Eine Schneeammer – wie ‚Lady Di‘ im Leinetal

Nimmt man den letzten Band des Handbuchs der Vögel von Mitteleuropa zur Hand, prangt eine Schneeammer auf dem Einband. Das Handbook of the Birds of Europe, the Middle East and North Africa zeigt gleich einen Trupp Schneeammern auf dem Einband. Was macht diese Vögel so attraktiv und charismatisch? Vogelbeobachterinnen im Raum Göttingen hatten die Gelegenheit, vom 9. Januar an einen letztjährigen Vogel dieser nordischen Art (Calcarius = Plectrophenax nivalis) ausführlich zu studieren.

Abb. 1: Schneeammer im Schnee am 26.1.2021. Foto: Andreas Stumpner

Nicht, dass Schneeammern eine absolute Rarität in Deutschland wären – keineswegs. Zwar liegen die Brutgebiete zirkumpolar im arktischen Bereich – die Schneeammer gilt als der am weitesten nördlich regulär brütende Singvogel – aber ihre Über­winterungs­gebiete liegen auch „rund um den Pol“, bloß weiter südlich von Nordamerika über Europa bis nach Asien (Cramp und Simmons 1994, Glutz et al. 1997). An den Küsten von Ost- und vor allem Nordsee sind Schneeammern jedes Jahr zu sehen – im Januar 2021 zum Beispiel laut ornitho.de bis zu geschätzte 210 Individuen auf einmal im Hamburger Vorland.
Dabei ist das Vorkommen mit ganz wenigen Ausnahmen auf die Monate September bis April beschränkt mit den größten Beobachtungszahlen zwischen Dezember und Februar; ornitho.de, 2013-2021). Auch im Binnenland treten sie regelmäßig auf – aber doch fast immer nur Einzeltiere an einem Tag – und je weiter nach Süden und auch Westen, desto seltener. So gibt es laut ornitho.de vom Winter 2021 nur 6 Beobachtungsstellen, die weiter südlich als Bovenden liegen. Mehrere von diesen Beobachtungen sind dann schon so ungewöhnlich, dass eine Meldung bei den jeweiligen Avifaunistischen Kommissionen nötig ist.

Abb. 2: Karte mit Beobachtungen von Schneeammern vom 1.1.2013 bis 28.1.2021. Quelle: ornitho.de

So außergewöhnlich ist eine Schnee­ammer­sichtung im Kreis Göttingen also nicht. In den letzten 10 Jahren wurde fast jedes Jahr mindestens eine Beobachtung gemeldet – allerdings oft nur überfliegende Exemplare. In den Zeiten vor ornitho.de waren die bekannt gewordenen Sichtungen etwas seltener – in Dörrie (2010) wurden zum Beispiel für den Zeitraum 1961 – 1998 nur 15 Beobachtungen aufgelistet – darunter ein außergewöhnlicher Trupp von 40 Individuen an der Kiesgrube Reinshof (1974) und ein länger verweilender Winter­gast (1978). Im November 2015 gab es bei Diemarden schon einmal einen Hinweis auf einen mehrtägigen Verbleib dieser Ammer vor Ort mit der Beobachtung eines K1-Männchens im Abstand von zwei Tagen an derselben Stelle. Insofern ist die Anwesenheit der „Bovender“ Schneeammer über 18 Tage (mindestens 9. bis 26.1.2021) schon bemerkenswert.
Ein langer Aufenthalt eines Vogels im Binnenland wurde ansonsten in den letzten 10 Jahren nur selten, z.B. aus Höxter vom 29.1. bis 23.2.2017 und in diesem Winter vom Steinhuder Meer vom 20.12. bis 25.1. gemeldet, wo am 24.11. auch schon ein Trupp von etwa 25 Schneeammern gesichtet wurde. Die Zuverlässigkeit, mit welcher die hiesige Schneeammer auf einem ca. 300 m langen Wegstück angetroffen werden konnte, war schon fast rührend und lockte eine ganze Schar an Beobach­terinnen an – mindestens 26 Personen haben ihre Sichtung in ornitho.de gemeldet – und nicht alle von ihnen kamen aus dem Bereich Göttingen.
Die Tatsache, dass dabei 45 Fotos von 10 Kamera-Bewaffneten eingestellt wurden, zeigt auch, wie fotogen das letztjährige Weibchen offenbar war – in lokalen News­gruppen wurde der Vogel daher mit Lady Di verglichen, deren tragisches Ende auf der Flucht vor den Paparazzi dem Tier aber hoffentlich versagt geblieben ist. Zumindest ließ die zur Schau gestellte Lässigkeit der Ammer darauf hoffen.

Abb. 3: Schneeammer und Fotograf. Foto: Andreas Stumpner

Alters- und Geschlechtsbestimmung waren zwar wegen der nicht unerheblichen Variabilität nicht trivial, aber eine Kombination von Merkmalen erlaubt meist eine eindeutige Zuordnung: stark abgenutzte Handschwingen, äußere Steuer- und Schirmfedern sprechen beim Bovender Vogel für K2, ebenso, dass die Steuerfedern relativ spitz sind. Auch eine Mauser­grenze ist in den inneren Arm­decken zu sehen. Für Weibchen sprechen Handschwingenspitzen von unten gesehen grau, schwarze Handdecken ohne Weiß, wenig Weiß insgesamt im Flügel (nur im Flug und auf einem Foto beim Flügelspreizen zu erkennen), spitz aus­gezogene, eher braune Zentren der Schulter­federn, kleine und mittlere Decken mit großem dunklen Kern, Oberschwanzdecken ohne Andeutungen von Weiß.

Abb. 4: Die Bovender Schneeammer. Foto: Mathias Siebner

Aus welchem nördlichen Brutgebiet hat es dieses Weibchen wohl hierher verschlagen? Eine eindeutige Zuordnung zu den Unterarten ist gerade bei jungen Weibchen schwierig. Vögel an der Nordseeküste sollen überwiegend der isländischen Unterart insulae zuzuordnen sein, welche ganz überwiegend auf Island brütet, aber es kommen auch Individuen der Nominatform nivalis vor, deren Herkunft aber unklar ist (Dierschke 2001). Die insgesamt eher dunkle braune Erscheinungsform und insbesondere die Tatsache, dass die zweite Handschwinge (von proximal) offenbar viel Schwarz enthält (auf Abb. 5 zu ahnen) würden für die isländische Unterart sprechen. Auch die eher dunklen Federn im unteren Rücken sprechen für insulae. Dazu passt der eher geringe Farbkontrast zwischen Rücken- und Schulterfedern – dieses Merkmal scheint allerdings mit dem Lichteinfall deutlich zu variieren, wie man an den verschiedenen Fotos in ornitho.de erkennen kann – auf einigen Fotos scheinen die Rückenfedern eher die für nivalis typischen eisgrauen Ränder zu besitzen. In der Gesamtabwägung handelt es sich bei dem Tier also am wahrscheinlichsten um ein K2 Weibchen C.n. insulae (bestätigt von Jochen Dierschke, pers. Mitteilung).

Abb. 5: Die Ammer zeigt ihre Handschwingen mit wenig weiß, … Foto: Volker Hesse
Abb. 6: … die auf der Unterseite grau sind. Foto: Volker Hesse
Abb. 7: Hier spreizt die Schneeammer ihre gespitzten Schwanzfedern …. Foto: Martin Göpfert
Abb. 8: … und gibt dort weitere Bestimmungshinweise auf ihrer Rückseite. Foto: Andreas Stumpner

Aus den beschriebenen Zugrouten, die je nach Gebiet eher östlich oder westlich gerichtet sein können, aber offenbar selbst bei einem Individuum mal diesseits, mal jenseits des Atlantiks liegen können, sind eindeutige Rückschlüsse auf die Unterart nicht möglich (Cramp and Simmons 1994, Glutz et al. 1997, Dierschke 2001, Hall und Johnsen 2020). Beringungsdaten der wenigen Individuen im deutschen Innenland liegen wohl nicht vor. Tatsächlich sind aber Weibchen bei uns mit größerer Wahrscheinlichkeit zu erwarten als Männchen, weil Männchen im Mittel etwas weiter nördlich überwintern als Weibchen (Macdonald et al. 2016) und deutlich früher in die Brutgebiete zurückkehren.

Das namens­gebende Merkmal von Schnee­ammern, nämlich das Weiß im Gefieder (neben der Tatsache, dass sie im Norden und gerade zu Beginn der Brut­zeit häufig auf Schnee vorkommen) ist bei einem jungen Weibchen kaum zu sehen. Früher wurde die Art auch Schnee­­sporn­­ammer genannt, wegen der relativ langen Hinterkralle: Der „alte“ aber immer noch von vielen genutzte Gattungsname Plectrophenax und der neue Gattungsname Calcarius beziehen sich beide auf diesen „Sporn; dieser findet sich auch bei der Spornammer (früher auch „Lerchen­sporn­ammer“), ebenfalls Gattung Calcarius, und auch bei anderen überwiegend bodenlebenden Singvögeln (Green et al. 2008). Ihren wohl­klingenden Namen Plectrophenax verlor die Schneeammer aufgrund mehrerer molekular-phylogenetischer Untersuchungen, die zeigten, dass sie inmitten der Spornammern der Gattung Calcarius zu finden ist, so dass ein eigener Gattungsname nicht mehr gerechtfertigt war.

Während Trupps von etwa 30 bis 60 Individuen, wie sie regel­mäßig an der Küste vorkommen, leicht auf­gescheucht werden, zeigte sich das hiesige Weibchen ausgesprochen zutraulich. Seine Flucht­distanz betrug regel­mäßig nur etwa 2 m, so dass gerade neue Beobachter sie in der Regel erst beim Auffliegen bemerkten. Hielt man sich aber jenseits dieser Grenze und verharrte ruhig, so ging sie relativ schnell wieder zur Nahrungs­­aufnahme über – überwiegend Sämereien (zu erkennen waren oft kleine runde schwarze Samen), die sie bevorzugt am Rand des Mittelstreifens des Flurweges im Sekundentakt auf­pickte. Das offenbar reichliche Nahrungsangebot auf Flurwegen inmitten einer klassischen Agrarlandschaft mag dabei überraschen. Nach der Fachliteratur sind Schnee­ammern nicht wählerisch und in Mägen wurden bis zu 1000 Samen gefunden (Glutz et al. 1997). Beim Picken drückte sich die Ammer meist dicht an den Boden – der gesamte schwarze, unbefiederte Teil des Laufs lag waagrecht dem Fuß auf. So kroch sie regelrecht am Grünstreifen entlang, pausenlos Samen aufnehmend. Das Auffliegen durch Störung wurde regelmäßig durch leichtes Flügel­­anheben vorbereitet (siehe Abb. 6). Der flache Flug führte dann ca. 10 m in den benachbarten Graben, aus dem das Tier bald nach Entfernung des Verursachers in der Regel zu Fuß zurück auf den Weg fand. Rufe waren bei diesen kurzen Flügen nicht zu vernehmen, allerdings bei längeren Flügen (z.B. am ersten Tag, als sie noch auf nahen Feldwegen ohne begleitenden Graben Nahrung suchte und bei Störung dann über den Acker zum nächsten Feldweg flog). Das charakteristische kräftige Djü und ein Triller, der im Ton an Grünfink und im Rhythmus an Haubenmeise erinnert, wurden unregelmäßig abgewechselt – es gibt nur eine mäßige Aufnahme davon, aber eine ganz entsprechende Tonaufnahme gelang am Seeburger See 2016 bei einer überfliegenden Schneeammer und wurde bei ornitho.de eingestellt.

Abb. 9: Öde Feldflur bei Bovenden. Der dunkle Punkt in der Mitte ist die Ammer. Foto: Andreas Stumpner
Abb. 10: Lieblingsplatz der Schneeammer am Mittelstreifen des Feldwegs. Foto: Andreas Stumpner

Können wir in Zukunft vielleicht häufiger auf Schneeammern hoffen? An der norddeutschen Küste war seit den 60er Jahren eine deutliche Reduktion der Winterbestände festgestellt worden, die aber offenbar mit einer Intensivierung der Grünlandnutzung einherging. Nach einigen Schutzmaßnahmen nahmen dann die Zahlen in den 90er Jahren wieder zu (Dierschke und Bairlein, 2003). Andererseits treten immer wieder starke Schwankungen in der Häufigkeit zwischen den Jahren auf, die eine seriöse Bestandsschätzung sehr erschweren (Aumüller et al. 2016). Auch auf ornitho.de wurden im Jahr 2018/19 mehr als doppelt so viele Tiere gemeldet als in den beiden Vorjahren – im Jahr 2015/16 dagegen waren es nur ein Viertel derer von 2018/19. Im Jahr 2020/21 werden die Zahlen vermutlich wieder ähnlich niedrig wie 2015/16. Schließlich gibt es durch die globale Erwärmung, die sich ja in der Arktis besonders dramatisch auswirkt, auch Änderungen, die sowohl die Brutperiode als auch die Zugrouten dieser zirkumpolar verbreiteten Art beeinflussen können. Die Gesamttendenz könnte also eher hin zu weiter nördlichen Winterquartieren führen – das wären dann schlechte Aussichten für den Landkreis Göttingen.

Andreas Stumpner

Danken möchte ich V. Dierschke, H.H. Dörrie, M. Göpfert, V. Hesse und M. Siebner für Beiträge zu diesem Artikel.

Literatur:

Alström P. et al. (2008) Phylogeny and classification of the Old World Emberizini (Aves, Passeriformes). Molecular Phylogenetics and Evolution 47, 960–973

Aumüller R. et al. (2016) Verbreitung und Bestand überwinternder Singvögel im Nationalpark Niedersächsisches Wattenmeer. Vogelkdl. Ber. Niedersachs. 44, 157-194

Carson R.J., Spicer G.S. (2003) A phylogenetic analysis of the emberizid sparrows based on three mitochondrial genes. Molecular Phylogenetics and Evolution 29, 43–57

Cramp, S., Simmons K.E.L. (1994) Handbook of the Birds of Europe the Middle East and North Africa. Volume 9: Buntings & New World Warblers

Dierschke J. (2001) Herkunft, Zugwege und Populationsgröße in Europa überwinternder
Ohrenlerchen (Eremophila alpestris), Schneeammern (Plectrophenax nivalis) und Berghänflinge (Carduelis flavirostris). Die Vogelwarte 41, 31-43

Dierschke J., Bairlein F. (2003) Why did granivorous passerines wintering in wadden sea salt
marshes decline? Ardea 90, 471-477

Dörrie H. (2010): Anmerkungen zur Vogelwelt des Leinetals in Süd-Niedersachsen und einiger angrenzender Gebiete 1980-1998. Kommentierte Artenliste. 3., korrigierte Fassung

Glutz von Blotzheim U.N. et al. (1997) Handbuch der Vögel Mitteleuropas. Band 14/III: Passeriformes (5. Teil) Emberizidae

Green R.E., Barnes K.N., de L. Brooke M. (2009) How the longspur won its spurs: a study of claw and toe length in ground-dwelling passerine birds. Journal of Zoology 277, 126–133

Hall C.M., Johnsen M.G. (2020) Possible influence of variations in the geomagnetic field on migration paths of snow buntings. International Journal of Astrobiology, 19, 195–201

Macdonald C.A. et al. (2016) Cold tolerance, and not earlier arrival on breeding grounds, explains why males winter further north in an Arctic-breeding songbird. Journal of Avian Biology 47: 7–15

Hennicke C.R. (Hrsg.) (1905) Naumann Die Naturgeschichte der Vögel Mitteleuropas. Band 3: Lerchen, Stelzen, Waldsänger und Finkenvögel

Winters R. (2013) Snow Bunting: sexing, ageing and subspecies. Dutch Birding 35, 7-14
WWF (2014) Bedeutung des Klimawandels für Fauna und Flora in Deutschland und Nordeuropa (abgerufen 25.1.2021)

Ringers‘ Digiguide, Ottenby, Sweden (abgerufen 24.1.2021)

Yuri T., Mindell D.P. (2002) Molecular phylogenetic analysis of Fringillidae, ‘‘New World nineprimaried oscines’’ (Aves: Passeriformes). Molecular Phylogenetics and Evolution 23, 229–243

Abb. 10: Und nach dem 26. Januar ging ihre Reise wohl weiter. Foto: Mathias Siebner