem Überfluss das blanke Pech hinzu: Haubenmeise, Waldbaumläufer, Schwanzmeise (!) und Birkenzeisig (!) – Fehlanzeige. Dort, wo diese keineswegs seltenen Arten noch in den Vortagen locker aufzufinden waren, traten sie am alles entscheidenden Datum nicht in Erscheinung. Immerhin: anders als im Vorjahr konnte die Weidenmeise verbucht werden, weil Neukombattant K. Jünemann an der Rhume gerade noch rechtzeitig eine Bruthöhle ausfindig gemacht hatte. Gleichwohl war die Stimmung wie immer ausgezeichnet, selbst auf dem Kerstlingeröder Feld, wo im mittäglichen Glast weder Grauspecht noch Wendehals zu hören waren und es für den Neuntöter noch zu früh im Jahr war. Bester Laune war das Team auch, als es am alten Göttinger Freibad zufällig auf seine langjährige (2006 bis 2009), vor gut einem Jahr nach Hamburg umgezogene Frontfrau Nikola Vagt stieß, die sogleich in bewährter Qualität ein Mannschaftsfoto vor einer skurrilen Kulisse zauberte. Eine feierlich in Szene gesetzte nachträgliche Stabübergabe an ihre aktuelle Nachfolgerin T. Matthies, deren taufrischer Enthusiasmus dem angejahrten Traditionsteam neuen Glanz verleiht, konnte aus Zeitgründen leider nicht vorgenommen werden.
Einen kleinen Erfolg konnten die „Sozialbrachvögel“ immerhin einfahren: Ihr Spendenaufkommen für die neue, vom DDA fachkundig betreute Internet-Datenbank ornitho.de lag mit 202 € deutlich über dem der vergangenen Jahre.

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Abb. 2: „Die Göttinger Sozialbrachvögel feat. Berliner Extrawurst“ (Hans H. Dörrie, Tanja Matthies, Karl Jünemann, Mathias Siebner).

Was aber hat es mit der Berliner Extrawurst auf sich? Nun, hinter dieser Umschreibung verbirgt sich kein anderer als Christoph Grüneberg, als hoch qualifizierter Mitstreiter von Anfang an bei den „Sozialbrachvögeln“ aktiv, derzeit in Berlin ansässig und 2011 ausnahmsweise wegen einer Familienfeier an der Teilnahme gehindert.
Gleichwohl ließ er es sich nicht nehmen, seinen individuellen Beitrag zur Unterstützung der Heimatfront zu leisten. Zu diesem Zweck wurde ein Ökotop aufgesucht, dessen schmuddeliges Image als „Brennpunkt der „Drogenkriminalität“ vergessen lässt, dass hier eine ausgeprägt hohe Diversität aus Faunenelementen unterschiedlichster Herkunftsregionen studiert werden kann – in der Regel unter optimalen Bedingungen, die nur ab und an durch Polizeirazzien beeinträchtigt werden.
Anlass der Aktion war ein kleiner Disput, den die beiden Göttinger Mannschaften im Vorfeld mit dem Birdrace-Team des DDA ausgetragen hatten. Es ging dabei um die neue Regelung, dass alle Vögel, soweit sie nicht in Volieren oder ähnlichen Einrichtungen ihr Leben fristen, gezählt werden dürfen. Dies betrifft auch Vogelarten, die noch nicht als dauerhaft eingebürgerte Neozoen eingestuft werden wie z.B. Schwarzschwan, Schwanengans, Brautente etc. Der aus fachlicher Sicht fragwürdigen Neuerung an der Grenze zum Klamauk standen und stehen die Göttinger Birdracer sehr kritisch gegenüber; hinzu kommt, dass sich dadurch ein künstlich herbeigeführter Wettbewerbsvorteil für Teams in städtischen Ballungsräumen ergeben könnte, wo man mit dem Werfen einer einzigen Toastbrotscheibe in den Genuss von fünf und mehr Bonusarten gelangen kann. Obgleich die Auswirkungen beim diesjährigen Birdrace nur eine marginale Rolle gespielt haben dürften, kamen die „Sozialbrachvögel“ nicht umhin, einmal sinnfällig zu demonstrieren, wie man anderswo mit geringem Aufwand zusätzliche Arten ergattern kann – und das geht so:

Konzentriert bis in die Haarspitzen: die Extrawurst vor dem Einsatz im Halbschatten der Neuköllner Hasenheide
Abb. 3: Konzentriert bis in die Haarspitzen: die Extrawurst vor dem Einsatz im Halbschatten der Neuköllner Hasenheide.
Geschafft: Mandarinente, Pfeifente, Spießente und Kolbenente auf einen Streich
Abb. 4: Geschafft: Mandarinente, Pfeifente, Spießente und Kolbenente auf einen Streich!

Natürlich verbieten die – in diesem Fall recht strengen – Birdrace-Regeln, die vier Zusatzarten auf das Konto der Sozialbrachvögel zu packen. Genützt hätte es gegen die „Leinehänflinge“ mit ihrem satten Vorsprung von 15 Arten ohnehin nichts, aber die launige Retourkutsche gegen den Firlefanz mit ausgebüxten Volierenvögeln und anderen Exoten war es allemal wert. Mal sehen, was einem dazu in den kommenden Jahren noch so alles einfällt…

Fazit: Alle waren wieder mit viel Spaß dabei. Gab es irgendwelche Highlights? Eher bedingt, denn das „schöne Wetter“ machte ein Registrieren des sichtbaren Vogelzugs faktisch unmöglich. Für die „Leinehänflinge“ waren sicher die Waldschnepfen im Bramwald mit ihrem bizarren Balzgehabe unvergesslich, für die „Sozialbrachvögel“ allenfalls ein leicht verspäteter Bergfink, der an der Kiesgrube Reinshof seinen erregenden Gesang erschallen ließ. Der Anblick eines in der Rhumeaue bei Gieboldehausen balzenden Rohrweihen-Paars ist auch deshalb erwähnenswert, weil es so etwas am verrummelten Seeburger See seit Jahren nicht mehr gibt. Mit Wohlwollen könnte man auch zwei K2-Mittelmeermöwen und einen singenden Rohrschwirl am Seeburger See in diese Rubrik einordnen, zusammen mit einem Kranich und einem Silberreiher am Seeanger.

Vielleicht gewittert es ja am 6. Mai 2012. Dann regnet es am nährstoffgetrübten „Auge des Eichsfelds“ Seeschwalben, unbestimmbare Raubmöwen und seltene Limikolen und alle sind nass, aber glücklich!

Hans-Heinrich Dörrie und Silvio Paul