Seidenschwänze in Süd-Niedersachsen 2010/2011: mehr sanfte Brise als Invasorensturm

Das gleichermaßen frühe und zahlreiche Eintreffen von Seidenschwänzen (Bombycilla garrulus) bereits im Oktober 2010 auf Helgoland und an der deutschen Nord- und Ostseeküste nährte bei einigen Vogelkundlern die Erwartung, dass nach einem extrem schwachen Auftreten im kalten Winter 2009/2010 wieder einmal ein Masseneinflug bevorstehen könnte. Im spektakulären Invasionsjahr 2004/2005 waren die ersten der gefräßigen Nordlichter nämlich ähnlich früh erschienen. Flugs erfolgte auf unserer Homepage am 28.10. ein Aufruf, die Vögel zu melden. Auch das „Göttinger Tageblatt“ war, wie 2004, am 3.11. mit einer entsprechenden Aufforderung an seine Leserinnen und Leser erneut am Start. Damit waren gute Voraussetzungen gegeben, einen Einflug auf großer Fläche und unter breiter Beteiligung der Öffentlichkeit zu dokumentieren. Allein: Einem gut abgehangenen Bonmot zufolge sind Vorhersagen immer dann mit großen Unsicherheiten behaftet, wenn sie die Zukunft betreffen. Umfang und Verlauf des aktuellen Einflugs haben dies, zumindest für unsere Region, eindrücklich bestätigt.

Während der folgenden Wochen und Monate gingen 118 Meldungen von 49 Beobachter/innen ein, die 3501 Vögel betrafen. Nach Ausschluss von Mehrfachmeldungen (vermutlich) identischer Trupps reduzierte sich diese Zahl erheblich. Die Addition der auf korrigierter Datengrundlage errechneten Wochensummen ergab nur noch 2121 Ind. Bereinigte Wochensummen sind am ehesten geeignet, den Gesamtrastbestand der hochmobilen Vögel über einen längeren Zeitraum halbwegs verlässlich quantifizieren zu können. Zudem kann, basierend auf den Empfehlungen des Dachverbands Deutscher Avifaunisten (DDA), eine durchschnittliche lokale Verweildauer der Vögel von sieben Tagen als realistisch gelten (Dörrie 2005).
Zum Vergleich: 2004/2005 erreichten den selbsternannten Erfassungsbeauftragten 421 Meldungen von 176 Mitbürger/innen nicht nur aus Göttingen, sondern auch aus zahlreichen Ortschaften der Landkreise Göttingen und Northeim, die sich auf 17.625 Vögel bezogen. In dieser enormen Zahl waren ebenfalls Mehrfachmeldungen enthalten, nach deren Abzug 12.671 nach Wochensummen addierte Ind. übrig blieben. Wie viele Seidenschwänze sich 2004/2005 wirklich durch Süd-Niedersachsen gefressen haben, muss letztlich offen bleiben – es waren schlichtweg zu viele zum genauen Zählen. Minutiös orchestrierte Synchronzählungen von höherer Aussagekraft – für die man jedoch allein in Göttingen ca. 100 Beobachter/innen benötigt hätte! – waren damals (wie auch sechs Jahre später) leider nicht möglich. Wer mag, kann den Bericht aus dem Invasionsjahr (Dörrie 2005) als pdf lesen bzw. herunterladen (unter „Literatur“ am Ende dieses Beitrags).

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Abb. 1: Phänologie des Einflugs 2010/2011 nach Wochensummen. Grafik: S. Paul.

Die ersten Vögel (5 Ind.) gerieten bereits am 23.10.2010 in der Annastraße (Göttinger Nordstadt) ins Blickfeld, so früh wie nie zuvor. Bis dahin waren der 30.10.1965 (15 Ind. in Göttingen-Treuenhagen – H. Weitemeier, mdl.) und der 6.11.2004 (5 Ind. in Holzerode, Dörrie 2005) die frühesten Ankunftsdaten. Danach tat sich wenig, erst ab Mitte Januar 2011 konnte man von nennenswerten Zahlen sprechen. Dies entspricht jedoch der traditionellen Phänologie von Seidenschwänzen in der Region.
Während 2004 Trupps von bis zu 600 Ind. in Erscheinung traten, bestand diesmal die größte Ansammlung aus 170 Ind., und auch das nur an einem Tag (18.2.), an dem sich vermutlich alle Göttinger Seidenschwänze zu einem Trupp zusammengeschlossen hatten.

Für einen eher normalen Einflug, der gleichwohl über dem Niveau der Jahre 2000 bis 2003 (mit allerdings geringerer Erfassungsintensität) lag, spricht auch, dass nach dem 24.3. für ca. drei Wochen keine Seidenschwänze mehr gemeldet wurden. Erst am 14.4. und 20.4. tauchten sie wieder in Göttingen auf – mit 12 bzw. 25 Ind., die sich vermutlich auf dem Heimzug in ihre Brutgebiete befanden. Den Schlusspunkt setzten 54 Ind. am 22.4. in Duderstadt, die nach Nordosten abzogen. 2005 erfolgte die letzte Beobachtung heimziehender Vögel am 16.5., also der Invasion entsprechend singulär spät.

Auffällig war, dass diesmal aus dem Eichsfeld bzw. dem Ostteil des Landkreises Göttingen nur wenige Seidenschwänze bekannt wurden. Außerhalb der traditionellen Hochburg Göttingen gerieten 424 Ind. – und damit nur ca. 20 Prozent der gewerteten Vögel – ins Visier und zwar in: Bovenden (61 Ind.), Duderstadt (54), Ebergötzen (12), Eddigehausen (35), an der Geschiebesperre Hollenstedt (6), in Hammenstedt (20), an der Kiesgrube Reinshof (44), an der Leine bei Elvese (20), in Lichtenhagen (25), Moringen (60), Nörten-Hardenberg (20), am Northeimer Bahnhof (40), an den Northeimer Kiesteichen (13), an der Rhume bei Northeim (8), in Sattenhausen (3), am Seeburger See (1) und in Wibbecke (2).

In Göttingen konzentrierten sich die Vögel wie gewohnt auf das Kiessee-Leinegebiet, den Leinegrünzug zwischen Sandweg und Hagenweg (einschließlich Levin-Park) sowie auf den innerstädtischen Grüngürtel (Stadtwall und Umgebung) und den Bereich Kreuzbergring – Goßlerstraße. Etwas aus dem Rahmen fielen allenfalls 95 Ind., die am 20.1. in der Feldmark Geismar-Süd nahe der Diemardener Warte gesichtet wurden.

Während anfänglich, wie auch 2004/2005, Äpfel und rote Beeren die Hauptnahrung stellten, dominierten ab Ende Januar die Beeren der Laubholz-Mistel, die die Vögel überwiegend in mistelreichen Hybridpappeln zu sich nahmen.
Seit 2004/2005 ist Göttingen weithin „entpappelt“ worden. Auch in diesem Winter wurden, obwohl völlig gesund, noch etliche alte Nahrungsbäume vom Fachdienst Stadtgrün umgesägt, so z.B. am Sandweg.

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Abb. 2: Bald gänzlich „entpappelt“? Leinegrünzug zwischen Rosdorfer Kreisel und Sandweg. Foto: M. Siebner.

Gleichwohl muss offen bleiben, in welchem Umfang sich der Verlust ehemals gutbesuchter Nahrungsbäume auf das zahlenmäßige Auftreten der Vögel ausgewirkt hat bzw. ausgewirkt haben könnte. Dem Katastrophenszenario verhungernder Seidenschwänze steht entgegen, dass mittlerweile auch auf vielen jüngeren Exemplaren diverser Laubbaumarten Misteln wachsen (was das Fällen gesunder alter Pappeln natürlich nicht rechtfertigt!). Warum? Ganz einfach: Sie wurden mit hoher Wahrscheinlichkeit in den vergangenen Jahren, nicht zuletzt während der Invasion 2004/2005, von den Seidenschwänzen (oder ihrer zänkischen Konkurrentin, der Misteldrossel) durch rege Fress- und entsprechende Verdauungstätigkeit angesät – als Nahrung der Zukunft. Das von Forstwirten, Agraringenieuren, Wirtschaftsmagnaten und Politikern jeder Couleur zur Worthülse ausgelutschte Prinzip der „Nachhaltigkeit“ wurde hier ausnahmsweise in die Tat umgesetzt – und zwar von exotisch anmutenden Vögeln, deren Ankunft im kommenden Winter so mancher schon wieder entgegenfiebert…

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Abb. 3: Paradox: Seidenschwanz bei der Nahrungsmittelproduktion. Foto: V. Hesse.

Ein herzlicher Dank des Verfassers geht an Britta Bielefeld vom der Lokalredaktion des „Göttinger Tageblatts“ für die (wiederum) gedeihliche Kooperation und an die Melderinnen und Melder: Frau Bäumer, Herr Bentz, B. Bierwisch, S. Böhner, G. Brunken, J. Bryant, Y. Clough, M. Corsmann, H. Dörrie, K. Dornfeldt, K. Dornieden, M. Drüner, M. Fichtler, J. Fleischfresser, Herr Garzorz, K. Gimpel, M. Göpfert, D. Grobe, J. Herting, V. Hesse, S. Hohnwald, Frau Jentzsch, A. Kannengießer, H.-A. Kerl, U. Kormann, Herr Krüger, W. Kühn, T. Knust, T. Matthies, C. Oppermann, S. Paul, D. Pfuhl, D. Radde, R. Rotzoll, P. Reus (naturgucker.de), B. Riedel (naturgucker.de), U. Scheibler, Herr Schön, A. Schröter, M. Schuck, M. Siebner, A. Stumpner, A. Sührig, H.-J. Thorns, D. Trzeciok, M. Venus, H. Weitemeier, Frau Wilk, D. Wucherpfennig.

Hans-Heinrich Dörrie

Literatur

Zitiervorschlag

Dörrie H.H. (2011): Seidenschwänze (Bombycilla garrulus) in Süd-Niedersachsen 2010/2011: mehr sanfte Brise als Invasorensturm. URL: http://www.ornithologie-goettingen.de/material/doerrie_seidenschwaenze2010.pdf