Dieser Specht macht’s keinem recht!

Der Vogel, von dem im Folgenden die Rede ist, fällt in zweifacher Hinsicht aus dem Rahmen dieser Homepage. Zum einen wurde er im Kreis Lüchow-Dannenberg gesehen, also nicht in Südniedersachsen. Zum anderen wirft er Fragen auf, die von überregionalem Interesse sein könnten. Weil der Mittelspecht (Dendrocopos medius), um den es hier auch geht, der Wappenvogel des Arbeitskreises Göttinger Ornithologen ist und die Entdeckerin in Einbeck wohnt, wird die Beobachtung auf unserer Homepage vorgestellt und diskutiert.

Am 6.8.2011 konnte T. Matthies gegen 12.00 Uhr am Rand des Elbholzes südöstl. Elbholz, Gemeinde Gartow (Kreis Lüchow-Dannenberg, 53°03’19“ N, 11°28’40“ O) für zwei Minuten einen Specht beobachten, der sich – mehr stochernd als hackend – am Ast einer Eiche zu schaffen machte. Er schien ungefähr so groß wie ein Mittelspecht zu sein. Rufe oder Instrumentallaute waren nicht zu hören. Glücklicherweise gelang es ihr in der kurzen Zeit, einige Fotos zu machen. Diese schickte sie an H. Dörrie, der sich nach kurzem Blick mit ihrer vorläufigen Bestimmung des Vogels als Mittelspecht einverstanden erklärte. Eine genauere Inspektion des Bildmaterials ließ jedoch bei beiden recht schnell einige Fragen aufkommen…

Abb. 1: Rätselspecht

Das Foto zeigt einen Specht aus der schwarz-weiß-roten Familie Dendrocopos. Roter Scheitel, ein – wegen des Fehlens eines ausgeprägten Bartstreifs – „offenes“ Gesicht, gestrichelte Flanken und rosa Unterschwanzdecken deuten auf einen Mittelspecht. Aber ist das wirklich ein Mittelspecht? Erscheint der Schnabel nicht zu lang für diese Art? Und was ist mit der schwarzen Einfassung des Scheitels, die typisch für einen jungen Buntspecht (D. major) ist? Sieht der Vogel vom „Jizz“ her nicht eher wie ein junger Buntspecht aus?

Abb. 2: Was kann das sein?

Das zweite Foto belegt, dass der vergleichsweise lange Schnabel kein Artefakt ist. Auch hier ist die schwarze Rahmung des Scheitels wieder deutlich zu sehen. Was jetzt aber sichtbar hinzutritt, ist die irritierende Oberseite, die wegen ihrer auffällig breiten und weißen Querstreifen an einen Weißrückenspecht (D. leucotos) denken lässt. Aber ein (männlicher) Weißrückenspecht ist dieser Vogel auch nicht. Ihm fehlt nämlich als artdiagnostisches Merkmal die reinweiße Rückenpartie. Auch Gesichtszeichnung und schwarze Umrandung des Scheitels sprechen gegen ihn. Welcher Spezies ist dieser Specht aber dann zuzuordnen? Zur Beantwortung dieser kniffligen Frage wurden die Fotos einigen versierten Vogelkennern und Spechtexperten zugeschickt.

Die anschließende Diskussion, an der sich – engagiert, mit jeweils guten Argumenten und hilfreichen Literaturhinweisen – P.H. Barthel, F. Bindrich, G. Brunken, J. Dierschke, H. Dörrie, M. Gottschling, C. Grüneberg, A. Schröter, M. Schuck, K. Turner und H. Winkler beteiligten, erbrachte ein Resultat, das alles andere als eindeutig ausfiel. Die Diagnosen reichten von einem ganz normalen jungen Mittelspecht über einen aberranten Vertreter dieser Art bis zum jungen Buntspecht, der lediglich die innerartliche Variationsbreite anzeigt. Andere wiederum brachten, um die heterogenen Kennzeichen und Anomalien des Vogels irgendwie unter einen Hut zu bringen, die in solch vertrackten Situationen immer hilfreichen Hybriden aus verschiedenen Paarungsvarianten ins Spiel. Angesichts einiger Merkmale des Vogels und auch des Beobachtungsorts am Rand eines norddeutschen Auwalds bot sich zunächst ein möglicher Hybrid Mittel- x Buntspecht an.
D. major und D. medius stehen sich jedoch phylogenetisch eher fern. Bekanntlich neigen vor allem Arten zur Vermischung, die nah verwandt sind. Zudem hält der Mittelspecht in der rauhen Lebenswirklichkeit, die nicht selten von interspezifischen, zumeist vom Buntspecht ausgehenden Aggressionen geprägt ist, in der Regel einen gehörigen Abstand zu seinem rabiaten Vetter. In den maßgeblichen Spechtmonographien (Short 1982, Winkler et al. 1995, Gorman 2004) fehlt denn auch jeder Bezug auf eine ausnahmsweise Liaison beider Arten mit Reproduktionserfolg. Der einzige den Diskutanten bekannte Hinweis darauf findet sich in einer alten Ausgabe der „Gefiederten Welt“ aus dem Jahr 1884. Dort wird von einem im März 1880 zur Präparation eingelieferten Specht berichtet, dessen Kopfform und -zeichnung die eines männlichen Buntspechts war, während seine gestrichelte Unterseite und rosa Unterschwanzdecken („Afterfedern“) Merkmale eines Mittelspechts anzeigten (Pohlmann 1884). Ob dieser historische Vogel als (womöglich einziger!) zweifelsfreier Beleg für eine Hybridisierung unter Beteiligung von D. medius gelten kann, ist wegen der lückenhaften Beschreibung und der Unauffindbarkeit des Präparats mehr als fraglich.
Zudem wäre eine Mischbrut von Mittel- und Buntspecht in einem Gebiet, in dem beide Arten gleichermaßen häufig sind – das Elbholz weist mit mehr als 20 Mittelspecht-Revieren eine hohe kleinflächige Siedlungsdichte auf – äußerst unwahrscheinlich. Warum sich fremd verpaaren, wenn es genügend potentielle Sexualpartner der eigenen Art gibt? Hinweise auf extreme Mittelspecht-Verluste in den vergangenen Kältewintern, die möglicherweise eine Fremdverpaarung der wenigen Überlebenden hätten begünstigen können, liegen aus dem Gebiet nicht vor (H.-J. Kelm per E-Mail). All diese Faktoren sprechen mit erheblichem Gewicht gegen die Annahme eines Hybriden Mittel- x Buntspecht.

Dagegen existieren mehrere Nachweise erfolgreicher Mischbruten zwischen Weißrücken- und Buntspecht, insbesondere aus Regionen, in denen der Weißrückenspecht selten ist (vgl. Gorman 2004). Das Foto eines solchen Hybriden aus Finnland (Laine 1993, netterweise von A. Schröter ins Deutsche übersetzt!) lässt durchaus Assoziationen an den niedersächsischen Rätselspecht aufkommen. Aber auch bei dieser Spechtwerdung eines Fehltritts fällt sofort ein weißes Rückenfeld ins Auge, das unserem Porträtvogel augenscheinlich abgeht. Zudem ist der Weißrückenspecht in Niedersachsen nicht nur „selten“, sondern nachgerade eine Mega-Rarität. Der letzte rezente Nachweis eines (fotografierten) Vogels datiert aus dem Februar 1983 von den Riddagshäuser Teichen bei Braunschweig. Aus der Zeit davor existiert nur ein in den 1840er Jahren im Solling geschossener Vogel (Zang & Heckenroth 1986). In den angrenzenden östlichen Bundesländern Brandenburg, Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern sieht es nicht viel anders aus (Bauer et al. 2005). Dass sich ein aus Ostpolen oder Fennoskandien zugewanderter Weißrückenspecht in Nordost-Niedersachsen mit einem Buntspecht verpaart und Nachkommen gezeugt hat, ist zwar nicht gänzlich unmöglich, erscheint vor diesem Hintergrund aber ebenso extrem unwahrscheinlich wie ein Hybrid beider Arten, den es, von wo auch immer, irgendwie nach Lüchow-Dannenberg verschlagen hat. Aus alledem ergibt sich, dass auch ein Hybrid Weißrücken- x Buntspecht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden kann.

Wenn man mit der Hybrid-Hypothese offenkundig Schiffbruch erleidet, folgt daraus, dass dieser Specht einer der bei uns vorkommenden Dendrocopos-Arten, konkret dem Mittel- oder Buntspecht zugeordnet werden kann. In der Diskussion hatte ein junger Mittelspecht, ob nun aberrant oder nicht, letztendlich den Schnabel leicht vorn… Solange jedoch keine höherwertigen Fotos bzw. Dokumentationen vorliegen, die Artefakte weithin ausschließen, bringt weiteres Spekulieren wenig bis nichts.
Glücklicherweise sind mitteleuropäische Spechte, bis auf den weitziehenden Wendehals (Jynx torquilla), in der Regel reviertreue Standvögel. Daher könnte unser Rätselvogel sich noch für geraume Zeit im Gebiet aufhalten, ab dem Spätwinter nach Kräften balzen oder sonst wie auf sich aufmerksam machen. Vielleicht gerät er ja in den kommenden Monaten wieder ins Blickfeld und verrät ein für alle Mal seine Artzugehörigkeit.

Wenn gefiederte Raritäten wie Sumpfläufer, Seggenrohrsänger und Co. das Salz in der oftmals faden Tagessuppe der Feldornithologie darstellen, sind die – im Schnitt erheblich selteneren – wirklichen „Rätselvögel“ die extrascharfen Chilischoten. Dabei fasziniert in besonderem Maß, dass es diesmal nicht um eine „seltsame Limikole“ oder eine „komische Möwe“ mit dem vermeintlichen Potential eines mitteleuropäischen Erstnachweises geht, sondern um einen waldbewohnenden Vertreter der charismatischen Spechtfamilie, die bislang kaum besondere Bestimmungsprobleme aufgeworfen hat.

Tanja Matthies und Hans H. Dörrie

P.S. Wer sich unter den Leserinnen und Lesern zu dem Vogel äußern möchte, kann dies gern mit einer Mail an info@ornithologie-goettingen.de tun. Für weitere sachkundige Hinweise sind wir durchaus dankbar.

Literatur

  • Bauer, H.-G., E. Bezzel & W. Fiedler (2005): Das Kompendium der Vögel Mitteleuropas. Nonpasseriformes – Nichtsperlingsvögel.
  • Gorman, G. (2004): Woodpeckers of Europe: A Study of the Europaean Picidae.
  • Laine, T. (1993): A hybrid between the Great Spotted Woodpecker and the White-backed Woodpecker (in Finnish). Linnut 2/28: 19-20.
  • Pohlmann, E. (1884): Briefliche Mittheilungen. Gefiederte Welt 13: 104-105.
  • Short, L. ( 1982): Woodpeckers of the World.
  • Winkler, H., D.A. Christie & D. Nurney (1995): Woodpeckers. A Guide to the Woodpeckers, Piculets and Wrynecks of the World.
  • Zang, H. & H. Heckenroth (1986): Die Vögel Niedersachsens. Band 2.7: Tauben- bis Spechtvögel.