Göttinger Kiessee: Vogelschutz und Wassersport im Clinch

Kiessee - H.H.Dörrie
Abb. 1: Blick vom Südufer. Foto: H. Dörrie

Am 17. Oktober 2014 meldete das „Göttinger Tageblatt“: „Zwei Drachenboote für den Göttinger Kiessee“. Von der lokalen Sparkasse finanziert und mit jeweils 20 Paddlern, einem Trommler und einem Steuermann bestückt, sollen sie 2015 an den Start gehen. Ein Vogelkundler sah darin einen Verstoß gegen die Kiesseeverordnung von 1974 und drohte mit Klage.

Die Kiesseeordnung kennen heute zwar nur wenige, gleichwohl ist sie – obwohl in der Vergangenheit permanent gegen sie verstoßen wurde – immer noch in Kraft. Jetzt wurden Stadtverwaltung und Wassersportvereine munter und in der Lokalpresse gab es Leserbriefe hin und her. Am 11. Februar 2015 fand im Neuen Rathaus eine Diskussionsrunde zur Neufassung der Kiesseeordnung statt, an der sich Vertreter der Verwaltung, Sportfunktionäre und Naturschützer beteiligten. Dazu hatten der Arbeitskreis Göttinger Ornithologen (AGO) und der Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND), Kreisgruppe Göttingen, einen Forderungskatalog mit Erläuterungen vorgelegt:

“Anmerkungen und Vorschläge zur Neufassung der Kiesseeordnung

Vorbemerkung

Am Göttinger Kiessee brüten aktuell ca. 60 Vogelarten. Gegenüber 1966 (20 Brutvogelarten) ist dies eine Verdreifachung des Artenspektrums. Die Zunahme basiert in erster Linie auf Gehölzsukzession und der Alterung des Baumbestands. Während es nahezu jährlich Neuansiedlungen aus der Gilde der Baum(höhlen)-, Gebüsch- und Bodenbrüter gibt, liegt die letzte Neuansiedlung in Röhrichtbeständen (Haubentaucher 1998) mehr als 15 Jahre zurück.
Wegen seines Vogelreichtums – bis dato wurden über 220 Arten nachgewiesen! – und der optimalen Beobachtungsbedingungen hat sich der Kiessee zum Magnet für Naturbeobachter und –fotografen entwickelt. In ihrer Zahl stehen sie mittlerweile den Wassersportlern nicht nach.

1. Röhrichtbrüter als Sorgenkinder

Die meisten Brutvogelarten sind gegenüber dem Freizeitbetrieb zu Lande recht unempfindlich. Selbst Massenveranstaltungen wie der Frühjahrslauf oder der Aktionstag gegen Bluthochdruck scheinen sich nicht negativ auf Ansiedlungsverhalten und Bruterfolg der Baum-, Gebüsch- und Bodenbrütern auszuwirken.
Anders sieht es bei Röhrichtbrütern aus, die Schwimmnester anlegen. 2014 waren nur sechs von 15 Bruten des Haubentauchers an seinem einzigen Göttinger Brutplatz erfolgreich. Lediglich acht Jungvögel erlangten die Flugfähigkeit, die letzten Ende Oktober. Trotz Zunahme des Brutbestands bringen alljährlich nur maximal drei Paare, die in der Regel zweimal brüten, überhaupt Nachwuchs hervor. Wie in den Vorjahren hatte die Mehrzahl der Paare (2014 vier von sieben) das Gebiet bis Ende Mai wieder verlassen. Auffällig ist zudem, dass aus den arttypischen Vierergelegen jeweils maximal nur zwei Junge schlüpften. Eine vergleichbar geringe Reproduktionsrate weisen auch die am Kiessee mit drei bis vier Paaren brütenden Teichhühner auf.
Wasservögel verlieren nicht selten Gelege und Jungvögel an Prädatoren aller Art. Ein überdurchschnittlich hoher Druck von Gelege- und Jungvogelräubern liegt jedoch nach unseren Beobachtungen für den Kiessee nicht vor. Dagegen sprechen auch die alljährlich guten Reproduktionsraten der bereits ab Februar/März brütenden Graugänse und Stockenten. Darüber hinaus macht sich Prädationsdruck erfahrungsgemäß während der gesamten Brutsaison bemerkbar und nicht nur im späten Frühjahr. All dies lässt den Schluss zu, dass der Bruterfolg der Haubentaucher übermäßig durch Wassersportaktivitäten beeinträchtigt wird, die jedes Jahr in der traditionellen Regatta in der letzten Maidekade kulminieren.

Haubentaucher - N.Vagt
Abb. 2: Brütender Haubentaucher. Foto: N. Vagt

Der Haubentaucher ist eine geschützte Vogelart, die in Niedersachsen und auch bundesweit einen negativen Bestandstrend aufweist. Nach § 44 BNatSchG ist es verboten, die Niststätten geschützter Vogelarten zu zerstören oder zu beeinträchtigen. Während der Regatta wird ein Großteil des kleinen Gewässers mit Seilen bespannt, an denen Markierungsbojen befestigt sind. Dadurch wird die Nahrungssuche der Vögel zusätzlich erschwert. Zur nahezu flächendeckenden Beanspruchung durch Bootsfahrten tritt der hohe Wellengang während der Rennen, der Schwimmnester gefährdet.
Um den Erfolg der maßgeblichen Erstbruten des Haubentauchers und den Erhaltungszustand seiner Population zu verbessern, fordern wir:

– die Verlegung der Regatta in den Sommer

Von dieser Regelung würden auch andere Wasservogelarten profitieren, die ihre Jungen stressärmer aufziehen könnten. Wir verweisen darauf, dass das niedersächsische Landesturnfest, das 2016 in Göttingen unter Inanspruchnahme des Kiessees stattfinden soll, bereits aus Artenschutzgründen vom Mai auf Ende Juni verlegt worden ist. Was für diese Veranstaltung vereinbart wurde, sollte in Zukunft auch für die Regatta gelten.
Bisher hat man bei der Bespannung im Vorfeld der Regatta auch Röhrichtbestände mit Seilen durchquert, die am Ufer befestigt wurden. Um ein ungestörtes Brüten von Röhrichtbewohnern, zu denen auch Teichrohrsänger, Rohrammer und Teichhuhn zählen, zu gewährleisten fordern wir, dass in Zukunft bei der Bespannung

– die Röhrichtbestände ausgenommen werden

Haubentaucher und Blässhühner brüten mittlerweile vermehrt auf umgestürzten Ästen, die ins Wasser ragen. Dies betrifft vor allem den Uferbereich an und im Umfeld der Vogelschutzinsel. Hier können Boote kaum noch manövrieren, so dass eine unmittelbare Gefährdung von Nestern und Gelegen existiert. Darüber hinaus haben einige Bootsfahrer im Erklettern der Äste eine neue Freizeitbeschäftigung entdeckt. Daraus leitet sich – über das bereits bestehende Betretungsverbot für die Insel hinaus – folgende Forderung ab:

– das Umfahren der Vogelschutzinsel und das Verlassen der Boote während der Fahrt wird untersagt

In den Regelwerken und Verhaltenscodices für Bootsfahrer ist bereits die Anweisung enthalten, einen Abstand zu Röhrichtbeständen einzuhalten. Dies sollte verbindlich dahingehend konkretisiert und in der Satzung festgeschrieben werden, dass während der Fahrten

– ein Mindestabstand von 20 Metern zum Uferbereich

einzuhalten ist.

Die Kapazitätsgrenze des Kiessees für Wassersportaktivitäten ist aus unserer Sicht schon seit langem erreicht. Eine weitere Öffnung für Trendsportarten (Drachenboote, Water Walking Balls, Stehpaddeln etc.) ist weder mit der geringen Größe des Gewässers (13 Hektar) noch mit den Erfordernissen des Natur- und Artenschutzes vereinbar. Deshalb sollte die neue Kiesseeordnung dahingehend präzisiert werden, dass nur

– Wasserfahrzeuge (Ruder-, Paddel-, Tretboote und Kanus) mit einer Größe und Kapazitätsgrenze von maximal vier Personen

zugelassen sind. Der in der Kiesseeordnung gestattete Betrieb von Schlauchbooten, der ohnehin kaum noch eine Rolle spielt, kann wegfallen. Für Segelboote gilt die bisherige Regelung.

2. Beeinträchtigungen von gefiederten Wintergästen

Der Kiessee ist mittlerweile ein Rast- und Überwinterungsgebiet von regionaler Bedeutung. Die Zahlen aus den letzten Wintern von regelmäßig bis zu 50 Gänsesägern, 100 Kormoranen, 30 Graureihern, vier Silberreihern, drei Eisvögeln sowie zahlreichen Möwen, Enten und Gänsen diverser Arten sind durchaus mit denen in Naturschutzgebieten wie z.B. dem Seeburger See vergleichbar. Im Winter werden Rastvögel und Überwinterer, die sich in der Regel bemannten Booten gegenüber erheblich scheuer verhalten als die ansässigen Brutvögel immer wieder von (einzelnen) Wassersportlern aufgescheucht und zum Verlassen des Gebiets gezwungen. Der damit verbundene Stress und Kräfteverschleiß stellt gerade in der kalten Jahreszeit eine erhebliche Beeinträchtigung dar. Auch dies steht den Vorgaben des § 44 BNatSchG entgegen. Daraus ergibt sich die Forderung nach einer

– Winterruhe des Wassersports vom 1. November bis zum 15. März

Weil Trainingsbetrieb und Bootsverleih ohnehin ab dem 1. November eingestellt werden, wäre eine obligatorische Winterruhe nur die Festschreibung des Ist-Zustands. Aktivitäten von ein oder zwei Wassersportlern, die während der faktischen Winterruhe immer wieder für die Entwertung des Kiessees als Rast- und Überwinterungsgebiet von Wasservögeln sorgen, sind aus Sicht des Natur- und Artenschutzes nicht hinnehmbar.

Möwenverscheucher - M.Siebner
Abb. 3: Wassersportler treibt im „Märzwinter“ 2013 ausgehungerte Lachmöwen vor sich her. Foto: M. Siebner

Das Eislaufen ist auf dem Kiessee nur in wenigen Wintern und an wenigen Tagen möglich (im Schnitt etwa alle acht Jahre). In den letzten Jahren war das Gewässer wegen der beiden Zuläufe von der Leine niemals komplett zugefroren. Bisweilen kommt es vor (z.B. im Januar 2006), dass sich Schlittschuhläufer und andere Freizeitnutzer im zugefrorenen Nordbereich tummeln, während im eisfreien südlichen Drittel noch zahlreiche Wasservögel auf Nahrungssuche gehen. 2006 wurde der Eislaufbereich aus Sicherheitsgründen durch weißrote Markierungen begrenzt, so dass Mensch und Vogel sich nicht in die Quere kamen. Gleichwohl sollte zum Schutz der ausharrenden Vögel §5,1 der Kiesseeordnung verbindlich dahingehend präzisiert werden, dass beim Eislaufbetrieb

– eine Pufferzone von mindestens 80 Metern zur offenen Wasserfläche einzurichten und entsprechend zu markieren ist

Wenn es zum weitgehenden Zufrieren des Sees mit einer tragfähigen Eisdecke kommt, sollte das Eislaufen als beliebte Freizeitbetätigung im Vordergrund stehen. Um Lärmpegel und Freizeitdruck in einem Landschaftsschutzgebiet in Grenzen zu halten, sollte – vor dem Hintergrund entsprechender Vorhaben in der Vergangenheit – in die neue Kiesseeordnung ein Passus eingefügt werden, der

– den Betrieb von Würstchenbuden, Glühweinständen, mobilen Diskotheken u.ä. auf dem zugefrorenen Kiessee untersagt

Wir betonen mit Nachdruck, dass Wassersport und Bootsverleih ihren festen Platz im Naherholungsgebiet Göttinger Kiessee haben. Dies soll auch so bleiben. Unsere fachbezogenen Forderungen haben lediglich zum Ziel, in Zukunft den gesetzlichen Vorgaben des Natur- und Artenschutzes Rechnung zu tragen und zu einem gedeihlicheren Nebeneinander von Mensch und Vogel zu gelangen.

Göttingen, den 1. Februar 2015 – Arbeitskreis Göttinger Ornithologen (AGO), Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND), Kreisgruppe Göttingen“

Vorläufiges Ergebnis der Diskussion: In die Angelegenheit kommt Bewegung. Eine zeitliche Verschiebung der Regatta in den Sommer zeichnet sich ab. Die Verwaltung schlägt Schutzzonen entlang von Röhrichtbeständen vor, die mit Bojen zu markieren sind. Unklar ist, ob es beim Umfahren der Insel zu einer Einigung kommt. Der tiefe Dissens bezüglich der Drachenboote und einer obligatorischen Winterruhe besteht unvermindert fort. Demnächst gibt es einen gemeinsamen Ortstermin aller Akteure, dem eine weitere Diskussion folgen soll. Bis dahin bleibt zu hoffen, dass sich die Öffentlichkeit weiterhin des Themas annimmt und den Naturschutz unterstützt. Kritische Mails an die Untere Naturschutzbehörde werden sicher mit großem Interesse entgegengenommen…

Der nächste Konflikt lässt nicht auf sich warten: Die Planungen für einen Golfplatz auf der ehemaligen Bauschuttdeponie Geismar, einem der vogelreichsten Gebiete im Stadtgebiet, werden derzeit von der Göttinger Sport und Freizeit GmbH beschleunigt vorangetrieben. Dazu gibt es eine Stellungnahme der Bürgerinitiative Göttinger Süden und der Biologischen Schutzgemeinschaft aus dem Jahr 2009, die unversehens an Aktualität gewonnen hat.

Hans H. Dörrie & Moritz Otten