Die Bekassine – Vogel des Jahres 2013 – in Süd-Niedersachsen: ein Nachruf?

Bekassine - M.Siebner
Abb. 1: Aufmerksame Bekassine. Foto: M.Siebner

Mit der Bekassine (Gallinago gallinago) hat der NABU eine Vogelart gewählt, deren Anblick beim Betrachter immer wieder Erstaunen hervorruft, nicht selten mit einem Schmunzeln gepaart. Das Erscheinungsbild des gut drosselgroßen Vogels ist in der Tat einzigartig. Die Proportionen scheinen nicht zusammenzupassen: Der tarnfarbene Körper mutet plump und bauchbetont an, der Schnabel ist grotesk lang, die Beine irgendwie zu kurz. Wenn der kleine Watvogel mit nähmaschinenartiger Stochertechnik eine Schlammfläche nach Verwertbarem punktiert und, hoch aufgerichtet, im schnellen Trippelschritt Konkurrenten verjagt, drängt sich der Eindruck auf, dass die Evolution manchmal zu Scherzen aufgelegt ist. Das eigentümliche Design signalisiert jedoch nichts anderes als die perfekte Anpassung an einen feuchten Lebensraum. Mit 16 Arten, die auf den ersten Blick alle gleich aussehen, kommt das Genus Gallinago in Europa, Afrika, Asien und Amerika vor, ist also global sehr erfolgreich.

Der großen Ähnlichkeit in Größe, Gestalt und Gefieder entsprechen (notwendigerweise) unterschiedliche Fortpflanzungsrituale. Während die in Deutschland als Brutvogel ausgestorbene Doppelschnepfe (Gallinago media) eine Arenabalz am Boden zelebriert, zeichnet sich ihre nahe Verwandte durch eine spektakuläre Flugbalz aus. Das Männchen fliegt hoch über seinem Revier und vollführt dabei Sturzflüge, bei denen die Luft durch die abgespreizten äußeren Steuerfedern gepresst wird. Dabei entsteht ein weithin hörbares Geräusch, das an das Meckern einer Ziege erinnert. Der noch heute gebräuchliche Volksname „Himmelsziege“ gibt das auffällige Balzverhalten trefflich wieder. Am Boden oder auf einem Zaunpfahl singt das Männchen zudem ein monotones, aber recht klangvolles „tüke, tüke, tüke…“ Scharfe „tick, tick“-Alarmrufe vom Spätfrühling an, die von einer erhöhten Warte vorgetragen werden, sind ein guter Hinweis auf eine Brut bzw. auf Jungvögel, die vor einem Beutegreifer gewarnt werden.

Verbreitung und Bestand

In großen Teilen Europas ist die Erfolgsgeschichte unseres Porträtvogels seit Jahrzehnten ins Stocken geraten bzw. weithin zum Erliegen gekommen. Der niedersächsische, im Wesentlichen auf die norddeutsche Tiefebene beschränkte Brutbestand wurde von Krüger & Oltmanns (2007) auf ca. 2200 Paare/Reviere beziffert (und ist seit dem Referenzjahr 2005 sicher weiter geschrumpft). Ungefähr ein Drittel der in Deutschland verbliebenen ca. 5700-6600 Paare (Südbeck et al. 2007) brüten in unserem Bundesland.
Hauptursachen für den dramatischen Rückgang sind Lebensraumverlust in den Brutgebieten und massenhafter Abschuss in den Rast- und Ruhegebieten dieses Zugvogels. In einigen Mitgliedstaaten der Europäischen Union werden alljährlich insgesamt mehr als 500.000 Bekassinen geschossen (Hirschfeld & Heyd 2005), die meisten in Frankreich und Großbritannien. Die Schnepfenjagd gilt von jeher als besonders „sportliche“ Herausforderung, spätere Gaumenfreuden eingeschlossen…

Abb. 2: Seeanger. Foto: J. Herting

Vor der Entwässerung der Leinewiesen und der Trockenlegung der Niedermoore um den Seeburger See war die Bekassine vermutlich ein, zumindest lokal, nicht seltener Brutvogel. Quantitative Angaben sind jedoch Mangelware. Aus der Umgebung Göttingens verschwand sie in den 1930er Jahren. In den 1950er Jahren war sie noch, mit ein bis zwei Paaren, aus den Niedermoorresten im Seeanger bei Seeburg bekannt (G. Köpke, briefl.). In den letzten Jahren (jedoch nicht 2012) gelangen in diesem seit 2001 wiedervernässten Gebiet Beobachtungen balzender Männchen und warnender Altvögel, die den starken Brutverdacht von ein bis zwei Paaren rechtfertigten. Ob sich die Art dort wieder dauerhaft ansiedelt ist ungewiss.

In etwa derselben Größenordnung bewegt sich der Brutbestand im Hochwasser-Rückhaltebecken Salzderhelden (Polder 1) zwischen Northeim und Einbeck. Hier ist die Bekassine seit vielen Jahren ein etablierter Brutvogel.

Abb. 3: Leinepolder Salzderhelden. Foto: J. Herting

In den beiden verbliebenen (Brut-)Gebieten finden Veränderungen statt, die einem Charaktervogel von Mooren und Feuchtwiesen abträglich sind. Im Seeanger verdichtet sich wegen des ständigen Nährstoffeintrags die Vegetation, das Gebiet verbuscht zusehends, die Schwarzerle ist auf dem Vormarsch. Einige Bereiche sind durch den anhaltend hohen Wasserstand in letzter Zeit so feucht geworden, dass sie nicht mehr beweidet werden können. Dies nutzt der Art sicher am Anfang, könnte sich jedoch später als Nachteil erweisen, weil lückenhafte bis offene Strukturen, die für Nahrungssuche und Fortbewegung am Boden unabdingbar sind, verloren gehen. Hinzu kommt die ausgeprägte Insellage des im Kern nur knapp 30 Hektar großen Bekassinen-Lebensraums inmitten einer industrialisierten Agrarlandschaft, die das Überleben zur Zitterpartie macht. Gerade in solchen Oasen ist der Verfolgungsdruck durch patrouillierende Fressfeinde nämlich besonders hoch.

Im Leinepolder Salzderhelden breitet sich auf großer Fläche ein dichter Röhrichtbestand aus. Im Umfeld der Leine und der früheren Kiesgrube entwickeln sich auwaldähnliche Gehölzstrukturen. In solchen Lebensräumen können Bekassinen nicht brüten. Ob die jüngst in Angriff genommenen Anstaumaßnahmen mit dem Ziel, auch im Sommer dauerhaft überschwemmte Bereiche zu schaffen, der Bekassine zu Gute kommen oder eher den kleinen Rallen der Gattung Porzana, bleibt abzuwarten. Wenn es gut läuft, profitieren vielleicht alle davon.

Wildschweinjagd zum Schutz der Bekassine?

Anders als im Seeanger war in der streng vor jeglichen Störungen geschützten Kernzone des ca. 900 Hektar großen Naturschutz- und EU-Vogelschutzgebiets Leinepolder Salzderhelden die Jagd über Jahre nur unter strengen Auflagen erlaubt. Gestattet war der Beschuss von Wildtieren allenfalls von Hochsitzen oder Verstecken am Rand des Gebiets. Mit dem robust verquasten Selbstverständnis und Sendungsbewusstsein der Jägerschaft („Bewahrer des ökologischen Gleichgewichts“) sind solche Restriktionen auf Dauer nicht vereinbar. Deshalb verfielen ihre Funktionäre auf die Propagandamasche, das Schießen von Wildschweinen, Füchsen und Waschbären in der bisherigen Tabuzone als uneigennützigen „Schutz von Wiesenbrütern“ auszugeben. Zusammen mit den Artenschützern vom Landvolkverband wurde man bei der zuständigen Naturschutzbehörde vorstellig. Über belastbare Daten zu einer existenzbedrohenden Gefährdung des Brutbestands „seltener Vögel“ durch die oben genannten Tierarten verfügten die Antragsteller (natürlich) nicht. Egal: Im Herbst 2011 wurde vom Landkreis Northeim für einen befristeten Zeitraum die Wildschweinjagd in der Kernzone gestattet und von den Waidwerkern sogleich mit zahlreichen Hochsitzen und Lockfütterungen in Szene gesetzt. Das Resultat fiel mit ganzen zwei (!) geschossenen Tieren äußerst mager aus – was jedoch kaum verwundert. Wiederholte Vollstaumaßnahmen im Winter hatten den Lebensraum für die Wildschweine nämlich sehr unwirtlich gestaltet; zudem gibt es im Polder keine Maisfelder, die für die Schwarzkittel wahre Paradiese sind und von ihnen entsprechend zahlreich frequentiert werden. Vor diesem Hintergrund entpuppte sich das Horrorbild marodierender Wildschweinrotten, die Bodenbrüter zum Aussterben bringen, als propagandistisches Hirngespinst.

Gegen einen neuerlichen Erlass in diesem Jahr, mit dem die Jagd in der Kernzone bereits ab dem 1. August gestattet wird, ging der BUND zusammen mit örtlichen Naturschützern juristisch vor, wurde jedoch vom Göttinger Verwaltungsgericht als „nicht klageberechtigt“ abgefertigt. Überdies sei Eile geboten: der Landkreis Northeim habe „schnell und effektiv auf den Schutzzweck“ reagiert (siehe Göttinger Tageblatt vom 9.9.2012).
Weil weitere Klagen eine Menge Geld kosten steht zu erwarten, dass die Artenschutzrezeptur aus Kimme, Korn und Doppelkorn auch in den kommenden Jahren zur Anwendung gelangt. Ob die Bekassine daraus einen Nutzen zieht, darf bezweifelt werden: Aus der mitteleuropäischen Normallandschaft mit ihrem komplexen Gefüge von Räubern und Beutetieren ist kein einziger Fall bekannt, dass sich eine gefährdete Vogelart nach der Bekämpfung ihrer (realen oder vermeintlichen) Feinde wieder im Bestand erholt hätte.

Abb. 4: Bekassine beim Nahrungserwerb. Foto: V. Lipka

Bekassinen sehen – wann und wo?

Im Prinzip können Bekassinen in unserer Region nahezu ganzjährig beobachtet werden, am besten jedoch während der Zugzeit. Der Heimzug setzt verstärkt in der dritten Märzdekade ein und kulminiert in der ersten Aprilhälfte. In dieser Zeit ist der Leinepolder Salzderhelden eine Bank, besonders dann, wenn Teile des Gebiets noch flach unter Wasser stehen. In manchen Jahren rasten dort zahlreiche Bekassinen. Am 6.4.2012 wurden dort sogar beachtliche 200 Ind. gezählt (P.H. Barthel in ornitho.de). Leider sind die Vögel in der Regel recht weit entfernt; wie viele es sind, kann man am ehesten ermessen, wenn sie von einem Beutegreifer aufgescheucht werden. Balzfliegende Männchen lassen sich am besten im Mai bestaunen, bevorzugt in der Dämmerung.

Auch im Seeanger bestehen im Frühjahr gute Chancen, unseren Porträtvogel zu Gesicht zu bekommen. Dies betrifft, anders als im Leinepolder, auch den Wegzug, der bereits Mitte Juli einsetzt und im Oktober abklingt. Im Seeanger gibt es derzeit wegen des hohen Wasserstands keine ufernahen Schlammflächen, auf denen sich Bekassinen gerne tummeln und entsprechend leicht zu beobachten sind. In dichter Vegetation sind die Vögel wegen ihrer perfekten Tarnung nur mit Mühe auszumachen.

Abb. 5: In ihrem Lebensraum ist die Bekassine oft schwer zu entdecken. Foto: M.Siebner

Ein lohnendes Ziel ist auch der Stockhäuser Bruch an der Leine zwischen Niedernjesa und Groß Schneen. In diesem kläglichen Grünlandrelikt der Leineaue wird man der Vögel aber zumeist nur ansichtig, wenn sie aufgescheucht mit rätschendem Flugruf gen Himmel entschwinden – in ihrem reißenden Zickzackflug wirken sie dann alles andere als plump! Zufallsbegegnungen mit auffliegenden Migranten sind bisweilen auch in der freien Feldmark oder an einem Entwässerungsgraben möglich, selbst im Winter. Ortsfeste Überwinterungen sind jedoch in unserer Region, trotz (angeblich) milderer Winter in den letzten Jahren, immer noch die große Ausnahme. Hans-Heinrich Dörrie

Literatur

Hirschfeld, A. & A. Heyd (2005): Jagdbedingte Mortalität von Zugvögeln in Europa: Streckenzahlen und Forderungen aus Sicht des Vogel- und Tierschutzes. Ber. Vogelschutz 42: 47-74.

Krüger, T. & B. Oltmanns (2007): Rote Liste der in Niedersachsen und Bremen gefährdeten Brutvogelarten – 7. Fassung, Stand 2007. Inform.d.Naturschutz Niedersachs. 27: 131-175.

Südbeck, P., H.-G. Bauer, M. Boschert, P. Boye & W. Knief ( 2007): Rote Liste der Brutvögel Deutschlands. 4. Fassung, 30. Nov. 2007. Ber. Vogelschutz 44: 23-81.