Das Birdrace 2017 in Süd-Niedersachsen

FxSchnabel - MSiebner
Abb. 1: Nur eine Art auf der langen Birdrace-Liste: ein Fichtenkreuzschnabel bei Ellershausen. Foto: M. Siebner

Die Regeln sind denkbar einfach: Ein Team, bestehend aus zwei bis fünf Personen, beobachtet und zählt auf dem Gebiet eines Landkreises an einem Kalendertag Vögel, oder genauer gesagt: Vogelarten. Gewertet werden darf jede Art, die von der Mehrzahl der Teammitglieder gesehen oder gehört und bestimmt wird. Seit 2004 organisiert der Dachverband deutscher Avifaunisten (DDA) dieses bundesweite Birdrace. Das Interesse daran nimmt seitdem beständig zu. Seit dem zweiten Jahr seines Bestehens findet das Spektakel unter süd-niedersächsischer Beteiligung statt. Mit den Spitzenplätzen in der Gesamtwertung haben die hiesigen Mannschaften aufgrund der geographischen Voraussetzungen nichts zu tun, das schmälert allerdings nicht den Enthusiasmus.

Die “Göttinger Sozialbrachvögel” sind zumindest dem Namen nach ein Team der ersten Stunde, wobei die Mannschaft (2017 bestehend aus Bela Bartsch, Shauna Grassmann, Karl Jünemann, Phil Keuschen und Birdrace-Veteran Mathias Siebner) seitdem nahezu komplett ausgewechselt wurde. Zudem gingen auch in diesem Jahr wieder Mischa Drüner und Maarten Mooij als “Dynamo avigoe” an den Start, und zwar verstärkt durch Andreas Wiedenmann. Seit einigen Jahren versuchen sich zudem auch regelmäßig Teams im benachbarten Landkreis Northeim. Wie schon im letzten Jahr traten Ole Henning, Severin Racky und Silvio Paul als “Leineuferläufer” dort an. Was Kurt Tucholsky über Familienfeiern wusste, klärt auch die Frage, warum ein Teil des traditionellen Birdrace-Teams “VIE will rock you!” (namentlich Daniel Hubatsch und Jonathan Rosenkranz) aus dem Kreis Viersen (NRW) in diesem Jahr als “Partizan Marzipan” im Kreis Northeim antrat: „Niemand geht gerne hin, aber wehe es fehlt einer!“ Und so kam die kuriose Situation zustande, dass sich das Zweierteam, der eine von Ilsede (Peine), der andere von Düsseldorf kommend, am Vorabend um 22 Uhr in Bad Lauterberg traf, um danach direkt Richtung Northeim aufzubrechen – einem Kreis, den beide noch nie zuvor betreten hatten und einzig aus hastigen ornitho-Recherchen kannten. Der Arbeitskreis Göttinger Ornithologen lässt den Tag des Rennens hier noch einmal Revue passieren.

Der Vorabend, 23:30 Uhr: Partizan Marzipan erreicht das Nachtlager. Nach einstündiger Fahrt erreicht das selbsternannte „Urlaubsteam“ bei dichtem Nebel einen Waldparkplatz im Solling und rollt im Auto die Isomatten aus – da ruft draußen schon der erste Raufußkauz. Für die Flachlandindianer eine tolle Art, für das Birdrace aber noch zu früh! Ärger hält nur auf, also gute Nacht. Nach ein paar unruhigen Stunden Schlaf „balzt“ um 4 Uhr der Wecker – erste Art Waldschnepfe! Nach diesem tollen Start fällt das Aufstehen umso leichter und wird beim Gang in den Wald mit Raufuß- und Sperlingskauz, Waldohreule und Waldkauz belohnt. Zurück am Auto angekommen, trifft das Team auf die Leineuferläufer. Bis zur Mittagszeit fahren beide Teams gemeinsam durch den Solling.

03:30 Uhr: Leineuferläufer starten ins Projekt Titelverteidigung. Nach einer unruhigen Nacht in einer eher durchschnittlich behaglichen Unterkunft in der Solling-Metropole Uslar und nach einem Kaffee bricht mit den Leineuferläufern das Siegerteam des Vorjahres auf der erfolgserprobten Route durch den Landkreis Northeim auf. Der Auftakt im Solling ist vielversprechend, bereits am ersten Haltepunkt kann der Raufußkauz auf der Liste mit einem Kreuzchen versehen werden und ruft auch an drei weiteren Stellen. Drei weitere Eulenarten kommen hinzu, ebenso etliche weitere der begehrten Waldarten, und das trotz Nebel. Eine weitere erfreuliche Überraschung hält die Morgendämmerung bereit: völlig überraschend stoßen die Leineuferläufer auf die zwei Beobachter des Teams Partizan Marzipan – die Runde durch den Solling wird also zu fünft fortgesetzt. Problematisch hingegen die Situation bei den Spechten: Mit Ach und Krach gelingt der Nachweis des Buntspechtes – darüber hinaus: Fehlanzeige.

Abb.2: Teambild der “Leineuferläufer”

03:40 Uhr: Auch Dynamo avigoe ist auf Achse. Frisch im Kopf, aber noch nicht im Körper, geht es zum Kerstlingeröder Feld. Kälte, Nebel und Wind scheuchen keine Vögel auf. Außer Singdrossel und Amsel ist es ruhig, und für jede Art muss gearbeitet werden. Der Grünspecht kommt nicht aus seiner Höhle heraus. Eine Strophe von Waldlaubsänger reicht glücklich. Später wird Dynamo avigoe während des Spaziergangs durch Schwarzspecht und nur wenige Baumpieper begleitet. Die anderen Charakterarten vom Kerstlingeröder Feld, d.h. Wendehals, Grauspecht und Neuntöter(!), können leider nicht dazugeschrieben werden. Während eine Mönchsgrasmücke ruft, erklingt ein anderes “Tack“. Eine Ringdrossel setzt sich oben in einen Baum. Dennoch fängt das Birdrace mau an.

3:50 Uhr: Teamversammlung der Sozialbrachvögel am Göttinger Stadtfriedhof. Kurz nach 4 Uhr morgens ist das ambitionierte Quintett bereit, einen langen Tag anzutreten und es kann bereits ein Rotkehlchen als erste Art des Tages verzeichnen. Im Bramwald angekommen, bringt das Wetter viel Nebel am Boden und Wind über den Baumkronen: Nur der Waldkauz meldet sich zu Wort. Ein sehr ernüchternder Anfang, da Eulen und Waldschnepfe still bleiben. Das Wetter sorgt auch dafür, dass die Turteltauben in Ellershausen nicht aufwachen wollen, hingegen aber ein Wildschwein. Ein überfliegender Pirol, fotogene Fichtenkreuzschnäbel und die oft fehlende Haubenmeise sorgen für gute Laune in der Truppe. Das Team entscheidet sich um 9:20 Uhr, auf Fahrräder umzusteigen und steuert auf den Kiessee zu. Hier können ein Zwergtaucher im Geäst, Trauer- und Grauschnäpper und ein Kormoran notiert werden. Ein Eisvogel an der Rase und ein rufender Waldwasserläufer sind wichtige Arten, bevor es mit dem Auto weiter geht.

Wiesenweihe - Dynamo avigoe
Abb.3: Allem Anschein nach eine männliche Wiesenweihe für das Team “Dynamo avigoe”. Foto: M. Mooij

09:24 Uhr: Dynamisch vom Siekgraben zur Ruhmeaue. Dynamo avigoes Hoffnung auf ein paar Zwergschnepfen am Siekgraben wird leider nicht erfüllt, ebenso auf die erhoffte Haubenmeise am Stadtfriedhof. Stattdessen endlich die erste Elster und ein Feldschwirl an der ehemaligen Tongrube und Wasseramseln am Hagenweg. Beim Zwischenstopp in Nikolausberg: ein Sperber über dem Hang. Bei Wollershausen fliegt eine Bekassine aus dem Schilf auf, und auch Braun- und Schwarzkehlchen zeigen sich in der wärmenden Mittagssonne. Eine am Himmel kreisende Weihe wird erst bei der Nachbestimmung anhand des Fotos als Wiesenweihe deklariert.

Dynamo avigoe Einsatzfahrzeug
Abb.4: Einsatzfahrzeug von “Dynamo avigoe” beim Boxenstopp bei einem Eichsfelder Qualitätsgastronom. Schärft die Wurst ebenso wie den Birder-Blick!

12:30 Uhr: Technischer Wechsel bei Partizan Marzipan. Am Freizeitsee Northeim angekommen, trennen sich die Wege der beiden Northeimer Teams. Nun mit dem Rad unterwegs, liefern die Kiesteiche für Partizan Marzipan schöne Arten wie Zwergmöwe, Schwarzhalstaucher, Schilfrohrsänger und Beutelmeise. Anschließend bringt die Geschiebesperre Hollenstedt die erhofften Limikolen und weitere schöne Arten auf die Liste. Gegen 14 Uhr wird die 100-Arten-Grenze geknackt – für das ortsfremde Team ein erster Teilerfolg. Weiter geht’s zum Leinepolder Salzderhelden, wo als Tageshighlights ein nur kurz zur Rast einfallender Kiebitzregenpfeifer wartet und aus einem Weidengebüsch ein wohl durchziehender Drosselrohrsänger knarrt.

13:00 Uhr
: Mittagspause mit Pizza, neuen Arten und gutem Wetter. Die Göttinger Sozialbrachvögel haben sich trotz großem Proviant im Garten ihres Birdrace-Ältesten zum Pizza essen versammelt, wo Birkenzeisig und Türkentaube planmäßig auf sich aufmerksam machen. Dank Karls großem Auto werden fix fünf Fahrräder verstaut, damit man auf das Kerstlingeröder Feld radeln kann. Hier herrscht bis auf einen Neuntöter und einen singenden Trauerschnäpper am Kehr absolute Stille. Nächster Stopp ist die Rhumeaue, wo nicht nur zwei Nilgänse zu sehen sind, welche sich demonstrativ auf einen Jäger-Hochsitz stellen und Krach machen. Auch Schwarzspecht, Grauspecht und Feldschwirl lassen von sich hören.

15:00 Uhr: Verschnaufen bei den Leineuferläufern. Zeit für ein Zwischenfazit. Die Leineuferläufer konnten auch den Vormittag recht erfolgreich nutzen. Mit Wendehals, Trauerschnäpper und Schilfrohrsänger konnten gleich mehrere gute Birdracearten eingestrichen werden, und auch der Zwischenstand von 102 Arten geht in Ordnung. Entsprechend zuversichtlich ist die Stimmung in der Kulinarik-Oase “City Grill” in Einbeck, die die Leineuferläufer beherbergen darf. Die Tour wird in Richtung Deponie Blankenhagen fortgesetzt, wo sich mit Dohle und Hohltaube problemlos zwei Lücken auf der Tagesliste schließen lassen. Besonders beeindruckend dort aber sind rekordverdächtige 220 Kolkraben. Problemvögel bleiben weiterhin: die Spechte…

16:30 Uhr
: Paukenschlag bei Dynamo avigoe – Ankunft in Seeburg, endlich flutscht es mal wieder! Die Limikolen, Entenvögel und Schafstelzen stocken die Liste in kurzer Zeit um etliche Arten auf. Das hebt die Moral. Und Wahnsinn: Eine Zitronenstelze, auf die andere Beobachter vor Ort aufmerksam machen. Dass die Tags zuvor dort beobachtete weibliche Zitronenstelze noch da sein würde, hatte wohl keiner einkalkuliert, aber dass nun mit einem Männchen gar extra ein neues Individuum eingeflogen wurde, nehmen die Birdracer dankbar zur Kenntnis.

18:00 Uhr
: Sozialbrachvögel treffen am letzten Beobachtungsort Seeburg ein. Ein ehemaliges Teammitglied und Maskottchen der Göttinger Sozialbrachvögel (Teamfoto!) leitete durch Rauchzeichen die Gruppe zu einem Gelbspötter am Lutteranger. Eine Kanadagans kam dort noch schnell dazu. Am Seeburger See angekommen ist es bereits 20:33 Uhr, und bei leckerem Kuchen, Gemüse und einem Bier kann man knapp 30 Schwarzhalstaucher, Trauerseeschwalben und einen Baumfalken beim Jagen beobachten. Da der Tag für die Göttinger Sozialbrachvögel im Zeichen der gelben Vögel mit Gelbspötter, Pirol und Zitronenstelze stand, ist es auch nicht verwunderlich, dass ein ganz knallgelbes Entenküken dann noch für den Abschluss sorgt.

19:30 Uhr
: Früher Abpfiff für Partizan Marzipan. Nach dem euphorischen Artensammeln macht sich ab dem späten Nachmittag mehr und mehr Unmut breit: bei der Suche nach tollen Arten in tollen Gebieten hat das Zweierteam keine Augen für einige Allerweltsarten gehabt: Teichhuhn, Hohltaube, Dohle, Grünspecht, Gimpel, und Feldsperling fehlen noch auf der Liste! So sollen bis zum Schluss zwar dennoch Hohltaube und Dohle auf der Liste fehlen, niemand sonst aber wird die grenzenlose Freude über den Ruf eines Teichhuhns verstehen können, das um 19:30 Uhr als letzte neue Tagesart seinen majestätischen Ruf in der Rhumeaue bei Lindau ertönen lässt. Am Ende stehen 116 Arten zu Buche und Partizan Marzipan die Müdigkeit ins Gesicht geschrieben.

21:45 Uhr: Aus, Schluss und vorbei bei den Leineuferläufern. Den Schlusspunkt setzt der Wachtelkönig, und mit Rebhuhn und Wespenbussard gelangten zuvor auch noch zwei unerwartete Arten auf die Liste. Doch insgesamt bleibt die letzte Station des Teams – der Leinepolder Salzderhelden – hinter den Erwartungen zurück: Zum Beobachten suboptimale Flächen und nur das “Pflichtprogramm” bei den rastenden Vögeln machen ein echtes Spitzenergebnis nicht möglich. Ob 122 Arten wohl für die Titelverteidigung ausreichen?

23:00 Uhr: Schweiß, Blut, Tränen – und der Sieg. Trotz des sehr holprigem Anfangs, und obwohl für die Göttinger Sozialbrachvögel der Waldkauz die einzige Eulenart des Tages bleibt, kommt das Team mit 125 Vogelarten auf den sicheren Sieg in der Regionalwertung und einen tollen, erlebnisreichen Tag.

Abb.5: Teambild der “Göttinger Sozialbrachvögel”

23.30 Uhr: Dynamo ohne Energie: Nach dem dicken Motivationsschub am späten Nachmittag wird es mit fortschreitender Dämmerung richtig dünn: keine Schleiereule, kein Blaukehlchen in drei Anläufen, keine Wasserralle, keine Wachtel, kein Rebhuhn. Und schließlich eine halbe Stunde vor Mitternacht keine Energie mehr. Wer sich so noch nicht gefühlt hat, weiß nicht, was müde heißt – zu müde, um gleich ins Bett zu gehen. Von der Konkurrenz um über zehn Arten überboten, dennoch glücklich.

Am Ende des Tages bleibt festzuhalten, dass die Mannschaft um Frontfrau Shauna Grassmann einen beeindruckenden Auftritt hingelegt hat und sich völlig zu Recht ein Jahr lang mit der Krone des Regionalmeisters schmücken darf. Es darf angenommen werden, dass das insgesamt verzögerte Frühjahr und die moderaten Wetterbedingungen am Wettkampftag das regionale Gesamtergebnis von insgesamt 143 Arten positiv beeinflusst hat. Mehr Arten wurden jedenfalls nur im Fabeljahr 2013 (148 Arten) beobachtet. Und augenscheinlich haben die sonst oftmals kniffligen Brutvogelarten (Heckenbraunelle, Schwanzmeise, Kernbeißer, Gimpel und Co.) in diesem Jahr deutlich weniger Probleme bereitet und sich einigen Teams gleich mehrfach aufgedrängt. Es bleibt also noch eine Menge zu fachsimpeln, bis im Mai 2018 der Startschuss für das nächste Birdrace fällt.

Die Ergebnisse aller Teams finden sich hier.

S. Paul

Vielen Dank an die Berichterstatter M. Drüner, D. Hubatsch und Phil Keuschen

Abb. 6-10: Impressionen vom 2017er Birdrace