Gelbspötter in Göttingen: der lange Abschied

Singender Gelbspötter - MSiebner
Abb. 1: Singender Gelbspötter. Foto: M. Siebner

In der Rangfolge der Gesangsvirtuosen unter unseren heimischen Brutvögeln liegt der Gelbspötter (Hippolais icterina) in einer Spitzengruppe mit Nachtigall, Sumpfrohrsänger, Blaukehlchen und Feldlerche weit vorn. Macht sich der unscheinbare Vogel in einer Baumkrone akustisch bemerkbar, ist der Zuhörer schwer beeindruckt. Es quietscht und leiert in einem fort, unterbrochen von Imitationen anderer Arten. J. Matusiak hat das in einer Tonaufnahme im polnischen Biebrza-Nationalpark festgehalten.
Für unsere Göttinger Altvorderen (sofern sie ein Ohr für Vogelstimmen hatten) war der Gelbspötter eine vertraute Erscheinung. Eichler (1949-50) beschreibt ihn für die 1930er Jahre als verbreiteten Brutvogel, der sich vor allem in Gärten bemerkbar machte. Daher wurde er zu dieser Zeit auch „Gartenlaubvogel“ genannt. Die erste Kartierung des 3,6 km² großen Kerngebiets der Stadt 1948 (Bruns 1949) erbrachte 17 singende Männchen (geschätzt 20 bis 30). Bei der Folgekartierung 1965 (Hampel & Heitkamp 1968) waren es nur noch sieben. Eine Bestandsaufnahme außerhalb des Kerngebiets 1966 (Heitkamp & Hinsch 1969) führt 19 Revierbesetzer auf, die sich auf Parkanlagen (6), Wohngebiete im Norden und Westen der Stadt (5), Kleingärten (4), den Stadtfriedhof (2), das Kiessee-Leinegebiet (1) und Industriegelände (1) verteilten. Die (vorerst) letzte Untersuchung des Kerngebiets in den Jahren 2005/2006 (Dörrie 2006) ergab das komplette Fehlen des Gelbspötters als Brutvogel, die wenigen Nachweise betrafen auf dem Heimzug singende Männchen.


Mit den Jahren konzentrierte sich das Vorkommen auf den äußeren Grüngürtel in der Leineaue und einige Bereiche in der Weststadt. 2002 fand eine Kartierung singender Männchen statt, bei der 15 bis 16 Reviere notiert werden konnten, darunter allein insgesamt zehn am Kiessee und an der Leine zwischen der Otto-Frey-Brücke und dem Tierheim „Auf der Hufe“. Abseits von Leineaue und Weststadt gelangen keine Nachweise (Dörrie 2003).

Abb. 2: Lage der Gelbspötter-Reviere 2002. Grafik: D. Singer

Ende Mai und Anfang Juni 2019 wurden die damaligen Reviere von den Verfassern zweimal mit dem Fahrrad abgefahren. Das Resultat fiel sehr ernüchternd, aber nicht gänzlich unerwartet aus: Sie erwiesen sich allesamt als verwaist. Südlich vom Kiessee sang in einer gebüschreichen Kleingartenanlage mit alten Pappeln vom 20. bis 24. Mai ein Männchen. Hier konnte 2018 noch eine Revierbesetzung dokumentiert werden. Den einzigen Brutverdacht nach den Vorgaben des Methodenhandbuchs (Südbeck et al. 2005) gab es 2019 in einer Pappelreihe an der Rase bei Rosdorf, also knapp außerhalb des Göttinger Stadtgebiets. Die zunehmende Seltenheit in urban geprägten Habitaten lässt sich auch (mit Einschränkung) mit den Daten in ornitho.de belegen: In den letzten fünf Jahren konnten Revierbesetzungen nur noch in der Südwestecke des Kiessees (2015, zuvor langjährig besetzt), am Rand der Weststadt (2015 und 2016), an der Leine östlich des Kiessees (2015 und 2016), am Freibad Brauweg (2015, zuvor langjährig besetzt) und am Leine-Grünzug nördlich der Otto-Frey-Brücke (2014) ermittelt werden.

Gelbspötter-Kleingarten-Kiessee
Abb. 3: Temporärer Gesangsplatz in Kleingärten südlich vom Kiessee. Foto: D. Singer

Gründe für den Rückgang – Fragen und Hypothesen

2002 stach die enge Bindung der Sänger an (Hybrid-)Pappeln förmlich ins Auge. Kurz darauf setzte die systematische „Entpappelung“ des Grüngürtels und anderer Bereiche ein. Die prächtigen Bäume wurden vom Fachdienst Stadtgrün regelrecht stigmatisiert und als „standortsfremde Gefahrenbäume“ prophylaktisch der flächendeckenden Beseitigung anheim gegeben. Nach Interventionen von Baum- und Naturschützern konnten einige Bäume von den Fällaktionen ausgenommen werden, davon die meisten im Kiessee-Leinegebiet. In der entpappelten Leineaue ging der Bestand schnell auf ganze ein bis zwei Sänger zurück (Dörrie 2009).
Bei der Kartierung 2002 fiel in 80 Prozent der Reviere eine Vergesellschaftung des Gelbspötters mit brütenden Wacholderdrosseln auf. Unter dem Schutzschirm der wehrhaften Vögel, die gefiederte Prädatoren mit Sturzflügen und Kotattacken in die Flucht schlagen, hatten sich auch Stieglitz und Birkenzeisig angesiedelt.
Die Bevorzugung von Pappeln erklärt sich aus einer Habitatpräferenz des Gelbspötters, der eine typische Lichtwaldart ist: Nach Krüger et al. (2014) besiedelt er am liebsten mehrschichtige Laubholzbestände, die sich aus Bäumen mit lichtem Kronenschluss (Singwarte) und einer dichten Strauchschicht (Brutplatz) zusammensetzen. Dichte und dunkle Baumbestände werden gemieden. Warum der Gelbspötter heute am Leine-Grünzug fehlt, lässt sich mit diesem aktuellen Foto dokumentieren:

Gelbspötter-Leine
Abb. 4: Leine-Grünzug zwischen Otto-Frey-Brücke und Godehardstraße. Foto: D. Singer

Neben den Pappeln wurden nahezu alle Gebüsche entfernt. Dies geschah auch, um Räubern und Sittlichkeitsverbrechern die Deckung zu nehmen. Städtische Grünanlagen gelten mittlerweile als so genannte „Angsträume“, die dem gestiegenen Sicherheitsbedürfnis der Bewohnerinnen und Bewohner folgend entschärft werden. Hinzu tritt die zunehmende Erschließung des Grünzugs durch Hotelneubauten, Parkplätze u.ä.
Offenkundig belegt(e) die Konzentration auf Pappeln, dass in Göttingen Lebensraumverluste anderswo durch die vor ca. 65 Jahren gepflanzten, schnellwüchsigen Bäume mit ihren ausladenden, aber lichtdurchlässigen Kronen gleichsam kompensiert werden konnten: Viele Hausgärten und ehemalige Nutzgärten, die früher besiedelt wurden, sind, wie auch der Stadtfriedhof, inzwischen von Koniferen geprägt, die Gelbspötter grundsätzlich meiden. Der langjährige, heute verwaiste Brutplatz am Freibad Brauweg zeichnet sich mittlerweile durch einen dunklen Baumbestand mit dichtem Kronenschluss aus. Auf dem Bartholomäus-Friedhof an der Weender Landstraße, der in früheren Jahren ab und an von singenden Männchen bevölkert war, wurden viele Bäume und Gebüsche beseitigt. Am Stadtwall, bis in die 1990er Jahre ein Verbreitungsschwerpunkt, hat man gleichfalls gründlich aufgeräumt. Gleichwohl: Am Kiessee beispielsweise existieren an der Ost- und Westseite – obwohl stellenweise durch Gehölzaufwuchs und -verdichtung schon ziemlich verdunkelt – durchaus noch geeignete Habitate, die mehreren Brutpaaren Platz bieten könnten. Am Levin-Park und am Pfingstanger (beide schon länger als fünf Jahre verwaist) scheinen sich die Habitatstrukturen nicht gravierend verschlechtert zu haben. Auch der Leine-Grünzug weist nördlich der Hagenweg-Brücke noch besiedelbare Strukturen auf. Das heißt: Obwohl der Schwund geeigneter Habitate nicht zu übersehen ist, kann Lebensraumverlust kaum die alleinige Ursache für das Verschwinden sein.

Gelbspötter - Kiessee
Abb. 5: Geeignete Habitatstrukturen (verwaistes Revier) am Kiessee. Foto: D. Singer

Könnte, sehr hypothetisch, ein Bestandsrückgang der Wacholderdrossel den Niedergang des Gelbspötters zumindest beeinflusst haben? Das ist eher unwahrscheinlich, weil brütende Wacholderdrosseln allenfalls einen positiven Verstärker für das Ansiedlungsverhalten des Gelbspötters darstellen (Dörrie 2003). Zudem waren Wacholderdrosseln in den letzten Jahren, auch 2019, in Göttingen gut vertreten, mit bemerkenswert vielen Stieglitzen (aber immer weniger Birkenzeisigen) im Gefolge. Hinzu kommt, dass die Wacholderdrossel ein Göttinger Neusiedler ist, dessen erste Vorstöße 75 Jahre zurückliegen (Dörrie 2010). Zu dieser Zeit war der Gelbspötter noch wesentlich häufiger als heute – ohne die Unterstützung der Drosseln. Ob es sich bei der in Göttingen dokumentierten „Anti-Prädations-WG“ mehrerer Singvogelarten um ein lokales oder anderswo übersehenes Phänomen handelt, ist offen (vgl. Zang et al. 2005). Auch die (lokale?) Bindung an Pappeln ist ein Phänomen, das nicht verallgemeinert werden sollte
Vielleicht lässt sich der Rückgang besser erklären, wenn man einen Blick auf die Verbreitung unseres Porträtvogels wirft: In Niedersachsen ist ein deutliches Nord-Süd- bzw. Nordwest-Südostgefälle zu erkennen (Krüger et al. 2014). Der Verbreitungsschwerpunkt liegt im Nordosten bzw. in der küstennahen Geest unseres Bundeslands. Hier nutzt der Gelbspötter ein weites Habitatspektrum, das von Auwäldern, Feldgehölzen, Bauerngärten bis zu Neuanpflanzungen an Verkehrswegen reicht (Glutz v. Blotzheim & Bauer 1991). Auf den ostfriesischen Inseln brütet er sogar in Holunderbüschen. Der Gelbspötter ist also – anders als man aus Göttinger Sicht mutmaßen könnte – kein ausgeprägter Habitatspezialist. In waldreichen Gegenden, vor allem wenn sie höher als 200 m ü.NN liegen, fällt die Besiedlung erheblich dünner und lückenhafter aus. Dies trifft auch auf das Weser- und Leinebergland zu, wo im Wesentlichen nur die gewässernahen Niederungen besiedelt werden. Im Harz gibt es keine Gelbspötter (Krüger et al. 2014). Kleine und randständige Vogelpopulationen, die, wie in Göttingen, in schwindenden bzw. stark fragmentierten Habitaten ihr Leben fristen, sind von Rückgängen oder natürlichen Bestandsschwankungen stärker betroffen als kopfstarke Quellpopulationen. Hinzu tritt: Als Transsaharazieher mit einer durchschnittlichen Generationslänge von 3,3 Jahren, der sehr spät in die Brutgebiete zurückkehrt und sich daher (in der Regel) nur mit einer Jahresbrut fortpflanzt (Bauer et al. 2005), kann der Gelbspötter von Brutverlusten besonders betroffen sein. Ein paar kühle Regentage oder ein Starkregenereignis reichen, um den Gesamtbruterfolg von Teilpopulationen gegen Null tendieren zu lassen (Glutz v. Blotzheim & Bauer 1991). Wenn dies öfter geschieht und die Verluste nicht durch Zuzug ausgeglichen werden können, ist das Schicksal der Population besiegelt. Erkenntnisse dazu gibt es für Göttingen aber nicht. Auch über einen möglicherweise gestiegenen Prädationsdruck kann man nur mutmaßen. Dies macht eine schlüssige Erklärung des Verschwindens nicht einfacher.
Nach den Ergebnissen des Monitorings häufiger Brutvogelarten (MhB) ist der bundesweite Brutbestand des Gelbspötters von 1989 bis 2010 jährlich um 1,9 Prozent zurückgegangen (Gedeon et al. 2014). Ob das, wie oft vermutet wird, mit ökologischen Verschlechterungen in den afrikanischen Rast- und Ruhegebieten zusammenhängt, bleibt eine Hypothese. Ebenso könnten Eutrophierungsprozesse (Nährstoffeinträge), die zur Verdichtung und Verdunkelung der Vegetation und damit auch zum Insektenschwund beitragen, einen wichtigen Faktor beim Bestandrückgang dieser insektenfressenden Lichtwaldart darstellen. Dafür gibt es in Göttingen durchaus Belege (s.o.). Auch die Populationen anderer Lichtwaldarten wie z.B. Baumpieper, Fitis, Gartenrotschwanz oder Wendehals sind in den vergangenen Jahrzehnten aus den gleichen Gründen stark geschrumpft und gleichsam „verinselt“.
Außerhalb von Göttingen ist über den Gelbspötter relativ wenig bekannt. Am Seeburger See und an der Northeimer Seenplatte sind Reviere seit Jahrzehnten besetzt, desgleichen in der Leineaue zwischen Göttingen und Northeim. Die höchste Siedlungsdichte ist aus den Jahren 2000 und 2001 von einer 400 Meter langen Erlenanpflanzung an der Leine nordwestlich von Bovenden bekannt, wo bis zu sechs Männchen in den nur acht bis zehn Meter hohen Bäumchen sangen – im starken Kontrast zu den Göttinger „Pappelspöttern“. Von der Leine in der Feldmark Bovenden – Nörten-Hardenberg liegen aktuell Hinweise auf bis zu sieben Reviere vor (keines davon in Pappeln), die immer noch eine vergleichsweise dichte Besiedlung anzeigen. Aus dem ländlichen Siedlungsbereich gibt es verstreute Einzelmeldungen. Allerdings ist über die Vogelwelt in diesem Lebensraum kaum etwas bekannt. Die wenigen Zufallsbeobachtungen sind für Verbreitung und Bestand von geringer Aussagekraft.

Fazit

Der Abschied von einem faszinierenden Sangeskünstler nach Jahrzehnten des Niedergangs beruht vermutlich auf mehreren Faktoren, unter denen Habitatverlust bzw. –verschlechterungen, erhöhte Nährstoffeinträge und die Auswirkungen populationsökologischer Prozesse hervorzuheben sind. Obwohl in Zukunft die eine oder andere Revierbesetzung im Bereich des Möglichen liegt, scheint eine Trendwende nicht in Sicht zu sein. Der in Göttingen auf Hochtouren laufende Bau- und Erschließungswahn lässt für das Stadtgrün eher Schlimmeres befürchten…

Hans H. Dörrie und David Singer


Literatur

Bauer, H.-G., Bezzel, E. & W. Fiedler (2005): Das Kompendium der Vögel Mitteleuropas. Passeres – Sperlingsvögel. Aula-Verlag, Wiebelsheim

Bruns, H. (1949): Die Vogelwelt Südniedersachsens (mit Beilage: Quantitative Bestandsaufnahmen). Orn. Abh. 3.

Dörrie, H. (2002): Avifaunistischer Jahresbericht 2001 für den Raum Göttingen und Northeim. Naturkundl. Ber. Fauna Flora Süd-Niedersachs. 7: 4-103. S. 79

Dörrie, H. (2003): Avifaunistischer Jahresbericht 2002 für den Raum Göttingen und Northeim. Naturkundl. Ber. Fauna Flora Süd-Niedersachs. 8: 4-106. S. 80-82

Dörrie, H. (2006): Brutvögel im Göttinger Kerngebiet 1948 – 1965 – 2005/2006

Dörrie, H. (2009): Göttingens gefiederte Mitbürger. Streifzüge durch die Vogelwelt einer kleinen Großstadt. Göttinger Tageblatt Buchverlag. Göttingen

Dörrie, H. (2010): Anmerkungen zur Vogelwelt des Leinetals in Süd-Niedersachsen und einiger angrenzender Gebiete 1980-1998. Kommentierte Artenliste. 3., korrigierte Fassung im pdf-Format

Eichler, W.-D. (1949-50): Avifauna Gottingensia I-III. Mitt. Mus. Naturk. Vorgesch. Magdeburg 2: 37-51, 101-111, 153-167

Gedeon, K. et al. (2014): Atlas Deutscher Brutvogelarten. Stiftung Vogelmonitoring und Dachverband Deutscher Avifaunisten. Hohenstein-Ernstthal und Münster.

Glutz von Blotzheim, U.N. & K.M. Bauer (1991): Handbuch der Vögel Mitteleuropas. Bd. 12/I. Aula-Verlag. Wiesbaden

Hampel, F. & U. Heitkamp (1968): Quantitative Bestandsaufnahme der Brutvögel Göttingens 1965 und ein Vergleich mit früheren Jahren. Vogelwelt, Beih. 2: 27-38

Heitkamp, U. & K. Hinsch (1969): Die Siedlungsdichte der Brutvögel in den Außenbezirken der Stadt Göttingen 1966. Vogelwelt 90: 161-177

Krüger, T., J. Ludwig, S. Pfützke & H. Zang (2014): Atlas der Brutvögel in Niedersachsen und Bremen 2005-2008. Naturschutz Landschaftspfl. Niedersachsen, H. 47. Hannover

Südbeck, P., Andretzke, H., Fischer, S., Gedeon, K., Schröder, K., Schikore, T. & C. Sudfeldt (Hrsg.) (2005): Methodenstandards zur Erfassung der Brutvögel Deutschlands. Eigenverlag, Radolfzell

Zang, H., H. Heckenroth & P. Südbeck (2005): Die Vögel Niedersachsens, Drosseln, Grasmücken, Fliegenschnäpper. Naturschutz Landschaftspfl. Niedersachs. B, H. 2.9.Hannover

Gelbspötter - MSiebner
Abb. 6: Gelbspötter. Foto: M. Siebner