Grünlaubsänger: Ein kleiner Vogel belebt Göttingen-Weende

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Abb. 1: Weender Grünlaubsänger. Foto: V. Hesse

Am 4. Juni 2018 gegen 6:55 Uhr, kurz vor Aufbruch zu einer Mitfahrgelegenheit am anderen Ende von Göttingen, wurde Alexander Sührig in seiner Wohnung durch die auf Kipp stehende Balkontür auf einen sich nicht sofort erschließenden Gesang aufmerksam, der nach längerem Anhören und Sichtung des Vogels – der Beobachter befand sich jetzt auf dem Balkon – als Gesang eines Grünlaubsängers (Phylloscopus trochiloides) identifiziert werden konnte. Der Vogel hielt sich in Koniferen im unmittelbaren Nahbereich des Hauses Uferweg 4 auf und entzog sich zunächst weiteren Wahrnehmungen.

Weil AS unter Termindruck stand, wurde die Beobachtung gegen 7:02 Uhr abgebrochen, nachdem der zuletzt exponiert in einer Fichte singende Vogel (singenderweise) von der Nord- auf die Südseite des Hauses Uferweg 4 geflogen war. Immerhin konnte – mehr schlecht als recht – auf die Schnelle ein Tondokument angefertigt werden.

Am Arbeitsplatz angekommen, stellte AS die Beobachtung nach kurzem Abgleich des Gehörten mit Gesängen von Grünlaubsängern auf xeno-canto.org umgehend in die Datenbank ornitho.de, um weiteren Interessierten die Möglichkeit einer zeitnahen Nachsuche und damit auch eine qualitätvollere Dokumentation zu ermöglichen. Die Rechnung ging dann auch auf und so ist es nicht zuletzt der engagierten Nachsuche und täglichen „Betreuung“ des Vogels durch Malte Georg zu verdanken, dass er bis zum 9. Juni von vielen weiteren aus nah und fern angereisten Vogelbeobachterinnen und -beobachtern – es waren wohl an die 40 oder mehr – gehört und gesehen werden konnte.

Die ersten Tage seiner Anwesenheit sang der Vogel nahezu unermüdlich während des überwiegenden Teils der Hellphase und konnte dabei trotz vieler Standortswechsel recht gut von seinen Bewunderern ausfindig gemacht werden. Die regelmäßigsten Gesangszeiten waren die frühen Morgen- bis Vormittagsstunden, wobei hier sogar der Nahrungserwerb und fliegende Standortswechsel von Gesang begleitet waren. Der überwiegend von exponiertem Standort vorgetragene, arttypische Gesang, der an einen laut vorgetragenen Mix der Gesänge von Bachstelze, Heckenbraunelle und Zaunkönig erinnert, variierte teilweise sehr im Strophenbau und Rhythmus. Ausschließliche Imitationen des Zaunkönigs anstelle des üblichen Gesangs, die von manchen Grünlaubsängern bekannt sind, brachte der Vogel nicht hervor. Das war auch gut so, denn diese Imitationen können so perfekt ausfallen, dass man meint, nur den Zwerg zu hören und achtlos weitergeht… Nachmittags verstummte er nicht selten und konnte auch im Laufe des Abends zumeist nicht mehr ausfindig gemacht werden. An seiner Territorialität ließ der Grünlaubsänger keine Zweifel aufkommen, was auch die örtlichen Brutvögel zu spüren bekamen. Bei Girlitzen fühlte sich der Laubsänger womöglich durch deren ähnlichen Gesang provoziert und konnte gleich zweimal bei Verfolgungsflügen beobachtet werden. Nachdem am 9. Juni die Gesangsaktivität des Vogels schon sehr stark nachgelassen hatte, verließ der einsam gebliebene Sänger letztendlich nach einer Aufenthaltsdauer von sechs Tagen Weende. Besondere Erwähnung soll auch das rege Interesse der Anwohner vor Ort finden, welche nicht nur tolerant die aufkommenden Menschenmengen, teils mit beeindruckend bis bedrohlich wirkendem optischen Equipment ausgestattet, vor ihren Grundstücken duldeten, sondern sich auch immer wieder angeregt über den kleinen Sänger informierten. So viel Leben war selten in den schmalen Gassen…

Abb. 2: Tonaufnahme des Gesangs. Aufnahme: M. Göpfert (Bitte das Sonagramm anklicken)

Der Grünlaubsänger ist ein typischer Vertreter der artenreichen Gattung Phylloscopus. Auffällig ist der helle Überaugenstreif, der bis an die Schnabelwurzel reicht. Die schmale helle Flügelbinde ist bei vielen Vögeln nur gering ausgeprägt und kann manchmal sogar fehlen. Bei unserem Vogel war sie aber manchmal zu sehen, am besten auf Fotos. Auffallend „grün“ ist die Art eigentlich nicht. Die niederländische Bezeichnung „Grauer Fitis“ trifft es viel besser. Grünlaubsänger brüten in mehreren Unterarten von Osteuropa bis China. In Deutschland ist die Art ein seltener Brut- und Gastvogel. Die große Mehrzahl der Vögel stellen Männchen, die vor allem Ende Mai bis Mitte Juni manchmal über Tage ortsfest singen und, weil sie kein Weibchen anlocken konnten, dann wieder abziehen. Das vermehrte Auftreten an der westlichen Verbreitungsgrenze wird allgemein durch Zugprolongation in Folge von erhöhten Temperaturen zur Zugzeit Mitte Mai bis Mitte Juni begründet. Zudem begünstigen Phasen mit östlichen Winden das Vorkommen. Obgleich diese Bedingungen im Mai 2018 durchaus passten, kam es, zumindest nach den Daten in ornitho.de, bundesweit zu keinem Einflug der Art. Lediglich auf Helgoland und der Greifswalder Oie, einer kleinen Ostseeinsel, zeigten mehrere zeitgleich anwesende Vögel ein vermehrtes, aber nicht untypisches Auftreten an.

Bei der Bruthabitatwahl scheint der Grünlaubsänger eine besondere Affinität zu frisch bis feuchten Hangwäldern zu besitzen. Häufig werden dort die Bereiche mit einer hohen Bonität und dem ältesten Baumbestand aufgesucht, wobei die vorkommenden Baumarten eine untergeordnete Rolle spielen. In Deutschland werden so zum Beispiel im besonderen Umfang strukturreiche Laub- und Mischwälder im Nordosten Mecklenburg-Vorpommerns besiedelt, aber auch alte Fichtenwälder in den Hochlagen des Harzes. Des Weiteren konzentriert sich das sehr kleine deutsche Vorkommen mit mehreren Revierbesetzungen und einzelnen Brutnachweisen unter anderem auf Helgoland, die Greifswalder Oie und die Sächsische Schweiz. Oft vorhandene Strukturelemente sind kleine Lichtungen, Waldränder, Bäche, Wasserfälle und, anscheinend mit besonderer Anziehungskraft, Felsen und Schluchten oder ersatzweise Erdanschnitte, Geländestufen oder auch Gartenmauern. Der Neststandort befindet sich ebenfalls in kleinen Nischen an den letztgenannten Geländestrukturen. Die erste Brut in Deutschland fand 1962 im rheinland-pfälzischen Westerwald denn auch, wie Jahrzehnte später mehrfach auf Helgoland, in einer Felsspalte oder -nische statt. Die geforderten Habitateigenschaften werden nicht selten auch von Parks, Alleen und Gärten erfüllt. In diesem Zusammenhang besonders interessant sind ein Nestfund in Schweden an einer efeubewachsenen Hauswand in 1,5 m Höhe oder auch das Einnisten in einem offenen Hausbriefkasten auf der Kurischen Nehrung.

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Abb. 3: Felsiger Neststandort auf Helgoland. Foto: M. Georg

Das Streifgebiet des Vogels im Göttinger Stadtteil Weende kann grob nach Süden durch die Hennebergstraße/Im Hassel eingegrenzt werden, sowie nach Norden hin durch die Breite Straße. Die westliche bzw. östliche Grenze bildete die Hannoversche Straße sowie der Friedhof Weende. Da der Vogel überhaupt nur singend wahrgenommen wurde, wäre es auch denkbar, dass er stumm sein Streifgebiet über den hier begrenzten Bereich ausgedehnt hat. In diesem Areal präferierte der Grünlaubsänger im Wesentlichen drei Stellen:

Der zuverlässigste Ort zum Auffinden des Vogels waren eindeutig die zirka 0,5 ha großen, unzugänglichen Hausgärten an der Ecke Petrikirchstraße/Breite Straße. Die Gärten sind charakterisiert durch einen sehr gestuften, lückigen Baumbestand aus sowohl Koniferen als auch Laubbaumarten. Die parkähnlichen Gärten mit zum Teil recht hohen Bäumen sind nach außen hin durch Häuser begrenzt. In der Mitte der Grundstücke fließt ein kleiner Bach, die Weende, in einer recht dichten Einfassung aus Sträuchern. Eine kleine Natursteinmauer rundet das Habitat ab. Bevorzugte Gesangsplätze waren die exponierte Spitze eines Urweltmammutbaums, verdeckt im Kronenbereich einer Esche sowie zahlreiche andere Bäume und seltener auch Hausdächer.

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Abb. 4: Petrikirchstraße in Weende. Foto: M. Georg

Auch der Entdeckungsort am Uferweg entspricht im Allgemeinen der Beschreibung des ersten Gebiets. Auffällig ist hierbei die Eingrenzung der Weende vor allem durch Mauern und Häuser, welche entfernt den Eindruck einer Schlucht entstehen lassen. Der recht hochgewachsene Baumbestand kann hier schon eher als parkähnlicher „Mischwald“ beschrieben werden. Im Vergleich zum ersten Gebiet stehen die Bäume etwas dichter beisammen. Der Grünlaubsänger konnte mitunter beim direkten Wechsel zwischen den beiden Stellen beobachtet werden.

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Abb. 5: Uferweg in Weende. Foto: M. Georg

Der Friedhof Weende, als drittes Gebiet, besitzt im Vergleich zu den beiden zuvor beschriebenen Stellen keinen Bach, der den parkähnlichen Baumbestand durchfließt. Auch der Koniferenanteil ist im Vergleich zu diesen deutlich erhöht. Als Besonderheit sind hier noch die Friedhofsgebäude aus Naturstein zu nennen. Trotz dieses „montanen“ Eindrucks konnte der Grünlaubsänger hier nur zu Anfang einige Male festgestellt werden.

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Abb. 6: Friedhof Weende. Foto: M. Georg

Zusammengefasst sind einige Parallelen zwischen den Habitateigenschaften des aufgesuchten Gebiets im Göttinger Siedlungsbereich und den Primärhabitaten in osteuropäischen Wäldern zu erkennen. Häuser und Mauern suggerieren exponierte Felskuppen im urbanen Lebensraum (die Betriebsstätte einer Bäckerei sieht fast wie eine große, horizontale Klippe aus), die Weende sorgt für ein feucht-kaltes Klima und ein lückiger, parkähnlicher Baumbestand aus teilweise recht stattlichen Einzelbäumen vollendet das Bild.

Abb. 7: Karte mit bevorzugten Gesangsplätzen. Grafik: A. Sührig, S. Alvite Rúa

Erratische Revierbesetzungen einzelner Männchen in Parklandschaften, Gärten und auf Friedhöfen sind auch im übrigen Deutschland nichts Außergewöhnliches. Figurativ seien an dieser Stelle der Alte Botanische Garten in Hamburg, das Kieler Stadtzentrum, das Hilchenbacher Seniorenwohnheim im Siegerland und mit einer gewissen Regelmäßigkeit diverse Parks und Friedhöfe in Berlin genannt. Ein erster Brutnachweis im Siedlungsbereich mit einem von einem Altvogel gefüttertem flüggen Jungvogel gelang allerdings erst am 27. Juni 2017 auf dem Friedhof „In den Kisseln“ in Berlin-Spandau, vorbehaltlich der Beurteilung der Avifaunistischen Kommission Berlin Brandenburg (AKBB).
All dies zeigt, dass es in Deutschland eine Unmenge von Plätzen und Orten gibt, die für durchziehende oder revierbesetzende Männchen prinzipiell geeignet sind. Hier kann man nur auf den Zufall und seine Stimmenkenntnis vertrauen…

Aus der Stadt und dem Landkreis Göttingen lagen zuvor drei Beobachtungen des Grünlaubsängers vor. Am 9. Juni 1963 bemühte sich am Bismarckstein im Göttinger Stadtwald (im Volksmund auch „Elefantenklo“ genannt) ein singendes Männchen um ein brütendes Weibchen des Waldlaubsängers. Am 8. August desselben Jahres (!) sang ein Männchen im Kirchweg (heute Humboldtallee). Das Datum ist für einen singenden Vogel recht spät. Im Stadtwald könnte das „Elefantenklo“ als herausragende „Felsformation“ eine besondere Anziehungskraft auf den seltenen Gast ausgeübt haben. Die Humboldtallee ist auch heute noch von hohen Häusern inmitten eines alten Baumbestands geprägt.
Am 29. Mai 1987 ließ sich an der Domäne Eddigehausen (Gemeinde Bovenden) in einem hohen Einzelbaum ein kurzzeitig singendes Männchen vernehmen. Diese Beobachtung wurde vom damaligen Bundesseltenheitenausschuss (BSA) anerkannt.

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Abb. 8: Grünlaubsänger, fast unentwegt singend. Foto: M. Georg

Und zu guter letzt: Die Vorliebe des Grünlaubsängers für Parkanlagen aller Art konnte neulich sogar im deutschen Fernsehen dokumentiert werden. Für die Fußball-WM-Sendung „Kwartira“ im Ersten besuchte ein Reporter in Begleitung russischer Hooligans den Friedhof der westsibirischen Stadt Jekaterinburg. Dort stehen prachtvolle Grabsteine mit aufwendig gestalteten Porträts von Mafiagrößen, die in den 1990er Jahren bei bewaffneten Auseinandersetzungen ums Leben gekommen sind. Während die Besucher die beeindruckenden Zeugnisse einer hochentwickelten Sepulkralkultur bestaunten, sang über ihnen – ein Grünlaubsänger, laut schmetternd und daher auch vor dem Fernseher unüberhörbar. Die Zahl der Zuschauer, die das zu würdigen wussten, dürfte aber nicht sehr groß gewesen sein…

Malte Georg, Alexander Sührig und Hans H. Dörrie

Literatur

Deutsche Seltenheitenkommission (2000): Seltene Vogelarten in Deutschland 1997. Limicola 14: 273-340.
Deutsche Seltenheitenkommission (2008): Seltene Vogelarten in Deutschland von 2001 bis 2005. Limicola 22: 249-339.
Frede, M. & H. Krafft (2012): Vogel des Monats: November 2012. Der Grünlaubsänger vom Hilchenbacher Seniorenwohnheim. Charadrius 48, Heft 3-4.
Glutz von Blotzheim U.N. & K.M. Bauer (1991): Handbuch der Vögel Mitteleuropas. Bd. 12/II. Aula-Verlag. Wiesbaden.
Hampel, F. (1964): Grüner Laubsänger, Phylloscopus trochiloides, in Göttingen. J. Orn. 105: 199.
Koschkar, S. & J. Dierschke (2014): „Go West…“: Der Grünlaubsänger Phylloscopus trochiloides in Deutschland. Seltene Vögel in Deutschland 2013: 50-59.
Schäffer, A. (2018): Ostzieher mit Westausdehnung: Grünlaubsänger. Der Falke 7/2018: 22.

Links:
www.oag-helgoland.de
www.ornitho.de