In der Göttinger Innenstadt, genauer gesagt in der Düsteren Straße 8, dort, wo heute eine unansehnliche Dauerbaustelle den Blick auf die Fachwerkfassade versperrt, lag in den späten 1980er bis Ende der 90er Jahre das vogelkundliche Zentrum Göttingens. Jeder, der sich ernsthaft mit Vogelkunde auseinandersetzte, fand den Weg hierher, in eine antiquarische Buchhandlung.

Hinter dem Verkaufstresen saß, nicht selten in Begleitung der dem Gesprächsverlauf hinterherplappernden Blaustirnamazone „Inti“, Hans-Heinrich Dörrie oder – wie er zumeist genannt wurde – Hannes. Hier wurden Neuigkeiten ausgetauscht, Fachzeitschriften studiert und diskutiert. Und der Inhaber wusste zu egal welchem Thema eigentlich immer etwas zu erzählen: von der Braunschweiger Eintracht über die Bestandsdynamik der Türkentaube, von den „Segnungen der Energiewende“ zu Maria Furtwängler – das abgedeckte Themenspektrum war sehr breit.
Am 23 Juli.2025 ist Hans-Heinrich Dörrie im Alter von 75 Jahren verstorben. Man kann mit einiger Gewissheit sagen: Niemand prägte die Vogelkunde Südniedersachsens mehr als er.

1950 in Braunschweig geboren begann sein Interesse an der Vogelwelt – wie so oft bei passionierten Vogelbeobachtern – als kleines Kind. Um die Wissbegierde des noch sehr jungen ‚Hannes‘ über die Vögel stillen zu können, nahm ihn sein Vater mit in die nahegelegenen Braunschweiger Rieselfelder. Als Jugendlicher und junger Mann drängte die Politik das Interesse für die Vögel zeitweilig in den Hintergrund. Seine aus den späten 60er und 70er Jahren stammende marxistische Prägung behielt er im Sinne einer kritisch-politischen Orientierung bei. Diese spiegelte sich in seinen Texten und Kommentaren wider.
Den Vögeln widmete er sich wieder verstärkt mit Beginn der 80er Jahre. Da Hannes nie einen Führerschein gemacht hat (von dem Vorhaben hatte er nach einigen Probefahrten und auf Anraten anderer Abstand genommen), erkundete er mit dem Fahrrad besonders die Parks und Gewässer vor allem am südlichen Göttinger Stadtrand, wo sich, wie er einmal schrieb, „gleich einer Perlenkette ein Supergebiet ans andere reiht“. Gemeint sind die eher unscheinbar daherkommenden Beobachtungsgebiete Siekgraben, Ascherberg, Kiessee, Kiesgrube Reinshof, Feldmark Geismar und ehemalige Bauschuttdeponie. Die damals noch existierenden Klärteiche der Zuckerfabriken in Northeim und Nörten-Hardenberg, manch einer wird sie schmerzlich vermissen, waren neben den heute noch hochfrequentierten Feuchtgebieten wie Seeburger See, Northeimer Kiesteiche Geschiebesperre und Konsorten Orte, die er oft zur Vogelbeobachtung aufsuchte. Aus dem Leinepolder Salzderhelden stammt sein ungeschlagener und unvergessener Nachweis von 14 rastenden Sanderlingen an der dortigen Kiesgrube, worauf er zeitlebens mit einer Prise Selbstironie sehr stolz war. Vielleicht aber kann diese sehr spezielle Beobachtung auch als Ausdruck seines Gespürs für die Vögel gesehen werden.
Hannes war keineswegs in Südniedersachsen festgenagelt: Vor allem bis Mitte der 90er Jahre bereiste er zahlreiche Länder weltweit. Er studierte unter anderem die Vogelwelt Chinas, Tansanias, Nordafrikas und des Jemens. In Marokko sah er – aus heutiger Sicht kaum zu glauben – die vermutlich letzten überlebenden Dünnschnabel-Brachvögel.

Zuhause, in Göttinger Gefilden, wo er Ende der 1980er Jahre bereits in der damaligen Ornithologischen Arbeitsgemeinschaft Südniedersachsen an Zusammenstellungen interessanter Vogelbeobachtungen mitgewirkt hatte, wurde ihm das „Herumstehen an Feuchtgebieten in Erwartung einer Seltenheit“ zunehmend ein Dorn im Auge. Er begann sich intensiver mit der Vogelwelt des Reinhäuser Waldes nahe Göttingen zu befassen, wohin er viele Jahre nahezu täglich zur Pflege seines Esels „Pepe“ fuhr. Sein Interesse galt mehr und mehr den Vögeln abseits ausgetretener Pfade, der Entwicklung der Vogelbestände und dem sich immer weiter verstärkenden Einfluss des „Top-Prädators Homo sapiens“.
Ende der 1990er Jahre schloss er sein Antiquariat und widmete sich nun vollends den Vögeln. Er trieb maßgeblich die Neuorganisation der regionalen Arbeitsgemeinschaft, des Arbeitskreises Göttinger Ornithologen, AGO, voran. Dass aus diesem Zusammenschluss kontinuierlich in Südniedersachsen Vogelkunde auf fachlich hohem Niveau betrieben wurde, war Hannes´ Einsatz und Motivationsfähigkeit zu verdanken. Als Arbeitsgrundlage verfasste er 1998 die Kommentierte Artenliste „Anmerkungen zur Vogelwelt des Leinetals in Süd-Niedersachsen sowie einiger angrenzender Gebiete“.
Im Jahr 2010 erschien im Verlag des Göttinger Tageblatts sein vielfach gelobtes Werk „Göttingens gefiederte Mitbürger – Streifzüge durch die Vogelwelt einer kleinen Großstadt“. Von 1999 bis 2008 verfasste er die ornithologischen Jahresberichte für den Raum Göttingen und Northeim. Nach Einstellung dieser Schriftenreihe, führte er die vogelkundliche Berichterstattung auf dieser Homepage in Form von Sammelberichten für Heimzug und Brutzeit, späte Brutzeit und Wegzug sowie den Vogelwinter neben vielen anderen Beiträgen wie z.B. Artportraits fort.
Kartierungen im Göttinger Stadtwald, auf den großen städtischen Friedhöfen und die Stadtvogelkartierung, eine Wiederholung früher Erfassungen, sind nur eine kleine Auswahl der Vorhaben, die Dank Hannes Initiative umgesetzt, ausgewertet und publiziert worden sind. Für alle, die sich engagieren wollten, hatte er stets Rat und ein offenes Ohr und – vielleicht am bedeutendsten – eine umfassende Literaturkenntnis und entsprechend ausgestattete Bibliothek parat.

Hannes hatte hohe Ansprüche an die Arbeit des AGO – insbesondere vor dem Hintergrund, dass Göttingen und Umgebung seit Jahrzehnten von Vogelkundlern bearbeitet wurden und sich daher anhand historischer Erfassungen Vergleiche über lange Zeiträume anstellen ließen. Er prägte Generationen von Vogelbeobachtern. Bis zuletzt versuchte er, den Draht zu motovierten jüngeren Beobachtern zu halten. Wann immer besonders vielversprechende Zöglinge sich anschickten, Göttingen zu verlassen, sorgte er sich aufs Neue um die Zukunft des AGO. Er war das Gesicht des Arbeitskreises. Die Weiterführung seriöser, ernsthafter und – das war ihm stets sehr wichtig – kritischer Avifaunistik ist sein Vermächtnis.
Seine Fachkunde, sein Humor, sein sprachlicher Witz, seine umfassenden Literaturkenntnisse, seine exzellente Allgemeinbildung, seine Zugewandtheit, seine Verlässlichkeit und seine Freundschaft werden sehr fehlen.
Um es mit Hannes‘ eigenen Worten zu sagen: „Mach´s gut, kleiner Kobold, hochsympathischer Knirps!“
Christoph Grüneberg
