Der ‚Star‘ im Gewimmel seiner schlichten Verwandten – Göttingens erster Rosenstar

Seit Ende Mai diesen Jahres konnten deutschlandweit ungewöhnlich viele Rosenstare (Pastor roseus) beobachtet werden. Dieser farbenprächtige, exotisch anmutende Verwandte unseres heimischen Stars brütet eigentlich in den Steppen, Halbwüsten und Wüsten Südosteuropas und Mittelasiens. Nahezu die gesamte Population überwintert auf dem indischen Subkontinent. Seine Hauptnahrung zur Brutzeit sind Heuschrecken, deren Schwärmen er folgt. Dies erklärt auch sein nomadisches Ansiedlungsverhalten. Beim Brüten ist er erheblich geselliger als sein schwarzer Verwandter, Die Kolonien an Felsen, in Steinbrüchen oder in Ruinen und Geröllhalden können mehrere Tausend Paare umfassen. Im Herbst fressen Rosenstare mit Vorliebe Beeren des Maulbeerbaums, was sie, anders als im Frühjahr, bei den Obstbauern in Pakistan und Indien ähnlich unbeliebt macht wie unsere hiesigen Stare in Weinbaugebieten oder Kirschbaumplantagen.

Die ersten Vögel tauchten zuerst in Süddeutschland auf. In Oberbayern wurden, neben etlichen anderen Individuen anderswo in Bayern und Baden-Württemberg, am 2. Juni zwei für Deutschland singuläre Trupps von 13 bzw. 15 Vögeln gesehen.Später machten sich auch einzelne im Norden, z.B. auf Helgoland (dort bis zu vier), Sylt und an der Elbe bemerkbar. Die Mitte des Landes blieb aber vorerst ausgespart. Wesentlich mehr tummelten sich im Alpenraum und südlich davon (Kroatien, Italien sowie Süd-Frankreich). Ein Einzelvogel schaffte es sogar auf die Azoren und drei bis nach Island. In Großbritannien konnten mehr als 200 Vögel beobachtet werden.
Ganz außergewöhnlich war eine Brutkolonie mit 15 Nestern fernab des eigentlichen Brutgebietes in Südfrankreich im Département Alpes-de-Haute-Provence. Der Brutplatz war dann aber ganz typisch für die Art, in einem alten Gemäuer.

Abb. 1: Über die App NaturaList gemeldete Rosenstare im Sommer 2020 (Länder wie Großbritannien oder die Niederlande sind ausgespart, weil sie nicht zur ornitho-Familie gehören). Markiert sind der Brutplatz in Süd-Frankreich (rot) sowie der einzelne Vogel in Göttingen (grün). Karte: © Biolovision; © OpenStreetsMap

Als sich der europaweite Einflug andeutete, überlegten einige Göttinger Vogelkundler, wo denn, wenn überhaupt, die schmucken Vögel in Süd-Niedersachsen auftauchen könnten: Am Seeburger See oder Seeanger, in der Stadt im Alten Botanischen Garten in einem Bambusdickicht oder vielleicht am Göttinger Kiessee in einem kleinen Haselwäldchen? – Alles bekannte Starenschlafplätze der letzten Jahre. Die Annahme lag nahe, denn Rosenstare treten hierzulande fast immer in Gesellschaft ihrer westlichen Verwandten auf. Aber tatsächlich rechnete keiner so richtig damit, dass sich solch eine Seltenheit hierher verfliegen würde…

Abb. 2: Starenschlafplatz am Göttinger Kiessee. Foto: M. Siebner

Um sicher vor möglichen Feinden zu sein, sammeln sich Stare in großen Schlaf­gemeinschaften und verbringen dann dicht an dicht gedrängt die Nacht. Ein solcher Schlafplatz existiert seit dem vergangenen Jahr am Göttinger Kiessee und war von Juni bis in den September hinein besetzt. In Spitzenzeiten wurden in dem vergleichsweise winzigen Gehölz bis zu 15.000 Stare gezählt (soweit man das konnte).

Abb. 3: Morgendlicher Blick auf den Schlafplatz. Foto: M. Siebner

Die Trupps fielen allabendlich vornehmlich aus südlichen Richtungen ein, nachdem sie sich z.B. an der Biogasanlage in Rosdorf oder am Rand von Geismar bereits vorversammelt hatten. Nach dem Eintreffen konnte man beobachten, dass viele Stare relativ schnell eingeschlafen waren. Nicht so schnell Ruhe gaben dabei die Jungvögel, die in diesem sehr guten Starenjahr einen Anteil von ca. 75-80 Prozent der Schlafplatzpopulation ausmachten. Die jugendlichen Ruhestörer flogen hin und her und besetzten schließlich Plätze mehr auf den äußeren Rängen, während die Alten weiter im Innern des Gebüschs häufig schon pennten.


¯¯¯¯¯     Abb. 4: Karte des Staren-Schlafplatzes südlich des Kiessees

Vom Steinkreis der „Meyerwarft“ hatte man einen perfekten Blick hinab ins Schlafzimmer der Stare. Bereits Anfang März wurde dort ihr spektakulärer Einflug beobachtet.

Abb. 5: Schwarm dreht vor dem Schlafengehen noch ein paar Runden. Foto: M. Siebner

Dann kam der Morgen des 19. Juni, als ich Eckard Gottschalk von der Naturschutzbiologie der Uni Göttingen traf. Ich berichtete ihm begeistert von dem großen Starenschlafplatz in der Nähe, wissend, dass er sich derzeit mit der Biologie dieses Vogels eingehender befasst. Wir verabredeten uns dann locker auf 20:30 Uhr am selben Abend. Bei der Verabschiedung meinte ich dann noch augenzwinkernd, ich würde eigentlich nur kommen, um den Rosenstar zu beobachten.
Am Abend war ich etwas später dran, weil ich noch kurz den Kiessee ‚abscannen‘ wollte, man weiß ja nie… Als ich ankam, waren Eckard und Stefan überwältigt: „Wahnsinnig toll diese Vogelmassen – und deinen Rosenstar haben wir auch ganz wunderbar gesehen!“. Darauf entgegnete ich nur, dass ich mich nicht so einfach veräppeln lasse. Aber als ich das Belegfoto auf dem Kamera-Display sah, gab es keinen Zweifel mehr.

Abb. 6: Eindeutiges Beleg-Foto vom Entdecker. Foto: E. Gottschalk

Rasch rief ich per WhatsApp weitere Beobachter an den Kiessee. Jedoch konnten wir an diesem Abend den einzelnen Vogel in dem Staren-Getümmel nicht mehr wiederfinden. Uns blieb nur die Hoffnung, dass es den Rosenstar in unserer Region noch ein wenig halten würde.

An den folgenden Abenden war es nicht nur am Starenschlafplatz, sondern auch auf dem Beobachtungshügel voll, aber immer noch so, dass man wegen der Pandemie genug Abstand wahren konnte.

Abb. 5: Großes Interesse bei den heimischen Vogelfreunden. Foto: M. Siebner

Immerhin war das der erste Rosenstar für Göttingen und der zweite Nachweis für die Region. Eine Beobachtung aus dem Leinepolder Salzderhelden im Jahre 2001 wurde 2010 von der Deutschen Seltenheitenkommission (DSK) anerkannt. Der aktuelle Nachweis ist bereits der Deutschen Avifaunistischen Kommission (DAK) gemeldet worden. Der Vogel konnte aufgrund seines Schopfes als Männchen angesprochen werden. Ob es sich um ein einjähriges oder adultes Tier gehandelt hat, war nicht abschließend zu klären.

Bemerkenswert für den, man muss sagen, einzigen entdeckten Vogel in der Mitte Deutschlands war seine lange Verweildauer. ‚Unser Rosenstar‘ flog in der Zeit vom 19. Juni bis zum 6. Juli jeden Abend zuverlässig am Kiessee ein. Eine besondere Anhängerin der Familie der Sturnidae war sogar am 7. Juli frühmorgens beim endgültigen Abflug dabei.

Abb. 6: Selten war der Rosenstar alleine zu bewundern. Foto: M. Siebner

Allabendlich bot sich den Beobachtern, unter denen immer mehr Weitgereiste waren, das gleiche Schauspiel:

Es begann in der Regel mit dem Einflug kleinerer Trupps, die dann aber wieder abstarteten, um sich mit anderen zu vereinigen und schließlich in das kleine Gehölz einzufallen. Der Rosenstar ließ sich dabei meistens Zeit. Er war nie gleich am Anfang da und landete immer erst, als das Guano-Wäldchen (man konnte das tatsächlich riechen) schon gut besetzt war. Dabei präsentierte er sich häufig kurz für eine oder auch zwei Minuten. Dann aber huschte er meist direkt auf fast immer den gleichen Ast, auf dem er dann auch relativ schnell einschlief (siehe Abb. 9).

Ob die anderen Stare es ihm gleichtaten und ebenfalls Lieblingsplätze zum Schlafen aufsuchten, konnten wir leider nicht herausfinden. Die anderen Vögel sahen sich einander leider zu ähnlich.

Abb. 7: Der Rosenstar an seinem Lieblingsplatz. Foto: M. Siebner

Dann stellte sich die Frage, wo sich der Rosenstar tagsüber rumgetrieben hat. Im Juni und Juli lag es sehr nahe, dass er mit den ausschwärmenden Staren-Trupps sich hauptsächlich auf die reifen Kirschen in der Region gestürzt hat. Wie weit dabei das Einzugsgebiet für den Schlafplatz am Kiessee war, muss auch unbeantwortet bleiben. Ein tägliches Pendeln zur ‚Kirschenstadt‘ Witzenhausen ist nicht ganz unmöglich (Luftlinie 19 km).

Abb. 8: Nur ein rosaTupfen: Der Rosenstar war nicht jeden Abend so leicht zu entdecken.
Foto: M. Siebner

Ob die Ursache des aktuellen Einflugs nach Mitteleuropa ein vorübergehender Nahrungsmangel im traditionellen Brutgebiet war, lässt sich für bestimmte Gegenden nicht komplett ausschließen. Andererseits gab es im pakistanischen Durchzugsgebiet in diesem Jahr eine verheerende Heuschreckenplage. Wie weit diese in die westasiatischen Brutgebiete ausstrahlte muss offen bleiben. Genereller Nahrungsmangel könnte daher kein Thema gewesen sein. Zudem gibt es solche Evasionsjahre immer wieder und offensichtlich in zunehmendem Maße. Der letzte Einflug nach Mittel- und Westeuropa liegt nur zwei Jahre zurück. Der Brutnachweis in Frankreich könnte auch die Vermutung einer versuchten Arealausbreitung zulassen, auch wenn es an dieser Stelle im kommenden Jahr mit ziemlicher Sicherheit keine Brut geben wird.

An vielen Abenden gab es Besuch von Greifvögeln. Ein relativ hoch überfliegender Wanderfalke konnte die Vogelschar nicht beeindrucken. Sperber besuchten den Ort häufiger und flogen dabei immer sehr niedrig auf das Gehölz zu. Darauf konnte man jeweils ein brummendes Flügel-Geräusch vernehmen, als die Stare alle eine Etage tiefer in das Gebüsch rutschten. Für eine gewisse Zeit herrschte dann erstmal absolute Stille. Aber kein einziger Vogel flog beim Angriff des Prädators auf.

Ganz anders war die Situation dann aber bei einem tief „durchfahrenden“ Heißluftballon, dessen fauchendes Brennergeräusch sämtliche Vögel hochmachte.

Die Wahrscheinlichkeit, dass sich in den kommenden Jahren wieder mal ein Rosenstar hier blicken lässt ist klein. Es lohnt sich aber bestimmt, einen genaueren Blick auf die Sammel- und Schlafplätze der heimischen Verwandten zu werfen. Und nach wie vor gilt: Der unscheinbare Kiessee am Göttinger Stadtrand ist immer für eine gefiederte Überraschung gut!

Mathias Siebner

Abb. 9: „Gute Nacht“. Foto: M. Siebner

Literatur

Bauer, H.-G., Bezzel, E. & W. Fiedler (2005): Das Kompendium der Vögel Mitteleuropas. Passeres – Sperlingsvögel. Aula-Verlag, Wiebelsheim

Dörrie, H. (2009): Göttingens gefiederte Mitbürger. Streifzüge durch die Vogelwelt einer kleinen Großstadt. Göttinger Tageblatt Buchverlag. Göttingen

Dörrie, H. (2010): Anmerkungen zur Vogelwelt des Leinetals in Süd-Niedersachsen und einiger angrenzender Gebiete 1980-1998. Kommentierte Artenliste. 3., korrigierte Fassung im pdf-Format.

Glutz von Blotzheim, U.N. & K.M. Bauer (1993): Handbuch der Vögel Mitteleuropas. 13-III: Passeriformes. 4. Teil: Corvidae – Sturnidae. Aula-Verlag. Wiesbaden

Shirihai, H., Svensson, H. (2018): Handbook of Western Palearctic Birds: Passerines. C. Helm, London.