Klimawandel: Wenn der Dompfaff ins Schwitzen kommt

Ein männlicher Gimpel (Pyrrhula pyrrhula) frisst - Silvio Paul
Abb. 1: Rotgelaufener Gimpel. Foto: Silvio Paul

In Deutschland sind Papageitaucher, Doppelschnepfe, Eistaucher, Bartgeier und Goldregenpfeifer in besonderem Maße vom Klimawandel bedroht. Wie bitte? Wer’s nicht glaubt, lese bitte hier. Weil das Ergebnis einer Schreibtisch-Datenbankrecherche im Auftrag des Bundesamts für Naturschutz von 2011 allzu bizarr ausfiel, gibt es jetzt einen neuen Anlauf, den Dauerbrenner „Vögel und globale Erwärmung“ in Betrieb zu halten. Das Umweltbundesamt (UBA) hat jüngst einen Bericht zu den Auswirkungen des Klimawandels in Deutschland samt Gegenmaßnahmen herausgebracht, der hier zum Download bereitsteht. Über die umfangreiche Publikation, die weithin auf den üblichen Prognosen und Szenarien beruht, ließe sich eine Menge sagen, auch Positives. Weil sich diese Homepage aber mit nichts als Vögeln befasst, müssen andere Themenfelder außen vor bleiben.

Auf S. 91 taucht, natürlich, als Erster der unvermeidliche Trauerschnäpper auf, der als vermeintliches Opfer des Klimawandels „zu spät“ ankommt bzw. „zu spät“ mit der Brut beginnt, um den Massenschlupf von Beutetieren zur Jungenaufzucht nutzen zu können. Ob dieses immer wieder zitierte „Mismatch-Szenario“ aus zwei niederländischen Waldgebieten wirklich repräsentativ ist oder nur ein lokales Phänomen, das auf dem hohen Anteil gebietsfremder bis exotischer Baumarten beruht, wird nicht weiter thematisiert. Immerhin wird eingeräumt, dass es „für Deutschland keine breit angelegten Untersuchungen oder systematischen Beobachtungen der Folgen … solcher Verschiebungen gibt“. Wohl aber, bleibt anzumerken, erste Gegenbeispiele, die dem “Mismatch-Szenario” widersprechen (vgl. Vogelwarte 52:287 für die Kohlmeise). Dann kommen die Autoren in Fahrt. Auf S. 92 heißt es noch durchaus zutreffend: „Eine alleinige Ursache für den Wandel von Artengemeinschaften und den Rückgang oder Ausfall einzelner Arten gibt es i.d.R. nicht“. Allerdings: „Wissenschaftliche Untersuchungen belegen jedoch (! – HD), dass Klimaveränderungen hierbei eine entscheidende (! – HD) Rolle spielen können“. Das ist zweifellos korrekt – die letzte Eiszeit ist nicht so lange her -, klingt aber im vorliegenden Kontext mehr wie eine forsche Behauptung. In diesem Duktus geht es weiter. In den Jahren 1990 bis 2010 sollen „sich die relativen Häufigkeiten zu Gunsten wärmeliebender Arten bzw. zu Ungunsten kälteliebender Arten in statistisch signifikanter Weise verschoben“ haben. Eine Definition, welche Vogelart als kälte- oder wärmeliebend gilt, wird leider nicht gegeben. Dies wäre aber wichtig, um beurteilen zu können, um welche Arten es im Einzelnen geht. Wird z.B. die ubiquitäre, im Bestand stark zunehmende Mönchsgrasmücke, die auch das Innere dunkler Wälder besiedelt, als wärmeliebend eingestuft? Zudem bleibt unklar, welche statistischen Verfahren hier zur Anwendung gelangten. “Relative Häufigkeit” kann ja auch bedeuten, dass eine Art absolut seltener, aber auf ein verändertes Artenspektrum bezogen “relativ häufiger” wird. Was dies letztlich aussagt, wäre eine Diskussion wert.
Als Beleg für die Verschiebung innerhalb des Brutvogel-Artenspektrums präsentieren die Autoren eine Graphik, die auf Ergebnissen aus dem Monitoring häufiger Brutvogelarten (MhB) des Dachverbands Deutscher Avifaunisten (DDA) basiert.

Abb. 2: Temperaturanstieg und Klimaindex

Demnach ist die gemittelte Jahrestemperatur zwischen 1990 und 2010 von 12,2°C auf wenig mehr als 12,3°C gestiegen. Gleichzeitig stieg der durchschnittliche Temperaturindex von 88 häufigen Brutvogelarten ebenfalls um 0,1°C. Da kommen ein paar Fragen auf. Liegt hier wirklich, wohlgemerkt auf der Basis eines – mit dem statistischen Kniff des „gleitenden Fünfjahresmittels“ errechneten – Temperaturanstiegs im gerade noch messbaren Bereich, eine Kausalität vor oder, wie so oft, nur eine schnöde Korrelation? Was heißt in dieser minimalen Größenordnung „statistisch signifikant”? Wie macht sich die „Verschiebung zu Gunsten wärmeliebender Arten“ prozentual bzw. in den Dominanzwerten bemerkbar? Ebenfalls nur um 0,1 Prozent? Ist es überhaupt sinnvoll, für 88 Vogelarten mit höchst unterschiedlichen Habitatansprüchen und Verbreitungsmustern einen durchschnittlichen Klimaindex festzulegen, ohne die reale Bestandsentwicklung der betreffenden Arten einzubeziehen? Wer sich für die quadrierten Indizes interessiert, die den Berechnungen zu Grunde liegen, kann sie im neuen Brutvogelatlas ADEBAR studieren. Dort stehen sie ab S. 756, unvermittelt und ohne jeden Kommentar, als Ansammlung von Kurven, die den Leser zunächst ratlos machen. In den Erläuterungen zu den modellierten Dichtekarten von MhB-Arten wird jedoch Bezug auf sie genommen, was das Verständnis etwas erleichtert.
Im UBA-Bericht werden die Erkenntnisse popularisiert: Die “artspezifischen Temperaturansprüche sind beispielsweise bei der Wacholderdrossel, dem Fitis und dem Gimpel niedriger (die Ansprüche oder die Temperaturen? – HD) als beim Schwarzkehlchen, dem Gartenbaumläufer, der Grauammer und der Nachtigall“ – wobei anzumerken ist, dass für die genannten Beispiele im Atlas nur der Klimaindex für den Gartenbaumläufer enthalten ist. In seinem Artkapitel wird ein negativer Einfluss verregneter Frühjahre auf den Bruterfolg erwähnt. Dieser kann aber auch bei vermeintlich kälteliebenden Arten ähnlich gravierend ausfallen. Man erinnere sich nur an den verregneten Mai 2010, der zahllose Bruten selbst von robusten Höhlenbrütern wie Kohlmeise und Co. zum Scheitern brachte. Egal: „Nehmen bedingt durch den Klimawandel die Temperaturen zur Brutzeit im langfristigen Mittel (0,1°C seit 1990 oder 1,2°C seit 1881? – HD) zu, dann finden wärmeliebende Arten bessere Bedingungen vor und werden im Vergleich zu anderen Vogelarten häufiger. Umgekehrt werden kälteliebende Arten im Vergleich zu anderen Arten seltener“. Ach wenn es nur so einfach wäre! Diese Perle protoökologischer Klotzarithmetik wird man in nächster Zeit in der Tagespresse und offiziösen Verlautbarungen sicher rauf und runter zitiert sehen… Aber ist das Szenario überhaupt stimmig?
Betrachten wir die genannten Arten etwas genauer und beginnen mit dem angeblich kälteliebenden Fitis, der jedoch die warmen bis heißen Sommer von Skandinavien bis Jakutien durchaus zu schätzen weiß. Beruht sein rezent dramatischer Bestandsrückgang in einigen Bundesländern auf dem Anstieg der Jahresdurchschnittstemperatur um 0,1°C? Natürlich nicht. Im Brutvogelatlas werden als treffende Erklärung „Änderungen in der Waldbewirtschaftung“ angeführt, u.a. der Verzicht auf Kahlschläge.

Ein Fitis oder Weidenlaubsänger (Phylloscopus trochilus) im Frühling
Abb. 3: Fitis – wird es ihm in Deutschland bald zu warm? Foto: Mathias Siebner

Ist der im Atlas dokumentierte (kurzfristige) Bestandsrückgang der Wacholderdrossel ein Indiz, dass es kälteliebenden Arten in Deutschland schlechter geht? So etwas zu behaupten wäre vermessen, weil diese Vogelart hinsichtlich ihrer Ausbreitungs- und Bestandsdynamik immer noch viele Rätsel aufgibt.
Dies gilt mit Abstrichen auch für den Gimpel, eine schwer erfassbare Art mit Verbreitungsmustern, die sich einer schlüssigen Interpretation entziehen.
Hängt der, mit jährlichen Schwankungen, positive Trend der Nachtigall mit der minimalen Erwärmung hierzulande zusammen? Wohl kaum. Die Nachtigall ist ein klarer Gewinner eutrophierungsbedingter Sukzessionsprozesse; zudem kommen ihr wohl auch die insgesamt höheren Niederschläge in den Überwinterungsgebieten am Südrand der westlichen Sahelzone zu Gute.
Ist die rasante Bestandszunahme des Schwarzkehlchens in irgendeiner Weise klimainduziert? Im Atlas steht dazu nichts. Vielmehr wird darauf verwiesen, dass die Ausbreitungsfaktoren noch nicht verstanden werden. Gleichwohl könnte die anhaltende Expansion zumindest in Niedersachsen zum Teil darauf beruhen, dass sich in niederländischen Poldern und nach großflächigen Renaturierungsmaßnahmen in nordwestdeutschen Moorkomplexen kopfstarke Quellpopulationen herausgebildet haben, die in andere Landesteile ausstrahlen.
Spricht nicht der im Atlas dokumentierte Bestandszusammenbruch der Grauammer in weiten Teilen Westdeutschlands (und neuerdings auch in Ostdeutschland, wo sie zuvor von ausgedehnten Flächenstilllegungen profitieren konnte) gegen das Trugbild der vergleichsweisen Zunahme wärmeliebender Arten? Stehen die Brutpopulationen der Ödlandarten Haubenlerche und Brachpieper, denen es den Klimaprognosen zufolge eigentlich besser gehen sollte, in den meisten Regionen nicht kurz vor dem Erlöschen, weil Sukzessionsprozesse und Nutzungsaufgabe (u.a. von Truppenübungsplätzen) die letzten nährstoffarmen Offenflächen zuwachsen lassen?
In Göttingen wird der einstmals häufige Girlitz, eine thermophile Lichtwaldart mediterranen Ursprungs, immer seltener. Dies stimmt mit dem negativen Bestandstrend in vielen Bundesländern überein. Der Rückgang ist kein Paradox, sondern der Tatsache geschuldet, dass sein Lebensraum durch Gehölzverdichtung immer dunkler, kühler (!) und damit unwirtlicher wird. Wie der Girlitz gehen in Süd-Niedersachsen und anderswo auch andere Lichtwaldarten wie Baumpieper, Bluthänfling und Gelbspötter durch Lebensraumverlust im Bestand zurück bzw. sind, wie der Gartenrotschwanz, im Wesentlichen auf kleine Verbreitungsinseln (Kleingärten mit vegetationsarmen Offenstellen) reduziert. Mit klimatischen Veränderungen hat all dies nichts zu tun, sondern weitaus mehr mit dem großflächigen Verfrachten und Abregnen düngender Stickstoffverbindungen aus Automobilverkehr und Landwirtschaft. Ein wie immer gearteter „Temperaturanstieg zur Brutzeit“ bleibt für wärmeliebende Arten ohne Effekt, wenn der Brutplatz zugewachsen oder wegen Beschattung zu kühl (und insektenarm) geworden ist. Die wenigen Beispiele zeigen, dass in der Realität von einer allgemeinen Verschiebung des Spektrums zu Gunsten wärmeliebender Arten ernsthaft nicht die Rede sein kann. Auch der dramatische Bestandsrückgang vieler, zumeist wärmeliebender Agrarvogelarten spricht dagegen. Es wäre interessant zu erfahren, welche Arten überhaupt, ob nun wärme- oder kälteliebend, bei der Verschiebung den Ausschlag gegeben haben sollen. Turteltaube und Rebhuhn dürften mit Sicherheit nicht zu ihnen zählen…

Ein männlicher Girlitz (European Serin), Serinus serinus.
Abb. 4: Der Girlitz: Ein wärmeliebender Finkenvogel mit Problemen. Foto: Mathias Siebner

Beim Blick über den Tellerrand kann man sich verlässlich auf die Artkapitel im Brutvogelatlas stützen, deren Aussagen in der Regel um Einiges erhellender ausfallen als die steilen Thesen im UBA-Bericht. Man lese nur das Kapitel zum Bienenfresser („Kronzeuge des Klimawandels“), dessen Bestandszunahme „möglicherweise (! – HD) mit klimatischen Veränderungen zusammenhängt“, aber eben auch “mit dem Anstieg der südeuropäischen Populationen” und, wie man hinzufügen könnte, dem verbesserten Schutz der Kolonien vor menschlichen Störungen, der gedeihliche Reproduktionsraten ermöglicht.
Peinlich wird es, wenn vom UBA ausgerechnet der Orpheusspötter als „Gewinner des Klimawandels“ ins Feld geführt wird. Darauf ist zuvor wohl niemand gekommen. Im sehr gelungenen Atlaskapitel wird verdeutlicht, dass die Expansion dieses “Sozialbrachvogels” bereits in den 1930er Jahren einsetzte und seit den 1990er Jahren stagniert. Übrigens: Der im Atlas enthaltene bemerkenswerte Vorposten im nordhessischen Bergland beruht auf einer Verwechslung mit singenden Sumpfrohrsängern (vgl. den Seltenheitenbericht 2010 der Deutschen Avifaunistischen Kommission).
Fazit: Wieder einmal wird – unter souveräner Vernachlässigung essentieller ökologischer Parameter wie Eutrophierung, Landnutzung und Populations- bzw. Ausbreitungsdynamik – zum Thema „Klimawandel und Vögel“ ein ziemlicher Mumpitz unter die Leute gebracht. Die aufwendigen Berechnungen mit dürftigem Resultat hätte man sich eigentlich sparen können. Ein entspannter Blick auf die Wirklichkeit belegt: Derzeit machen sich klimatische Veränderungen, wenn überhaupt, bei vielen Brutvogelarten eher positiv bemerkbar. Frühere Ankunft im Brutgebiet und zeitiger Legebeginn sind für Kurzstreckenzieher durchaus von Vorteil, vereinzelt und regional sehr unterschiedlich auch für Weitstreckenzieher wie den Teichrohrsänger. Dies zeigt, wie plastisch Vögel auf klimatische Veränderungen reagieren können. Als, neben den holländischen Trauerschnäppern, eines der wenigen „Opfer des Klimawandels“ wird immer wieder die Eiderente ins Feld geführt. Sie hat in warmen Wintern Probleme bei der Verwertung von Miesmuscheln, die stressbedingt Fett abbauen und deshalb für das Überleben der Vögel zu mager sind. Die verheerenden Auswirkungen der rabiat betriebenen Muschelfischerei tun ein Übriges. Gleichwohl ist der langjährige Bestandstrend in Deutschland positiv und der Brutbestand nach den Atlasdaten stabil. Für das populäre “Mismatch-Szenario” des Kuckucks, der “zu spät” ankommt, um seine Wirtsvögel im passenden Zeitraum zu parasitieren fehlt immer noch jeder stichhaltige Beleg.

Abb. 5: Kommt im niedersächsischen Bergland nicht früher zurück, anderswo schon: Teichrohrsänger. Foto: Mathias Siebner

Erfreulicherweise hat in der unsubventionierten Fachwelt ein Umdenken eingesetzt. Immer mehr wird akzeptiert, dass klimatische Einflüsse – nicht zu verwechseln mit witterungsbedingten Kalamitäten, die wie der „Märzwinter 2013“ kurzfristig eine enorme Wirksamkeit entfalten können! – sich derzeit auf die Bestandsdynamik von Vogelarten um ein Vielfaches geringer auswirken als die teils desaströsen Folgen von geänderten Praktiken der Landnutzung, insbesondere der industriell betriebenen Landwirtschaft. Vor diesem Hintergrund ist es sehr bedauerlich, dass die vom DDA größtenteils ehrenamtlich erhobenen Daten für Publikationen verwurstet werden können, deren einziger Zweck in Sachen Vögel darin besteht, den politischen Entscheidungsträgern (Stichwort „Energiewende“) irgendetwas zu liefern, auf das sie sich plakativ stützen können – und sei es noch so dünn. Wie das geht? Ganz einfach: Folge der Spur des Geldes…

Hans H. Dörrie

Nachtrag vom 9. Juni 2015:
Zu den “wärmeliebenden Vogelarten” zählen im Rahmen des Klimafolgenmonitorings in Nordrhein-Westfalen: Blässhuhn, Buntspecht, Eisvogel, Gartenbaumläufer, Grünspecht, Haubentaucher, Hausrotschwanz, Jagdfasan, Kernbeißer, Kleiber, Mehlschwalbe, Mönchsgrasmücke, Schleiereule, Steinkauz, Teichhuhn, Wachtel, Waldkauz, Waldohreule, Zaunkönig und Zilpzalp. Offensichtlich werden in der Mehrzahl Arten gelistet, die von milden Wintern profitieren. Aber ist das gleichzusetzen mit dem ökologischen Terminus “wärmeliebend”? In der Aufzählung ist, bis auf den Sonderfall Wachtel, keine boden- oder bodennah brütende Agrarvogelart enthalten. Weitstreckenzieher sind deutlich unterrepräsentiert und Lichtwald- bzw. Ödlandarten gehen völlig leer aus. Bei einer solchen, aus fachlicher Sicht höchst fragwürdigen Auswahl ist das Ergebnis programmiert – was will man mehr… HD