Kiessee Göttingen, Kiesgrube Reinshof und Feldmark Göttingen Geismar

Göttingen wird im Norden und Westen von Schnellstraßen in Kombination mit intensiv bewirtschafteten Agrarflächen eingeschnürt. Im Osten grenzt die Stadt an den Göttinger Wald. Im Süden geht der Siedlungsbereich noch vergleichsweise harmonisch in die offene Landschaft über. Obwohl “Normallandschaft pur” weist der Göttinger Süden eine Vielfalt unterschiedlicher Lebensräume auf.

Skyline Göttingen
Abb. 1: Von der Innenstadt erreicht man nach nur 10 Minuten auf dem Fahrrad den Ausgangspunkt einer Reihe lohnender Beobachtungsgebiete, die den Stadtrand wie mit einer Perlenschnur bekränzen

Knapp 240 Vogelarten wurden bislang im Süden Göttingens nachgewiesen. Diese für einen winzigen Ausschnitt des niedersächsischen Berglands bemerkenswert hohe Zahl zeigt keineswegs eine besondere Attraktivität für Vögel aller Art an, sondern beruht in hohem Maße auf dem engagierten Einsatz lokaler Beobachter. Diese können sich als Bewohner einer Universitätsstadt in einer naturkundlichen Tradition bewegen, die bis zum Ende des 18. Jahrhunderts zurückreicht. Im folgenden möchten wir die wichtigsten Gebiete kurz vorstellen. Sie sind eher klein und können alle zusammen bequem an einem Vormittag abgefahren werden.

Abb. 2: Übersichtskarte über die Beobachtungsgebiete am südlichen Göttinger Stadtrand: 1 Kiessee; 2 Kiesgrube Reinshof; 3 Diemardener Berg; 4 Bauschuttdeponie Geismar Süd

Göttinger Kiessee

Zwei vor 40 Jahren noch vergleichsweise abgelegene naturnahe Kiesgruben mit unregelmäßigen Vorkommen von Zwergdommel und Drosselrohrsänger wurden ab 1962 zu einem der beliebtesten Göttinger Naherholungsgebiete umgemodelt. Der Pflanzenbewuchs in Gestalt von Schilf, Rohrkolben und jungen Weiden wurde radikal beseitigt. Nach dem Abpumpen des Wassers entstanden Schlammflächen, die binnen kurzer Frist spektakuläre Erstnachweise von Seeregenpfeifer und Graubruststrandläufer bereithielten. Das alles ist lange her. Heute ist der Kiessee ein vielbesuchtes Freizeitgewässer mit regem Bootsverkehr in den Sommermonaten. Seit ungefähr 25 Jahren hat sich kleinflächig wieder ein lückenhafter Röhrichtgürtel entwickelt, der typische Brutvogelarten wie Haubentaucher, Teichrohrsänger und Rohrammer beherbergt. Mit seiner Wasserfläche von ca. 12 Hektar und einer kleinen dichtbewachsenen “Vogelschutzinsel” übt der Kiessee eine nicht zu unterschätzende Anziehungskraft auf Rastvögel aus. Davon zeugen Nachweise von Rallenreiher (1983), Purpurreiher (1984 und 2003) und Nachtreiher (2001). Überfliegende Silberreiher sind seit ein paar Jahren fast schon Normalität. Alle im Binnenland vorkommenden Enten- und Sägerarten , einschließlich Eider-, Samt-, Trauer- und Eisente, haben das unscheinbare Gewässer schon besucht. Das trifft auch auf Pracht- und Sterntaucher sowie alle fünf Lappentaucherarten zu. Das Spektrum der Seeschwalben (inklusive Zwerg-, Küsten- und Weißflügel-Seeschwalbe) wurde 2006 durch den lokalen Erstnachweis der Brandseeschwalbe (11 Individuen) komplettiert, während zwei Raubseeschwalben bereits den zweiten Nachweis (Erstnachweis 1981) anzeigten. Für Limikolen ist das Gebiet weniger lohnend, weil geeignete Rastflächen fehlen, aber Waldwasserläufer und vor allem Flussuferläufer geben sich auf dem Heim- und Wegzug alljährlich ein Stelldichein. An guten Heimzugtagen bestehen optimale Möglichkeiten zur Beobachtung von Drossel- und Schilfrohrsänger (beide erfreulicherweise wieder zunehmend), die in der Regel durch ihren Gesang auf sich aufmerksam machen. Auch stumme Vögel können sich in den kleinen Röhrichtparzellen nur schlecht den Blicken ihrer Bewunderer entziehen. Von den Sperlingsvögeln gerieten auch schon Schlagschwirl (1996) und Zwergschnäpper (1986) ins Visier. Die Beutelmeise wird, wie anderswo auch, immer seltener auf dem Heim- und Wegzug wahrgenommen. In klassischen Zugstausituationen von Ende April bis Ende Mai fliegen über dem See manchmal Tausende von Schwalben und Mauerseglern umher, die sich wegen der geringen Entfernung und der immer guten Einsehbarkeit des Gewässers exzellent studieren lassen. Darum sind gleich zwei Nachweise der Rötelschwalbe mit insgesamt vier Individuen in den Jahren 2005 und 2006 nicht weiter verwunderlich. Zum Schwalben- und Seglerbeobachten ist der Kiessee bei schlechtem Wetter das beste Gebiet weit und breit. In der Hauptzugzeit (März bis Ende Mai und Juli bis Ende Oktober), aber auch im Winter, wenn viele andere Gewässer zugefroren sind, lohnt sich ein Besuch immer. Vom regen Besucherverkehr, der auch kopfstarke Hundemeuten einschließt, sollte sich kein Vogelbeobachter abschrecken lassen – viele Vögel tun es nämlich auch nicht!

Kiesgrube Reinshof

Nur etwa zwei Kilometer südlich des Kiessees und über die Straße “Am Flüthedamm” zwischen Göttingen und Rosdorf schnell zu erreichen, befindet sich in der Gemarkung “Himmelreich” seit Ende der 1960er Jahre die immer noch aktive Kiesgrube Reinshof. Das Gebiet liegt in unmittelbarer östlicher Nachbarschaft zur Leine und ist (noch) erheblich offener strukturiert als der Kiessee. Gleichwohl weist es mittlerweile einen schmalen, von Sportanglern geförderten Röhrichtgürtel – mit einem ähnlichen Brutvogelspektrum wie am Kiessee – und gebüschreiche Sukzessionsflächen auf. Als Brutvögel sind Flussregenpfeifer, Eisvogel (an der Leine), Kleinspecht, Nachtigall, Feldschwirl und Gelbspötter hervorzuheben. Die ca. sieben Hektar große Wasserfläche wird von zahlreichen Entenarten, darunter auch Meeresenten, für einen Zwischenstop oder auch ein längeres Verweilen bis zur Überwinterung traditionell geschätzt. Fast schon eine Spezialität von Reinshof sind Entenhybriden der unterschiedlichsten Kombinationen, die hier optimal unter die Lupe genommen werden können. Wie groß ist die Bestimmerfreude, wenn sich das vermeintliche Bergenten-Weibchen als kniffliger Hybrid von Reiher- und Tafelente entpuppt! Stern-, Pracht- und Ohrentaucher sind dagegen seltene Gäste mit weniger als drei Nachweisen pro Art. Regelmäßig versammeln sich im Herbst und Winter bis zu 100 Saat- und Blässgänse, die zusammen mit den erheblich zahlreicheren Graugänsen auf den angrenzenden Feldern auf Nahrungssuche gehen und sich dabei oftmals aus ungewöhnlich geringer Distanz beobachten lassen. Für Limikolen ist Reinshof vergleichsweise attraktiv. Obwohl die Individuenzahlen immer gering ausfallen, belegen Nachweise von Austernfischer, Säbelschnäbler, Sanderling, Knutt, Temminck- und Zwergstrandläufer aus den letzten sechs Jahren eine gewisse Anziehungskraft. Auch Fluss-, Küsten-, Brand- und Weißbartseeschwalbe gelangten in diesem Zeitraum zur Beobachtung, nicht zu vergessen die in unserer Region traditionell spärlich auftretenden Silber-, Herings- und Mittelmeermöwen. Von der Dreizehenmöwe liegen gleich drei Nachweise (1986, 1987 und 1997) vor. Der Vogelzug lässt sich an der Kiesgrube Reinshof bei einigen Artengruppen besser studieren als am Kiessee. Aus dem Spektrum der Greifvögel treten Wespenbussard, Schwarzmilan, Fischadler und Baumfalke regelmäßig auf dem Heim- und Wegzug in Erscheinung, Seeadler (2004), Rotfußfalke (mehrere Nachweise) und Würgfalke (1991 und 2000 in der angrenzenden Feldmark) sind bislang die Highlights. Die Kiesgrube Reinshof ist im Göttinger Raum das beste Gebiet, um sich mit dem immerwährenden Kalender des Kleinvogelzugs vertraut zu machen. Überdurchschnittlich oft fallen hier die jährlichen Erstbeobachtungsdaten von Grasmücken, Laub- und Rohrsängern an. Auf die Frage “Wann bekomme ich die erste Dorngrasmücke oder den ersten Teichrohrsänger zu sehen” gibt das Gebiet in fast jedem Jahr eine erschöpfende Antwort. An guten Zugtagen im April und Mai kann man fast schon sicher sein, auf spärliche Arten wie Wendehals, Schilf- und Drosselrohrsänger zu stoßen. Das Blaukehlchen wird in fast jeder Heimzugperiode gesehen, im Frühjahr 2006 lag sogar eine Revierbesetzung in einem angrenzenden Rapsfeld vor. Auch der Rohrschwirl ließ sich schon zweimal auf dem Heimzug blicken. Im Herbst sind ziehende Heidelerchen ein immer gern genossener Anblick und Ohrenschmaus. Dann werden auch die Bäume und Büsche von unruhigen Drosseln, darunter in manchen Jahren auch die eine oder andere Ringdrossel, wieder lebendig. Die Kies- und Ödlandflächen mit schütterer Ruderalvegetation sind ein typischer Lebensraum von Berghänfling und Schneeammer, die aber nur alle paar Jahre im November/Dezember gesehen werden. Der letzte Nachweis der Ohrenlerche (1979) liegt sogar fast 30 Jahre zurück.
Ein Besuch an der Kiesgrube Reinshof lohnt sich eigentlich immer. Ab Mitte Juni bis Ende Juli sollte man als Beobachter das Gebiet aber eher meiden, weil es dann übermäßig von Badegästen frequentiert wird, die fernglasbewehrten Besuchern eine gewisse Abneigung entgegenbringen…

Feldmark Göttingen-Geismar mit dem Diemardener Berg und der ehemaligen Bauschuttdeponie

Folgt man dem Wirtschaftsweg von der Kiesgrube Reinshof nach Osten und überquert dann die B 27 in Höhe der Brücke über die Garte, ist man in der Feldmark Göttingen-Geismar angelangt, einem agrarisch geprägten Gebiet, das sich einen gewissen Strukturreichtum bewahrt hat.

Feldmark Geismar
Abb. 3: Die Feldmark Geismar-Süd, aufgenommen von der ehemaligen Bauschuttdeponie. Hier präsentiert sich die Kulturlandschaft noch verhältnismäßig strukturreich und bietet damit einer recht hohen Zahl von Arten einen geeigneten Lebensraum. Foto: Nikola Vagt

Für Brutvögel aus dem Spektrum der Feld- und Offenlandbrüter sind die zum Diemardener Berg führenden Hanglagen und die gebüsch- und heckenreiche Umgebung der “Hirsebreikuhlen” (Gipseinbrüche), aber auch einige tiefer gelegene Bereiche der Feldmark von Interesse. Hier siedelt noch, mit sechs bis sieben Paaren, eine kleine, aber offenkundig vitale Rebhuhn-Population. Wachteln rufen von Ende April bis Mitte August in jährlich schwankenden Zahlen (von zwei bis 20 Rufern) aus den großen Getreideschlägen. Der Neuntöter brütet mit zwei Paaren und wird im Winter von seinem größeren Vetter, dem Raubwürger vertreten. Die Zahlen rastender Steinschmätzer und Braunkehlchen sind hier auf dem Heim- und Wegzug besonders hoch. Das Schwarzkehlchen wird ab und an beobachtet, während von der Spornammer, was Wunder, nur ein Nachweis (1996) existiert. Eine Spezialität ist die Ringdrossel, die auf dem Heimzug von Anfang bis Ende April regelmäßig auftritt, in guten Jahren mit bis zu acht Individuen pro Tag.

Diemardener Berg
Abb. 4: Blick vom Diemardener Berg auf Göttingen. Rastende Mornellregenpeifer interessieren sich jedoch weniger für das Panorama der Leinemetropole. Sie schätzen den freien Rundumblick, der Feinden wie Habicht oder Sperber einen unbemerkten Anflug quasi unmöglich macht. Foto: Fabian Bindrich

Der Diemardener Berg (170 m ü.NN) riegelt die Feldmark zum Gartetal ab. Dieser kleine, nur etwa 1,5 Kilometer lange Höhenzug sieht mit seinen großen Getreide- und Rapsschlägen auf den ersten Blick ziemlich langweilig aus, hat es aber in sich. Er garantiert dem Besucher nämlich eine freie Sicht über Göttingen, das Leinetal und den Göttinger Wald. Ziehende Vögel jeder Größenklasse können schon aus einiger Entfernung wahrgenommen werden. Weil das ausgeräumte Plateau nur einen geringen Bestand an Bäumen und Büschen aufweist, ist es für den lokalen Starvogel geradezu prädestiniert. Gemeint ist der Mornellregenpfeifer (und erst in zweiter Linie das Steppenflughuhn, das nur 1888 hier gesehen wurde!), der in geringer Anzahl von zumeist ein bis zwei Vögeln nahezu alljährlich auf dem Wegzug von Mitte August bis Mitte September beobachtet werden kann. Eine Frühexkursion auf den Diemardener Berg lässt an guten Zugtagen von Mitte August bis Mitte September die Herzen höher schlagen. Regelmäßig können, neben größeren Trupps von Baumpiepern und Schafstelzen, auch ziehende und rastende Brachpieper und Ortolane geortet werden, die Kenntnis der arttypischen Kontakt- und Zugrufe natürlich vorausgesetzt… Aber auch ein stiller Blick zu Boden kann Überraschungen bereithalten: Am 12.8.2006 ließ sich der erste Seggenrohrsänger Süd-Niedersachsens seit 1975 von drei Beobachtern in einem vegetationsreichen Entwässerungsgraben optimal bestaunen.

Goldammer
Abb. 5: Als Bewohnerin des offenen und halboffenen Kulturlandes ist die Goldammer am südlichen Göttinger Stadtrand verhältnismäßig häufig anzutreffen. Im Winter suchen auf dem Diemardener Berg auch größere Trupps nach Nahrung. Foto: Volker Hesse

Den Kranichzug und den Wegzug von Merlin, Kornweihe, Rotmilan, Sperber und Mäusebussard von Mitte September (Kranich in der Regel ab Mitte Oktober) bis Ende November kann man hier besonders gut erleben. Tagessummen von 5.000 Kranichen und mehr sind keine Seltenheit. Dagegen scheinen die Zahlen wegziehender Rotmilane immer mehr zurückzugehen. Ob die Nachweise von Zwergadler (1998), Rotfußfalke (1986, 1990), Wiesenweihe und Sumpfohreule (jeweils mehrere) darüber hinwegtrösten können, dass ziehende Wespenbussarde bislang nur in geringer Zahl registriert wurden, ist reine Ansichtssache.
Bewegt man sich in der Feldmark Richtung Nordosten, erblickt man von weitem eine kleine, von Bäumen und Büschen bewachsene Erhebung, die ehemalige Hausmüll- und Bauschuttdeponie des heutigen Göttinger Stadtteils Geismar. Hier kommen die Halboffenland-Charakterarten Dorngrasmücke, Sumpfrohrsänger und Goldammer in besonders hohen Dichten vor. Auch der Feldschwirl besetzt alljährlich drei bis vier Reviere. Die allgemein im Bestand zunehmende Nachtigall hat auch dieses Gebiet erobert. Leider wird die Bauschuttdeponie nur vereinzelt von Vogelbeobachtern aufgesucht. Dabei könnten die “vier großen W” (Wiesenweihe, Wachtelkönig, Wiedehopf und Wendehals), die hier beobachtet wurden, nur der Vorgeschmack weiterer Überraschungen gewesen sein!
Die Feldmark Geismar ist durch z.T. asphaltierte Wirtschaftswege nur allzu gut erschlossen und kann problemlos mit dem Fahrrad abgefahren werden. Für eine Exkursion auf den Diemardener Berg (von Geismar aus über die Straße “Im Bruche” zu erreichen) empfiehlt es sich, das Rad an der Informationstafel an der Benjes-Hecke nahe den “Hirsebrei-Kuhlen” abzustellen und sich dann weiter zu Fuß vorzuarbeiten. Die Bauschuttdeponie kann auch mit dem Auto (Verlängerung der Hauptstraße aus Geismar Richtung Klein Lengden) angefahren werden.
Wir hoffen, mit diesem kleinen Streifzug durch die südliche Peripherie einer kleinen niedersächsischen Großstadt gezeigt zu haben, was man alles in einer eher unspektakulären Umgebung, weitab von den Vogelzug-Knotenpunkten Rybatschi, Helgoland oder – Marburg sehen kann. Also: Nichts wie raus!

H. H. Dörrie

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