Die Turteltaube in Süd-Niedersachsen: wer kennt noch den Vogel des Jahres 2020?

Turteltaube - M.Siebner
Abb.1: Turteltaube an einem mittlerweile verwaisten Brutplatz bei Ellershausen.
Foto: M. Siebner

Auf einer Stromleitung in der Feldmark zwischen Jühnde und Bördel oberhalb des Leinetals versammeln sich im Spätsommer 18 Turteltauben. Bald werden sie sich in ihre Winterquartiere südlich der Sahara aufmachen. Ja und? Die Beobachtung gewinnt durch das Jahr an Bedeutung, in dem sie stattgefunden hat: 1998. Seit damals ist ein vergleichbar großer Trupp in unserer Region nie mehr gesehen worden. Die Feldmark Jühnde – Bördel ist inzwischen gründlich ruiniert, das Grünland geschrumpft, die Brachen weg, die Feldwege asphaltiert. Turteltauben wurden dort seit Jahren nicht mehr gesehen, ein Brutvorkommen des Raubwürgers ist ebenfalls lange erloschen. Auf der Fläche stehen jetzt vier riesige unfertige Windräder, deren Weiterbau nach einem Gerichtsbeschluss im Frühjahr 2018 wegen einer fehlenden Umweltverträglichkeitsprüfung vorerst gestoppt wurde. Die in der Umgebung brütenden Rot- und Schwarzmilane und ein traditionelles Baumfalkenpaar werden es danken – fragt sich nur, wie lange noch…

Die Turteltaube (Streptopelia turtur) besiedelt ein riesiges paläarktisches Gebiet, das von Großbritannien bis nach Westchina reicht. Der europäische Bestand wird auf 3,5 bis 7,2 Millionen Paare geschätzt. Auf die Bundesrepublik Deutschland entfielen nach dem Brutvogelatlas für die Jahre 2005 bis 2008 (Gedeon et al. 2015) (nur noch) 25.000 bis 45.000 Paare. Aktuell dürften es noch weniger sein.
Bei der Atlaskartierung wurden in Niedersachsen ca. 4.600 Paare (Krüger et al. 2014) gezählt. Die höchsten Dichten finden sich in der Mitte des Bundeslandes, während im Süden große Verbreitungslücken zu erkennen sind. Wegen des starken Bestandsrückgangs von mehr als 50 Prozent in den vergangenen 20 Jahren rangiert die Turteltaube in der Kategorie 3 („im Bestand gefährdet“) der niedersächsischen Roten Liste. Dass der NABU eine global gefährdete Art (Status „Vulnerable“) zum „Vogel des Jahres“ gekürt hat, ist ehrenwert. Nur: Die meisten Menschen kennen diesen Vogel gar nicht (mehr) und werden im nächsten und vermutlich auch in den Jahren danach kaum die Gelegenheit haben, seiner ansichtig zu werden. In unserer Datenbank ornitho.de, die von vielen zum Teil hoch qualifizierten Beobachter/innen eifrig genutzt wird, ist für das AGO-Beobachtungsgebiet pro Heim- und Wegzugperiode nur die buchstäbliche Handvoll Beobachtungen enthalten, elf Sichtungen in der Heimzug- und Brutzeitperiode 2018 und zehn 2016 sind eher klägliche Rekordzahlen der letzten Jahre. Vom Wegzug ist in diesem Jahr nur ein singendes Männchen vom 8. August im Leinepolder Salzderhelden bekannt geworden.

Verbreitung und Bestand

In der Kommentierten Artenliste der Vögel des Leinetals und angrenzender Gebiete (Dörrie 2010), die den Zeitraum 1980 bis 1998 behandelt, wird die Turteltaube als „möglicherweise nur spärlicher, aber verbreiteter Brutvogel“ eingestuft. Die avifaunistischen Jahresberichte des AGO enthalten bis in die frühen 2000er Jahre eine Fülle von Angaben zu besetzten Revieren, die diese Einschätzung bestätigten. Viele Fundorte wurden danach nie wieder von Beobachter/innen aufgesucht. Daher lassen sich über den aktuellen Brutbestand keine verlässlichen Aussagen machen. Er könnte, optimistisch geschätzt, ganz knapp im zweistelligen Bereich liegen. Die wenigen rezenten Hinweise auf Revierbesetzungen stammen von einem Feldgehölz bei Eberhausen, von einer Windwurffläche im Gillershäuser Wald, von einem Fichtenbestand bei Vogelsang nahe der Grenze zu Thüringen (altes Revier) und aus Sievershausen im Sollingvorland. Ein langjährig besetztes Revier auf einer Windwurffläche im Bramwald bei Ellershausen ist seit 2017 verwaist, noch länger das letzte bekannte Vorkommen im Göttinger Stadtgebiet im Gartetal nahe einem alten Steinbruch. Bei einer aufwendigen Erfassung des Waldlaubsängers in einigen Laubwäldern um Göttingen geriet in diesem Frühling keine Turteltaube zu Gehör.

Lebensraum und Lebensweise

Die regionalen Angaben zu früheren Brutvorkommen beziehen sich auf eine ganze Palette von Habitaten: Feldgehölze, Fichten-Stangenhölzer, auwaldähnliche Gehölzstrukturen an Fließgewässern und Windwurfflächen. Als entscheidendes Habitat-Strukturelement sind vegetationsarme Offenflächen hervorzuheben. Diese sind für unseren Porträtvogel unabdingbar, denn nur hier kann er als obligatorischer Samenfresser am Boden seine Nahrung aufnehmen. Wachsen diese Flächen zu, verschwindet die Art. Dies ließ sich anschaulich an der bereits erwähnten Windwurffläche bei Ellershausen dokumentieren, die mittlerweile weithin zugewachsen ist. Es erklärt auch, warum in Niedersachsen und in den angrenzenden ostdeutschen Bundesländern die höchsten Dichten auf Truppenübungsplätzen, in Tagebau-Folgelandschaften oder am Rand von degenerierten Mooren zu finden sind. Auf diesen Inseln im Meer der „Normallandschaft“ werden bzw. wurden die Folgen des permanenten Eintrags von düngenden Nährstoffen (darunter auch das berüchtigte Kohlendioxid) aus Industrie, Landwirtschaft und Verkehr durch spezifische Formen der Bodenbearbeitung mit Baggern, Panzern usw. gering gehalten. Ansonsten heißt es: „Deutschland wächst zu“, worüber nicht nur viele Offenland-Vogelarten klagen, sondern auch die Deutsche Bahn, wenn sturmgeschädigte Bäume auf die Gleise krachen.
Das Innere der Wälder ist, nicht zuletzt durch den „naturnahen Waldbau“, für die licht- und wärmeliebende Turteltaube zu dunkel geworden. Die überall dominierende dichte Kraut- und Strauchschicht tut ein Übriges, um diesen Lebensraum für sie unwirtlich zu machen. So gesehen, kann die Turteltaube von vermeintlichen Katastrophen, die für lichte Strukturen sorgen, nur profitieren. Jeder Waldbrand, jeder Orkan und nicht zuletzt das Zerstörungswerk des winzigen Borkenkäfers in vorgeschädigten Fichtenbeständen sind ein Segen für diese gefährdete Vogelart. In unserer Region haben „Friederike“ und einige Folgestürme große Freiflächen geschaffen, die vielleicht/hoffentlich in den kommenden Jahren von der Turteltaube in Beschlag genommen werden. Andere mögen, aus durchaus nachvollziehbaren ökonomischen Gründen, solche Kalamitäten als „Waldsterben 2.0“ oder „katastrophale Folgen des Klimawandels“ brandmarken: Für die Turteltaube (und andere Lichtwald- und Offenlandarten) sind sie der beste Biotopschutz, den man sich denken kann – wenngleich immer nur für wenige Jahre.

Abb. 2: Strukturreiche Windwurffläche am Lüningsberg bei Aerzen (Landkreis Hameln-Pyrmont): Hier balzten Ende Mai 2019 bis zu acht Männchen. Foto: B. Bartsch

Verfolgung und Schutz

In Deutschland gilt die Turteltaube als „jagdbar“. Gleichwohl genießt sie seit längerem eine ganzjährige Schonzeit. In der Europäischen Union sieht es leider ganz anders aus. In zehn EU-Staaten werden alljährlich ca. zwei bis drei Millionen von ihnen geschossen – als sportliche Herausforderung und ganz legal. Das heißt: Ein signifikanter Teil der europäischen Population endet vor den Flinten der Jäger. Unfassbar. Für die negative Bestandsentwicklung in vielen Ländern ist sicher auch dieser enorme Blutzoll verantwortlich. Auch verwaiste Reviere in immer noch geeigneten Lebensräumen und, wie in Niedersachsen zu beobachten, die Konzentration der Vögel auf wenige Optimalhabitate könnten darauf hindeuten. Das Mantra von der „nachhaltigen Jagd“ entpuppt sich, wie bei vielen anderen Arten (z.B. der Waldschnepfe) auch, als zynischer Euphemismus.
Welche Massaker auch anderswo angerichtet werden, belegt eine aktuelle Meldung in Dutch Birding (41:345): Jäger aus den Golfstaaten haben jüngst bei Marrakesch (Marokko) an einem einzigen Tag ca. 1500 Turteltauben abgeknallt.
Birdlife Europe, ein Zusammenschluss europäischer Vogelschutzverbände, hat in Kooperation mit der Federation of Associations for Hunting and Conservation (FACE) und anderen Akteuren im Mai 2018 für ein EU-Life-Projekt einen umfangreichen Aktionsplan zur Verbesserung der Lebensbedingungen der Turteltaube vorgelegt. Dieser enthält auch ein zeitlich begrenztes Jagdverbot (Moratorium). Dagegen haben, nicht ganz überraschend, FACE sowie Malta, Spanien, Italien und Rumänien – also genau die Staaten, in denen die meisten Turteltauben geschossen werden – ihr Veto eingelegt. Auch Österreich verhält sich in diesem Punkt ablehnend. Bulgarien, Zypern und Griechenland lehnen das Vorhaben komplett ab. Frankreich verweist auf einen speziell auf das Land zugeschnitten Managementplan zur weiteren „Ernte“ der Vögel. Entsprechend wurden in der laufenden Jagdsaison 18.000 Turteltauben zum Abschuss freigegeben. Portugal will das Moratorium nur unterstützen, wenn alle anderen Staaten auch dafür sind. Vor einer Aufkündigung der Partnerschaft mit der einflussreichen Jägerlobby FACE schreckt Birdlife zurück – mit der Begründung, dass dann alles nur noch schlimmer werden würde…
Vor diesem deprimierenden Hintergrund hat der NABU eine an die deutsche Umweltministerin gerichtete Petition gestartet, um einen EU-weiten Jagdstopp zu erreichen. Man darf gespannt sein.

Tote Turteltaube. Filip Wiechowisk
Abb. 3: Ohne Worte. Foto: F. Wieckowiski / Birdlife Malta

Eine spezielle Bedrohung, der bislang kaum Beachtung geschenkt worden ist, kommt nicht von den Jägern, sondern von anderen grün gewandeten Akteuren: Turteltauben brüten gern in Fichten-Stangenhölzern, in denen sie vor der Prädation durch gefiederte Beutegreifer geschützt sind. Dies wird ihnen immer mehr zum Verhängnis. Junge Fichtenbestände werden seit einigen Jahren mit so genannten Harvestern brutalstmöglich durchforstet – auch und gerade zur Brutzeit der Vögel. Wie viele Turteltaubengelege oder Jungvögel, neben denen von Sperber, Tannenhäher und anderen Arten, alljährlich geschreddert werden ist unbekannt. Diese extrem vogelfeindliche Praxis ist mit den Prinzipien einer „ordnungsgemäßen Forstwirtschaft“ durchaus vereinbar. Begründet wird sie – wie soll es anders sein – vor allem ökonomisch: Die teuren Geräte müssen auch im Sommerhalbjahr im Einsatz sein, damit sie sich amortisieren. Auch die oftmals auswärts angeheuerten Akkordarbeiter müssen aus Kostengründen möglichst effizient beschäftigt werden. Fazit: Auch im friedlichen deutschen Wald gibt es Massaker…
Der oben genannte Aktionsplan der EU enthält eine Fülle von Maßnahmen, deren Realisierung der Turteltaube sicher zugute kommen könnte. In der Praxis wird man vermutlich den Schwerpunkt auf Blühstreifen und verwandte konventionelle Agrar-Umweltmaßnahmen legen, von denen auch andere Offenlandarten profitieren. Solange die allgemeine Eutrophierung sowie die Chemisierung der Landwirtschaft, die auch die letzten samentragenden Wildkräuter mit Glyphosat traktiert, voranschreitet, kommt ihnen sicher nur eine lokale Wirksamkeit zu. Den allgemeinen Rückgang werden sie kaum stoppen können.
Sehr gute Resultate hat eine, ursprünglich nicht dem speziellen Schutz der Turteltaube gewidmete Aktion in England erbracht. Dort ist der Brutbestand um 97 Prozent geschrumpft. Zweitbruten finden, vermutlich aus Nahrungsmangel, kaum noch statt. Auf der Knepp Farm in West Sussex gab es früher keine Turteltauben. Bis zum Jahr 2017 haben sich dort 17 singende Männchen eingefunden. Warum? Auf der Farm wird seit ein paar Jahren eine Herde halbwilder Tamworth-Schweine gehalten, die mit ihrer regen Wühltätigkeit nicht nur für zahlreiche Offenstellen sorgen, sondern auch die Verbreitung von Wildgräsern fördern, von deren Samen die Turteltauben leben. Zur Nachahmung empfohlen!

Turteltauben beobachten – wann und wo?

Regionale Beobachtungstipps sind leider nicht möglich, dafür ist die Turteltaube zu selten geworden. Ihre Beobachtung ist noch mehr vom Zufall abhängig als bei anderen Vogelarten. Unter unseren heimischen Tauben ist sie der einzige Weitstreckenzieher, der ab Mitte April in seine Brutgebiete zurückkehrt. Angehörige nordöstlicher Populationen können bis weit in den Mai durchziehen. Am wahrscheinlichsten wird man eines singenden Männchens gewahr, das durch sein gedämpftes, namensgebendes „turr, turr“ auf sich aufmerksam macht. Stumme Vögel finden sich manchmal an Wasserstellen wie z.B. der Geschiebesperre Hollenstedt bei Northeim ein. Wegen ihrer staubtrockenen Nahrung müssen Turteltauben immer viel trinken. Im Sommer und Herbst gelingen in der Regel noch weniger Sichtungen.

Hans H. Dörrie

Abb. 4: Brutplätze der Zukunft? Windwurffläche bei Billingshausen. Foto: M. Georg

Literatur

Dörrie, H. (2010): Anmerkungen zur Vogelwelt des Leinetals in Süd-Niedersachsen und einiger angrenzender Gebiete 1980-1998. Kommentierte Artenliste. 3., korrigierte Fassung im pdf-Format

Gedeon, K. et al. (2014): Atlas Deutscher Brutvogelarten. Stiftung Vogelmonitoring und Dachverband Deutscher Avifaunisten. Hohenstein-Ernstthal und Münster.

Krüger, T., J. Ludwig, S. Pfützke & H. Zang (2014): Atlas der Brutvögel in Niedersachsen und Bremen 2005-2008. Naturschutz Landschaftspfl. Niedersachsen, H. 47. Hannover

Turteltaube - VHesse
Abb. 5: Turteltaube 2010 bei Blankenhagen. Foto: V.Hesse