Am Morgen des 24. Mai 2024 war Béla Bartsch unweit des Gutes Sennickerode bei Bischhausen (Gemeinde Gleichen, Landkreis Göttingen) mit Kartierarbeiten beschäftigt, als er einen ungewöhnlichen Gesang hörte. Die flüssig vorgetragenen Lautäußerungen erinnerten an einen Sumpf- oder Schilfrohrsänger, eine Gartengrasmücke oder einen Gelbspötter – aber nichts davon passte richtig. Imitationen anderer Singvogelarten hatte der Vogel auch parat sowie, nicht zuletzt, ein spatzenartiges Rattern als häufiges Strukturelement. Als Béla den Urheber ausmachen konnte, erwies sich dieser als gelb-grüner Singvogel, der sich zunächst in einer kleinen Gruppe niedriger Obstbäume tummelte und dann in den Kronenbereich einer alten Esche bzw. Buche wechselte. Nach kurzer Zeit war klar: Es konnte sich nur um einen Orpheusspötter handeln, den ersten für Süd-Niedersachsen!
Auf Fotos sind sein rundlich-freundliches Kopfprofil und die kurzflüglige Erscheinung, die ihn vom nahe verwandten Gelbspötter unterscheiden, gut zu erkennen. Aber was hatte er dort verloren? Eigentlich ist der Lebensraum wie gemacht für einen Gelbspötter, der auch prompt in der Nähe sang. Hat er vielleicht seinen Cousin angelockt? In der weiteren Umgebung dominieren, neben dem alten Feldgehölz und dem ländlichen Siedlungsbereich von Sennickerode, große Getreideschläge. Auch das Verhalten des Orpheusspötters erinnerte an seinen Verwandten, denn er begab sich nur selten von den hohen Bäumen. Ob dies als Ausweichverhalten gegenüber den zahlreichen Beobachtern gewertet werden kann, muss offen bleiben.
Orpheusspötter kommen überwiegend in trockenen, warmen Habitaten vor, die durch Büsche und frühe Stadien der Sukzession geprägt sind wie etwa Brachen, Straßenböschungen, Kiesgruben, Heidelandschaften oder aufgelassene Weinberge. Seit den 1930er Jahren hat diese vordem auf Südwesteuropa und Nordafrika beschränke Art ihr Brutgebiet kontinuierlich ausgedehnt. Mittlerweile brüten in Deutschland nach den Angaben in ADEBAR 600-1100 Paare, vor allem an den Flusstälern im Saarland und in Rheinland-Pfalz, vereinzelt auch in Hessen, Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen. In Niedersachen ist er immer noch, mit ca. 15 Nachweisen, eine seltene Art, wobei zwei Reviernachweise 2009 aus dem Südwesten des Bundeslands wegen vermutlicher Fehlbestimmung nicht in die Aufstellung bei ADEBAR übernommen wurden. Die Ursachen der Expansion sind unklar. Zudem scheint diese in den letzten Jahren etwas an Schwung verloren zu haben. Deutsch benannt ist der Orpheusspötter nach dem antiken Sänger und Sagenheld Orpheus, der seine geliebte Gefährtin Eurydike aus der Unterwelt befreien wollte und tragisch scheiterte. Sein Gesang soll so betörend gewesen sein, dass er sogar den zähnefletschenden Höllenhund Zerberus erweichen konnte. Ehrlich gesagt, sonderlich sensationell ist der Gesang von Hippolais polyglotta nicht. Vergleicht man ihn mit den spektakulären Strophen des Buschrohrsängers, von Nachtigall oder Singdrossel zu schweigen, beeindruckt sein plätscherndes Geschwätz eher wenig. Ausgeprägt vielstimmig (polyglott) ist er ebenfalls nicht, da haben Sumpfrohrsänger und Gelbspötter mehr auf dem Kasten. Einen Zerberus (oder wahlweise einen niedersächsischen Hofhund) hätte er damit wohl kaum sedieren können… Grund für die Benennung war vermutlich, dass sein Gesang mehr flötende Elemente enthält als der des nah verwandten Gelbspötters.
Kurz nach der Entdeckung trafen die ersten Beobachterinnen und Beobachter ein, um den seltenen Gast zu bestaunen. Es wurden dann knapp über 40. Ihnen allen gegenüber zeigte sich der kleine Dauersänger sehr kooperativ und konnte in seinen beiden Lieblingsbäumen leicht ausgemacht werden. Am 15. Juni wurde er zuletzt von Ole Henning gehört, danach gab es anscheinend keine weiteren Wahrnehmungen.
Ob er eine Eurydike bezirzen konnte, darf bezweifelt werden. Jede Artgenossin, die etwas auf sich hält, hätte diesen Lebensraum wohl verschmäht. Kein Vergleich mit manchem ALDI-Parkplatz in Saarbrücken!
Das Schöne an der Feldornithologie ist, dass man vor Überraschungen nicht sicher ist. Manche Vögel haben ihren eigenen Kopf und pfeifen bzw. zwitschern auf alle Voraussagen und Erwartungen. Einen Orpheusspötter hätte bei Sennickerode wohl niemand vermutet. Das mag angesichts der vielfältigen Kalamitäten und Katastrophen ein kleiner Trost sein.
Nach Zwerggans, Triel, Seidensänger und Orpheusspötter steht unsere regionale Liste jetzt bei 332 Arten. Für eine tief im Binnenland gelegene Region ist das sehr beachtlich. Spiegelt es auch eine Wende in der Biodiversitätskrise wider? Leider nicht…
Hans H. Dörrie und Béla Bartsch