May 6th, 2013
Beim Birdrace 2006 erzielte das Team der „Feuchtkehlchen“ (Fabian Bindrich, Jan Goedelt und Volker Hesse) mit 125 an einem Maitag im Landkreis Göttingen beobachteten Vogelarten einen Rekord, der sich im Lauf der Jahre als ausgesprochen zählebig erwies. Ein Vergleich mit den Höchstleistungen gewisser DDR-Athletinnen, die im vereinten Deutschland immer noch gültig sind, drängt sich auf, ist aber selbstverständlich vollkommen abwegig. Egal: Nach der Devise „Immer daran denken, nie davon sprechen“ wurde die Zahl 125 zur Messlatte für alle Folgeteams. Wind und Wetter, mangelnde Kooperation der Vögel, kontraproduktive Vorgehensweisen und dergleichen mehr standen der Egalisierung entgegen. 2013 sollte es (endlich) anders kommen…
Das Wetter am 4. Mai 2013 gestaltete sich äußerst angenehm, zumindest bei uns. Knapp 20 Grad, kaum Wind, Sonnenschein und ein paar Wolken bildeten einen erfreulichen Kontrast zum Dauerregen und den einstelligen Temperaturen des Vorjahrs. Der Vogelzug machte sich in passablen Rastzahlen etlicher Arten positiv bemerkbar. In der Thermik ließen sich viele Greifvögel ausmachen. Dies galt jedoch nicht für Deutschlands Südhälfte. Dort regnete es verbreitet, ja schüttete sogar manchmal. Den Artenzahlen war dies alles andere als förderlich. Zudem wurden aus einigen Kreisen erschreckend niedrige Zahlen selbst von Allerweltsvögeln gemeldet, für die vermutlich der vergangene „Märzwinter” in Kombination mit den Segnungen der so genannten „Energiewende“ verantwortlich zeichnet.
Dieses Jahr traten (nur) zwei Formationen des Arbeitskreises Göttinger Ornithologen an: das 2005 gegründete Traditionsteam der „Göttinger Sozialbrachvögel“ (Hans H. Dörrie, Christoph Grüneberg, Karl Jünemann, Moritz Otten und Mathias Siebner) und die seit 2010 tätigen „Leinehänflinge“ (Steffen Böhner, Mischa Drüner, Jan Fleischfresser, Silvio Paul und Martin Schuck). Die Ergebnisse aller Teams können auf der Homepage des Dachverbands Deutscher Avifaunisten (DDA) unter dda-web.de im Einzelnen nachvollzogen werden.
Die „Leinehänflinge“, die sich im zweiten Jahr im Landkreis Northeim abrackerten, gingen wie üblich planmäßig und zielstrebig vor. Vorkommen von Straßentaube (2012 nicht auf der Liste) und Türkentaube wurden prophylaktisch in Einbeck ermittelt. Mehrere Exkursionen in die endlosen Waldgebiete des Sollings waren den Eulen und anderen Waldvogelarten gewidmet. Auch in Steinbrüchen und, natürlich, in der Leineniederung zwischen Northeim und Einbeck waren Kundschafter tätig.
Um möglichst früh vor Ort zu sein, unterzog sich das Team am Vorabend der freiwilligen Kasernierung in der Jugendherberge Silberborn im Solling. Obwohl sie die einzigen Gäste waren, wurde ihnen von der Herbergsmutter eine gemeinsame Kammer zugewiesen. Das denkbar schlichte Interieur im JVA-Design bestand aus Doppelstockbetten und anderen Einrichtungsgegenständen, die schon vor 30 Jahren aus der Mode waren. Wie das Foto zeigt, konnte das niederdrückende Ambiente die Psyche der Kombattanten offenbar nicht beeinträchtigen: Sie wirken, auch durch den Biergenuss befördert, vergleichsweise entspannt.
Am nächsten Tag ging es lange vor Sonnenaufgang in den Wald, wo das frühmorgendliche Vogelkonzert eher verhalten ausfiel und das Auffinden von Kleinvögeln erschwerte. Die einzige Waldschnepfe war nicht zum Balzen aufgelegt, sondern flog stumm vor den Beobachtern auf. Dagegen zeigte ein unablässig rufender Sperlingskauz an der „Großen Blöße“, dass er offenkundig unverpaart war. Ein einsamer Waldkauz ließ sich kurz vernehmen. Mit nur zwei Eulenarten war das Ergebnis recht mager. Die Annahme eines drastischen Bestandsrückgangs nach den letzten Kältewintern plus Mäusemangel liegt nahe. Am Lakenteich, einem hochgelegenen Brutplatz, konnte der Zwergtaucher auf die Liste gepackt werden.
Auffällig und für Anfang Mai recht ungewöhnlich war, dass überall (noch) Misteldrosseln und Kernbeißer sangen bzw. durch ihre Kontaktrufe auf sich aufmerksam machten. Dies könnte ein Indiz dafür sein, dass die normalerweise heimlich und früh brütenden Misteldrosseln nach dem „Märzwinter“ ihre Reviere nur erheblich verspätet besetzen konnten. Auch Heimzug und Ankunft der später im Jahr ebenfalls heimlichen Kernbeißer hatten sich augenscheinlich verzögert. Von diesen Misshelligkeiten konnten die Vogelzähler profitieren.
Bei den Sperlingsvögeln sind zwei weitere Phänomene erwähnenswert: Zum einen fehlten die im Vorjahr überaus häufigen Erlenzeisige nahezu komplett; nur in einem Lärchenbestand bei Lauenberg ließen sich ein paar von ihnen ausmachen. Zum anderen scheint der Birkenzeisig in Einbeck besonders gut vertreten zu sein. Für die gleichermaßen faszinierenden und unsteten Finkenvögel sind extreme Bestandsschwankungen und lokale Zusammenballungen aber durchaus typisch, insbesondere dann, wenn sie sich wie der Erlenzeisig nomadisch verhalten und großräumig den Fruktifikationen ihrer Nahrungsbäume folgen.
Im Leinepolder Salzderhelden sorgten etliche Überschwemmungsflächen für ein kopfstarkes Auftreten von Limikolen. Allerdings zeigten zehn Arten, darunter vor allem die üblichen Vertreter der Gattung Tringa, ein eher durchschnittliches Spektrum an. Für die eine oder andere zusätzliche Calidris-Art fehlten einfach die Schlammflächen. Verglichen mit dem Vorjahr herrschten jedoch fast schon paradiesische Zustände. Bei den Rallen gerieten endlich Wachtelkönig und Tüpfelsumpfhuhn auf die Liste.
An der Geschiebesperre Hollenstedt, deren Bedeutung für heimziehende Wasser- und Watvögel seit Jahren abnimmt, stellte ein auf dem Heimzug eher seltener Zwergstrandläufer eine echte Bonusart dar. Eine Schwarzkopfmöwe zeigte sich auf dem verrummelten Northeimer Freizeitsee als kleiner Lichtblick; ansonsten war die Wasserfläche von Vögeln ziemlich leergefegt. Später am Abend wurden die Beobachter noch von zwei Arten beglückt, die sie eigentlich schon abgeschrieben hatten: Rohrweihe und Steinschmätzer traten erst nach 20 Uhr in Erscheinung. Insgesamt lief unter optimalen Bedingungen alles rund: Mit 129 Arten konnte das Team nicht nur sein bestes Ergebnis überhaupt erzielen, sondern sich auch am Titel eines süd-niedersächsischen Meisters und Rekordhalters erfreuen – allerdings nur, in bester Schalke-Tradition, für kurze Zeit…
Auch die „Göttinger Sozialbrachvögel“ waren hocherfreut, dass sich die Schlechtwetterprognosen, die bis kurz vor Rennbeginn für Verdruss gesorgt hatten, als Trugbild entpuppten. Sie hatten sich zudem durch die überaus talentierte Nachwuchskraft Moritz Otten aus der Region Hannover verstärkt. Das harmonische Zusammenwirken in einem Team, dem zwei gebürtige Braunschweiger angehören, ist eine beglückende Vorwegnahme alttestamentarischer Verheißungen, nach denen dereinst der Löwe in Frieden und Eintracht neben seinem Beutetier lagern wird…
Wie im Vorjahr erfolgte der Start um 4:30 Uhr an der Langen Bahn im Bramwald. Der Anblick mindestens einer balzenden Waldschnepfe konnte fast vergessen machen, wie sehr gerade diese Art im vergangenen „Märzwinter“ ums Überleben kämpfen musste. Anders als im Solling zeigten vier Waldkäuze akustisch ein zahlenmäßig typisches Vorkommen an. Ob es sich dabei um ruffreudige Junggesellen handelte bleibt ungewiss.
Auf der großen Windwurffläche bei Ellershausen rief eine der letzten Turteltauben der Region. Dort saß auch ein Neuntöter, sang ein Baumpieper und pfiff ein Grauspecht. Überall ließen sich, wie im Solling, Misteldrosseln und Kernbeißer vernehmen.
In einem Kleingarten der Göttinger Südstadt zelebrierte ein Wendehals-Paar an einem Nistkasten seinen Duettgesang. Sollte es mit der Brut klappen, wäre dies die erste seit mehr als 20 Jahren im Kiessee-Leinegebiet. Weil mit Wendehals, Neuntöter, Baumpieper und Grauspecht vier nahezu exklusive Charakterarten des Kerstlingeröder Felds bereits „abgearbeitet“ waren, beschloss man, auf einen Besuch dieses Gebiets zu verzichten – knapp drei Stunden gespart!
Die Mittagspause fand nicht im „Cafè Yesterday“ statt, das leider schließen musste. Als Alternative bot sich das neue „Kim’s Diner“ im hippen Maschmühlenweg an, ein Edel-Imbiss mit opulenter Ausstattung. Ein superscharfes Chili con Carne brachte den ziemlich ramponierten Paten des Teams wieder auf Vordermann.
Nach einem kurzen Zwischenstopp an den Schweckhäuser Wiesen, über denen ein Schwarzstorch als neue Birdraceart kreiste, ging es in Eichsfeld. Dort gelangten durch die präzise Vorarbeit von K. Jünemann nicht nur das auffällige Schwarzkehlchen, sondern auch die erheblich schwierigeren Arten Rebhuhn und Wiesenpieper auf die Liste. Die Fahrt zu einem Reliktvorkommen des unscheinbaren Singvogels in der Feldmark Wollbrandshausen verlief zwar erfolgreich, aber dennoch äußerst deprimierend. Zwischen riesigen und komplett ausgeräumten Schlägen fristen ein bis zwei Paare an einem Grasweg mit Entwässerungsgraben ihr Dasein. Der Grasweg wird bald einer Flurbereinigung zum Opfer fallen. Soll man jetzt – buchstäblich als letzter Notnagel – an einem der zahllosen Kruzifixe um himmlischen Beistand gegen den schandbaren Umgang mit einer jahrhundertealten Kulturlandschaft bitten? Beeilen muss man sich auf jeden Fall, denn der flehende Blick nach oben wird bald von gigantischen Windrädern verstellt…
Die Zeitersparnis ermöglichte einen ausgiebigeren Aufenthalt an den Feuchtgebieten Seeanger, Lutteranger und Seeburger See. Während der Lutteranger einen gewohnt öden Anblick bot, hielt der Seeanger für rastende Vögel einige Feuchtsenken parat, die immerhin acht Limikolenarten nutzten. Die offene Wasserfläche war zudem von einigen Enten- und Gänsearten bevölkert, die im Vorjahr nicht aufzufinden waren. Am Seeburger See waren Flussseeschwalbe und Mittelmeermöwe willkommene Bonusarten.
Kurzum: Auch für die „Sozialbrachvögel“ verlief das Rennen sehr, sehr ersprießlich. Von den erwartbaren Arten fehlten letztendlich nur Erlenzeisig, Baumfalke und Eisvogel. Habicht, Klein- und Mittelspecht traten als notorisch unzuverlässige Kandidaten ebenfalls nicht in Erscheinung. Das war’s aber auch schon. Mit 135 Arten wurde ein Ergebnis erzielt, das vorab wohl niemand für möglich gehalten hätte. Das Team kam sich ein bisschen vor wie Bob Beamon nach seinem Weitsprung von 8,90 m in Mexiko-Stadt 1968. Dieser Rekord hatte übrigens 23 Jahre Bestand…
In der bundesweiten Wertung belegten die „Sozialbrachvögel“ unter 194 Teams den 18. Platz. In der Singvogelwertung schnitten sie mit 72 Arten, die Platz 6 anzeigten, nachgerade spektakulär ab und wurden nur von Spitzenteams überrundet, die in besonders vogelreichen Gebieten Ostdeutschlands, der Lüneburger Heide oder an der Küste tätig waren.
Die „Leinehänflinge“ kamen in der Gesamtwertung auf Platz 35 und erreichten bei den Singvögeln einen ebenso beachtlichen 25. Platz.
Wie wird es nächstes Jahr? Wie wird das Wetter? Gibt es zusätzliche Teams? Haben die Politiker endlich Ernst gemacht mit der Bewahrung respektive Steigerung der Biodiversität? Man weiß es nicht (oder leider doch), freut sich aber kindlichen Gemüts jetzt schon auf die nächste Runde.
Hans-Heinrich Dörrie