Die Wahl unserer häufigsten Eule durch den NABU soll die Familie der gefiederten Nachtgeister und den bevorzugten Lebensraum ihres Protagonisten Waldkauz (Strix aluco), altholzreiche Laub- und Laubmischwälder, in den Blick der Öffentlichkeit rücken. Über den Erfolg der Aktion wird man Ende kommenden Jahres vielleicht mehr erfahren. So viel lässt sich aber jetzt schon sagen: Zur weltweit gerühmten Lebensqualität unserer Geistesmetropole („extra Gottingam non est vita – si est vita, non est ita“) zählt sicher auch, dass Waldkäuze in der Peripherie ohne größeren Aufwand angetroffen werden können – in Revieren, die seit Jahrzehnten besetzt sind. Dazu später mehr.
Verbreitung und Bestand
Im aktuellen niedersächsischen Brutvogelatlas (Krüger et al. 2014) wird der landesweite Brutbestand mit 4.000 bis 7.500 Paaren angegeben. Diese breite Spanne verdeutlicht die für viele Eulenarten typischen Erfassungsprobleme. Waldkäuze sind in der Regel nachtaktiv und können deshalb nur mit speziellen Begehungen registriert werden. Deshalb sind sie in den gängigen Monitoring-Programmen unserer Brutvögel nur ausnahmsweise vertreten. Zudem brüten sie in Wäldern, die zur Balz- und Brutzeit im Winter und zeitigen Frühjahr oftmals nur mit Mühe oder gar nicht zu passieren sind.
Die höchsten Siedlungsdichten erreicht unser Vogel in den buchenreichen Wäldern des süd-niedersächsischen Berglands. Die von Fichten dominierten Hochlagen sind erheblich dünner bis überhaupt nicht besiedelt. Der Bestand gilt in unserer Region seit Jahrzehnten als stabil – mit der Einschränkung, dass die Datenlage alles andere als zufriedenstellend ist. Gleichwohl rangiert die Art in der so genannten Vorwarnliste der Roten Liste der Brutvögel (Krüger & Nipkow 2015), weil mit der Ausräumung und Chemisierung der Agrarlandschaft (Nahrungshabitat) und der verstärkten Nutzung von Altholz (Brutplätze) durch die moderne Forstindustrie zwei Faktoren an Gewicht gewinnen, die zum Bestandsrückgang führen könnten. Zudem geht das seit 1988 laufende „Monitoring von Greifvögeln und Eulen“ von einem Bestandsrückgang aus, der in den 1990er Jahren einsetzte (Mammen & Stubbe 2009).
Der Brutbestand in Stadt und Landkreis Göttingen sowie im Altkreis Northeim kann sehr, sehr grob auf mindestens 500 Paare geschätzt werden. Zufallsbeobachtungen aus den letzten Jahrzehnten belegen, dass der Kauz in kaum einem größeren Waldgebiet zu fehlen scheint. Die einzige Bestandserfassung nach zeitgemäßer Methodik liegt für den Göttinger Stadtwald vor: Hier wurden von Februar bis Anfang Juli 2003 auf 758 Hektar (ca. 50 Prozent der Stadtwaldfläche) 14 Reviere ermittelt (Dörrie 2004), die einen überdurchschnittlich hohen Wert von 1,8 Rev./km² dokumentierten. Wie wenig die Art selbst von vogelkundlich Interessierten beachtet wird, lässt sich mit unserer Datenbank ornitho.de belegen: Aus dem waldreichen Landkreis Northeim liegen seit 2011 ganze 72 Wahrnehmungen (zumeist akustische) vor, darunter viele aus der ersten Maidekade, wenn das alljährliche Birdrace stattfindet, zu dem sich Göttinger Beobachter in den Solling aufmachen… Maidaten (spät) rufender Männchen sind für die Quantifizierung des Brutbestands aber von geringer Relevanz, weil sie auch Junggesellen betreffen können.
Gefährdung und Schutz
Bei der Brutplatzwahl ist der Waldkauz sehr flexibel. Er brütet in Höhlen aller Art (auch an Gebäuden), in Schornsteinen, selbst Bodenbruten sind bekannt. In offenen Baumnestern schreitet er nur ausnahmsweise zur Fortpflanzung. Ähnlich vielfältig ist sein Nahrungsspektrum, das von Insekten über Regenwürmer, Amphibien, Reptilien, Fische (!) bis zu Vögeln mittlerer Größe (kleinere Eulenarten eingeschlossen) reicht. Die Hauptnahrung stellen, wie bei anderen Eulen, Mäuse, Wühlmäuse und Ratten. Wegen der breiten Nahrungspalette leidet er weniger unter mäusearmen Kältewintern als z.B. Schleier- und Waldohreule (Mebs & Scherzinger 2000).
Seiner freundlich-gemütlichen Erscheinung zum Trotz ist der Waldkauz ein wehrhafter Geselle, der auch Konflikten mit dem Menschen nicht aus dem Wege geht. Die Autobiografie des berühmten, 1991 verstorbenen Vogelfotografen Eric Hosking trägt den hintersinnigen Titel „An Eye for a Bird“ – damit spielt der Autor auf einen höchst unliebsamen Vorfall mit einem aggressiven Waldkauz an, nach dem er einäugig durchs Leben gehen musste. Solche Attacken, die fast immer dem Schutz der Jungvögel dienen und zumeist mit ein paar Kratzern am Kopf des Eindringlings glimpflich enden, finden vor allem im Siedlungsbereich statt; im Wald verhalten sich die Vögel weitaus scheuer.
Feinde hat der Waldkauz vergleichsweise wenige: Ab und an (und deutlich seltener als Waldohreulen) fällt er einem Habicht oder Uhu zum Opfer (Uttendörfer 1939). Vermutlich ist seit einigen Jahren der Waschbär als Prädator von Eiern und Jungvögeln hinzugekommen. Diese Verluste fallen jedoch gegenüber den zahlreichen Verkehrsopfern kaum ins Gewicht. Viele Vogelfreunde dürften weitaus mehr tote als lebendige Waldkäuze gesehen haben. Auch Kollisionen mit Freileitungen oder letale Verletzungen an Weidezäunen mit Stacheldraht fordern ihren Tribut.
Dagegen zeigen ganze drei Totfunde in der bundesweit ausgerichteten Windkraftopfer-Datei (aktualisiert) der Vogelschutzwarte Brandenburg bis dato eine vermutlich geringe Gefährdung an. Mit der gleichermaßen großflächigen wie rücksichtslos betriebenen Verspargelung der Wälder hat sich jedoch, vor allem in Hessen und Rheinland-Pfalz, in jüngster Zeit ein neues Konfliktpotential entwickelt. Waldkäuze jagen gern über oder an Offenflächen im Wald, deren Zahl mit den Anlagen drastisch steigt. Kollisionen und Anstieg der Totfunde scheinen geradezu programmiert. Auch in Niedersachsen wachsen die Begehrlichkeiten, Windräder in Wäldern zu errichten. Bis jetzt ist das aber (noch) nicht möglich.
Wegen der weiten Verbreitung, Häufigkeit und Plastizität unseres Porträtvogels sind spezielle Schutzmaßnahmen derzeit nicht erforderlich. Ein nahezu unverzichtbares Habitatrequisit sind alte Höhlenbäume, zu deren Erhalt sich die Landesforstämter verpflichtet haben. Die Realität sieht leider oft anders aus, denn gerade an Wegen wird manch alter „Gefahrenbaum“ gefällt. Im Göttinger Stadtwald, der „naturgemäß“ und nach den Vorgaben des Forest Stewardship Council (FSC) bewirtschaftet wird, scheinen für unseren Freund ideale Bedingungen zu herrschen. Die „naturgemäße“ Bewirtschaftung mit ihrem Verzicht auf größere Auflichtungen hat jedoch zur Folge, dass der Baumbestand dichter und dunkler wird. Zudem verfilzt die Bodenvegetation als Folge von Nährstoffeinträgen immer mehr, hinzu tritt rasant empor schießender Jungwuchs. Die Käuze konzentrieren sich daher – das hat die Erfassung 2003 ergeben – entlang der Wege und auf die (wenigen) vegetationsarmen Offenflächen, wo sich die Mäusejagd weniger mühsam gestaltet. Besonders im Osten sind große Waldbereiche für die Eule nur noch bedingt nutzbar. Ein alter Höhlenbaum im dichten Bestand könnte daher für sie wenig bis nichts bringen.
Nistkästen für den Waldkauz sind aus den oben genannten Gründen nicht nur überflüssig, sondern können sogar äußerst negative Folgen für andere Vogelarten nach sich ziehen. Eine Nisthilfe, die vor ein paar Jahren auf der Streuobstwiese auf dem Kerstlingeröder Feld angebracht wurde, konnte zum Glück schnell wieder abgehängt werden. Mit der komfortablen Behausung hätte man den Terminator möglicherweise in ein traditionelles Revier der Waldohreule gelockt, was für diese vermutlich böse ausgegangen wäre…
Waldkäuze beobachten – wann und wo?
In Göttingen ist der Waldkauz nicht verstädtert. Vom Stadtfriedhof z.B. gibt es keinen Nachweis. In schneereichen Kältewintern suchen einzelne Vögel den dicht bebauten Siedlungsbereich auf. Einsam balzende Männchen sind aus dem Cheltenham-Park und dem stadteinwärts gelegenen Ostviertel bekannt, gaben aber dort wohl nur kurze Gastspiele. Am Stadtrand sieht es anders aus: Hier bestehen seit Jahrzehnten feste Reviere dieses ausgeprägten Standvogels. Wenn man im Spätwinter und Frühling die Schillerweisen im Ostviertel aufsucht, kann man die Männchen schon von weitem heulen hören (der Ruf ist Interessenten bestimmt aus dem Fernsehen bekannt, auch von Filmen, die in Irland spielen, wo die Art nicht vorkommt…). Die angrenzenden Stadtwaldbereiche (Molkengrund, Lange Nacht, Ebertal) sind ebenfalls sicheres Waldkauzterrain, das wegen der vielen Wege besonders dicht besiedelt ist. Im Umkreis des Kerstlingeröder Felds sind mehrere Reviere besetzt. Mit Glück lässt sich auf dem Dach der Schutzhütte nahe dem Tuchmacherborn ein im Tageseinstand dösender Waldkauz ausmachen (vgl. Abb. 4). Gut bekannt ist auch ein Revier am Klausberg. Hier bezogen die Käuze samt niedlichem Nachwuchs in mehreren Jahren einen am Nikolausberger Weg stehenden riesigen Nadelbaum, der leider beseitigt wurde. Die Vögel sind aber noch da – und sorgen bei den auf ihre Nachtruhe bedachen Anwohnern nicht nur für Freude. Die Jungvögel sind ähnlich ruffreudig wie junge Waldohreulen, allerdings klingen ihre Lautäußerungen nicht so quietschend, sondern mehr rostig kratzend. Ob ein 2008 an der Grone unterhalb des Hagenbergs entdecktes Revier (Dörrie 2011) noch besetzt ist, muss offen bleiben.
Das Wetter spielt bei der Eulenbeobachtung eine große Rolle. Es sollte nicht windig sein und auch nicht regnen. Die Temperaturen sind Nebensache, weil die Vögel auch in bitterkalten Frostnächten ihre Balzrituale zelebrieren. Die Balz setzt bereits im Juli wieder ein, so dass auch die Wintermuffel unter uns auf ihre Kosten kommen.
Wenn man den Nachtvogel nicht nur gehört hat, sondern (endlich) mal zu Gesicht bekommt, sind folgende Merkmale diagnostisch: Waldkäuze haben vergleichsweise kleine runde Köpfe und dunkle Augen. Ihr Gefieder fällt sehr variabel aus, es gibt tiefbraune bis sehr helle Individuen. Die fehlenden Federohren unterscheiden sie von der (kleineren und schlankeren) Waldohreule. Die Sumpfohreule mit ihren eher rudimentären Öhrchen kann mit einem Waldkauz verwechselt werden. Sie bezieht aber offene Lebensräume, ist tagaktiv und bei uns ein bestenfalls spärlich in Erscheinung tretender Gastvogel. Das scharfe „kuwitt“ der Weibchen wurde und wird nicht selten dem viel kleineren Steinkauz zugeschrieben, der in unserer Region seit mehr als 30 Jahren ausgestorben ist.
Bevor man nur noch Glück und Faszination bei der Beobachtung unseres Porträtvogels wünschen kann, eine ganz große Bitte: Junge, noch nicht flugfähige Waldkäuze stiefeln in ihrem ganz natürlichen Ästlingsstadium gerne auf dem Waldboden umher oder sitzen bräsig auf einem Baumstumpf. Diese Puschel sind weder „krank“, „aus dem Nest gefallen“ oder „von ihren Eltern verlassen“. Leider werden Ästlinge immer wieder von wohlmeinenden Spaziergängern „gerettet“ und in Pflegestationen verbracht, wo sie ein ungewisses Schicksal erwartet. Das muss nicht sein!
Nachtrag vom 13. März 2017: Im Göttinger Alten Botanischen Garten füttert ein Brutpaar derzeit drei schon recht große Jungvögel. Das ist die erste Brut am Rand der Göttinger Innenstadt und vielleicht ein kleines Dankeschön unseres Porträtvogels für die Ehrung!
Hans H. Dörrie
Literatur
Dörrie, H.-H. (2004): Zur Siedlungsdichte der Brutvögel in einem Kalkbuchenwald im FFH-Gebiet „Göttinger Wald“ (Süd-Niedersachsen). Naturkundl. Ber. Fauna Flora Süd-Niedersachs. 9: 76-106.
Dörrie, H.-H. (2011): Göttingens gefiederte Mitbürger. Streifzüge durch die Vogelwelt einer kleinen Großstadt. Zweite Aufl. Göttinger Tageblatt Buchverlag. Göttingen.
Krüger, T., J. Ludwig, S. Pfützke & H. Zang (2014): Atlas der Brutvögel in Niedersachsen und Bremen 2005-2008. Naturschutz Landschaftspfl. Niedersachsen, H. 47. Hannover.
Krüger, T. & M. Nipkow (2015): Rote Liste der in Niedersachsen und Bremen gefährdeten Brutvögel. 8. Fassung, Stand 2015. Inform.d. Naturschutz Niedersachsen 35: 181-260.
Mammen, U. & M. Stubbe (2009): Aktuelle Trends der Bestandsentwicklung der Greifvogel- und Eulenarten Deutschlands. Populationsökologie Greifvogel- und Eulenarten 6: 9-25.
Mebs, T. & W. Scherzinger (2000): Die Eulen Europas. Kosmos-Verlag.
Uttendörfer, O. (1939): Die Ernährung der deutschen Greifvögel und Eulen. Neumann- Neudamm Verlag, Melsungen. Nachdruck 1997, AULA-Verlag, Wiesbaden.