Von der Seltenheit zur Normalität – Silberreiher in Süd-Niedersachsen

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Abb. 1: Silberreiher. Foto: C. Grüneberg

Weiße Vögel haben seit jeher die menschliche Phantasie beflügelt. Für die einen symbolisieren sie jungfräuliche Reinheit, anderen sind sie wegen ihrer unwirklich anmutenden Erscheinung irgendwie suspekt. Den Höckerschwänen in städtischen Parkanlagen werden traditionell die unterschiedlichsten Gefühlsregungen entgegengebracht, und wenn diese Vögel nicht weitgehend stumm wären, könnten sie davon ein vielstimmiges Lied singen.

Heutzutage ist nicht jede weiße Erhebung in der Landschaft zwangsläufig ein Schwan (oder eine Plastiktüte). Während der letzten 15 Jahre haben sich Silberreiher zu einem regelmäßigen Anblick gemausert. Gerät einer von ihnen ins Visier des interessierten Normalbürgers, ist dieser in der Regel konsterniert und fragt nicht selten telefonisch beim Experten nach („So einen merkwürdigen Vogel habe ich noch nie gesehen! Ist das ein fehlfarbener Fischreiher? Wo mag der bloß herkommen?“). Damit verglichen fallen die Reaktionen von Feldornithologen heute eher nüchtern aus. Vielleicht schwingt bei dem einen oder anderen mit, dass diese elegante Vogelart bis zur anthropogenen Zerstörung eines einzigartigen Lebensraums in den ausgedehnten Sümpfen und Lagunen der friesischen Nordseeküste gebrütet hat. Dies geschah allerdings lange vor dem Beginn naturhistorischer Aufzeichnungen. Bekannter ist, dass der Silberreiher, wie auch der verwandte Seidenreiher, um die Wende zum 20. Jahrhundert in Europa nahezu ausgerottet war, weil sich betuchte Bürgersfrauen mit seinen Hochzeitsfedern schmückten. Immerhin keimten die ersten Bestrebungen des organisierten Vogelschutzes in empfindsamen Vertreterinnen ebendieser sozialen Klasse auf, die das Niedermetzeln der schönen Vögel öffentlichkeitswirksam anprangerten und letztlich dessen Verbot erreichten.
Von den Massakern des viktorianischen Zeitalters erholte sich die auf den Südosten des Kontinents beschränkte europäische Population des Silberreihers nur sehr langsam. Bezeichnend für den bis weit in die 1960er Jahre geringen Bestand einer Art mit ausgeprägtem Dismigrations- und Dispersionsverhalten war, dass aus Niedersachsen bis zum Jahr 1975 Nachweise von lediglich 26, vielleicht auch von insgesamt nur 16 Ind. existierten (E.R. Scherner in Goethe, Heckenroth & Schumann 1978).
In Süd-Niedersachsen erfolgte die erste Silberreiher-Beobachtung am 1.9.1974 an den Northeimer Kiesteichen. Nach einer Pause von sieben Jahren gelang am 4.9.1982 im Leinepolder Salzderhelden die zweite Wahrnehmung. Die beiden Vögel und ihre Entdecker wurden, wie bei großen Seltenheiten üblich, zum Sujet von Einzelpublikationen (Riedel 1975, Grobe 1983). Danach vergingen weitere sechs Jahre ohne Nachweis. Am 27.3.1989 hielt sich ein Ind. an der Geschiebesperre Hollenstedt auf (V. Dierschke in BSA 1991). In den 1990er Jahren trat die Art bereits fast alljährlich in Erscheinung, allerdings immer noch in geringen Zahlen von maximal sechs Ind. pro Jahr (Dörrie 2000). Mit dem neuen Millennium kam auch die große Wende. Im Jahr 2000 besuchten ca. 27 Ind. die Region, darunter ein Dezember-Vogel den Leinepolder Salzderhelden. Das fast schon exponentielle Anwachsen der Zahlen kulminierte in den Jahren 2004 und 2005 in einem Rastbestand von jeweils ca. 80 bis 85 Ind.
Heutzutage können Silberreiher praktisch ganzjährig (nur wenige Nachweise von Juni bis August) beobachtet werden, Trupps von mehr als zehn Ind. sind keine Seltenheit mehr. Ungefähr 80 Prozent aller Nachweise fallen in den Zeitraum von September bis April. Die bis dato höchste Tagessumme von 31 Ind. wurde am 27.11.2005 von F. Bindrich und G. Holighaus registriert.

Gefluteteter Leinepolder
Abb. 2: Leinepolder südlich von Einbeck – typischer Winterlebensraum des Silberreihers in Südniedersachsen. Nach Einstauungen werden ertrunkene Kleinnager abgelesen, bleibt der Polder trocken, erbeutet der Silberreiher – ähnlich seinem grauen Verwandten – vor allem lebende Mäuse. Foto: Nikola Vagt.

Die regionale Wintertradition hat sich verfestigt. In den vergangenen zwei Jahren überwinterten jeweils ca. 25 Ind. Dabei fällt ins Auge, dass sie an ihren Lebensraum keine besonders hohen Ansprüche stellen. Ein beliebter Aufenthaltsort überwinternder Silberreiher ist, neben den Grünländern und Feuchtgebieten um den Seeburger See, in der Leineniederung zwischen Northeim und Einbeck sowie am Denkershäuser Teich, die strukturarme Feldmark zwischen Bovenden und Nörten-Hardenberg. Diese wird von den naturfernen Bachläufen von Weende und Moore durchquert, ist aber ansonsten von intensiv bewirtschaftetem Ackerland geprägt. Hier gehen die Vögel mit Vorliebe auf Mäusejagd – ein Verhalten, dass sonst eher für den Graureiher typisch ist. Von der letzteren Art haben sie vereinzelt auch eine verminderte Fluchtdistanz übernommen, die ein untrügliches Zeichen nachlassender Verfolgung ist. Ein Ind., das sich im Herbst 2002 für drei Wochen im Wassergewinnungsgelände am südlichen Göttinger Stadtrand aufhielt, ließ sich, wie die gleichzeitig anwesenden Graureiher, kaum von Spaziergängern und freilaufenden Hunden bei der Mäusejagd stören. Für die Robustheit und ökologische Plastizität der Vögel spricht auch, dass sie Kälteperioden mit weitgehender Vereisung vieler Gewässer und Feuchtstellen anscheinend ohne Probleme überstehen – von Winterverlusten ist zumindest nichts bekannt.

Es liegt auf der Hand, dass die ursprünglich vor allem von Fischen lebenden Reiher eine Umstellung bei der Ernährung (wenigstens abseits der Brutplätze) vollzogen haben und neue Lebensräume nutzen. Dabei dürfte ihnen auch die allgemeine Klimaerwärmung mit insgesamt milderen Wintern zugute kommen. Die süd-niedersächsischen Überwinterer stellen jedoch nur einen winzigen Prozentsatz ihrer Artgenossen dar. Deren Zahl dürfte in Mittel- und Westeuropa mittlerweile in die Tausende gehen. Allein in den Niederlanden überwinterten im vergleichsweise harten Winter 2005/2006 ca. 800 Ind. Zahlen, die weit über dem süd-niedersächsischen Niveau liegen, sind auch aus einigen Regionen süd- und ostdeutscher Bundesländer bekannt.

Woher stammen „unsere“ Silberreiher? Der Bestand der südosteuropäischen Quellenpopulationen – von Österreich über Ungarn und die Slowakei bis zur Ukraine – ist in den vergangenen zehn Jahren auf mehr als 10.000 Paare angewachsen. Heute brüten die Vögel auch im Baltikum und in Weißrussland, in Polen und Tschechien, in den Niederlanden und in Frankreich – aber immer noch nicht in der BRD (BirdLife International 2004). Neben der Einstellung der systematischen Verfolgung dürfte auch das Anlegen großer Teichgebiete zur Fischgewinnung den positiven Bestandstrend gefördert haben.
Angesichts der starken Zunahme in Südosteuropa und der räumlichen Verteilung der bundesdeutschen Nachweise mit einer unverkennbaren Konzentration auf den Süden und Südosten der Republik liegt die Vermutung nahe, dass auch die süd-niedersächsischen Vögel aus diesem geographischen Raum stammen.

Kann man das mittlerweile häufige und alljährliche Auftreten nordwestlich der Brutgebiete im Herbst und Winter noch als ungerichtete Dismigration interpretieren, die für viele Reiherarten typisch ist? Wohl kaum. Vielmehr drängt sich die Annahme auf, dass es sich bei den Einflügen um zielgerichtete und womöglich bereits genetisch codierte Zugbewegungen handelt. Damit läge für eine Vogelart, deren europäische Populationen früher die Wintermonate vor allem im klimatisch begünstigten Mittelmeerraum verbracht haben, eine außergewöhnliche Veränderung des Zugverhaltens innerhalb weniger Jahre vor. Ob diese faszinierende Entwicklung von Dauer ist, muss natürlich offen bleiben.
Interessanterweise entstammten aber die beiden einzigen Vögel, deren Herkunft Anfang Mai 2005 am Seeanger von D. Radde und T. Meineke durch Farbringablesung ermittelt werden konnte, einer nur ca. 15 bis 20 Paare umfassenden Brutpopulation am ca. 1300 Kilometer entfernten Lac de Grand Lieu nahe der französischen Atlantikküste. Einer der Reiher war fünf Jahre alt, der andere mindestens zwei Jahre (Dörrie 2006). Die französischen Brutvögel sollen im wesentlichen Standvögel sein (Dubois et al. 2000). 2005 tauchten jedoch gleich vier von ihnen in Deutschland auf, neben den beiden vom Seeanger je einer Ende Mai an den Ratzener Teichen in Ostsachsen und im September am Kachliner See in Ostvorpommern (Vogelwarte 43: 285, 44: 261). Wer ist so kühn und macht sich einen Reim darauf?

Obwohl die Artbestimmung der weißen Riesen keine Probleme aufwirft, ist in unserer Region so gut wie nichts über ihre Alterszugehörigkeit bekannt. Adulte Silberreiher mit Schmuckfedern sind immer noch ein seltener Anblick. Präsentieren die Vögel keine Schmuckfedern, wird es kompliziert, weil die variable Färbung der unbefiederten Körperteile nur bedingt bei der Altersbestimmung von Nutzen ist. Es gibt also noch einiges zu entdecken!

Das spektakuläre Beispiel des Silberreihers belegt nicht nur die Unvorhersehbarkeit von Ergebnissen natürlicher Prozesse, sondern auch den gravierenden Einfluss menschlicher Verfolgung auf Vogelpopulationen. Hätte jemand im Jahr 1980 in die Welt gesetzt, dass bei uns dieser Schreitvogel in zwanzig Jahren eine problemlos aufzufindende Normalität darstellen wird – er wäre von allen, die damals zum Neusiedler See fahren mussten, um ihn mit hoher Wahrscheinlichkeit auf die Liste zu bekommen, bestenfalls belächelt worden. Heute tendiert so mancher dazu, die leicht bestimmbaren Vögel eher uninspiriert zur Kenntnis zu nehmen und abzuhaken. Dabei sollten es ambitionierte Feldbeobachter aber nicht belassen: auch das Auftreten vormals seltener Arten ist aussagekräftig und gründlich (wie alt sind die Vögel, sind sie beringt?) zu dokumentieren – auch und gerade dann, wenn dies zur Alltagserfahrung wird…

H. H. Dörrie

Literatur

  • BirdLife International (2004): Birds in Europe: population estimates, trends and conservation status. BirdLife International Conservation series Nr. 12. Cambridge
  • Angaben zu Beständen und Verbreitung des Silberreihers bei BirdLife International
  • Bundesdeutscher Seltenheitenausschuß (BSA) (1991): Seltene Vogelarten in der Bundesrepublik Deutschland 1989 (mit Nachträgen 1977 bis 1988). Limicola 5: 186-220
  • Dörrie, H.H. (2000): Anmerkungen zur Vogelwelt des Leinetals in Süd-Niedersachsen und einiger angrenzender Gebiete 1980-1998. Kommentierte Artenliste. Erweiterte und überarbeitete Fassung. Göttingen
  • Dörrie, H.H. (2006): Avifaunistischer Jahresbericht 2005 für den Raum Göttingen und Northeim. Naturkundl. Ber. Fauna Flora Süd-Niedersachs. 11: 4-67
  • Dubois, P., P. Le Maréchal, G. Olioso & P. Yésou (2000): Inventaire des Oiseaux de France. Nathan, Paris
  • Goethe, F., H. Heckenroth & H. Schumann (1978): Die Vögel Niedersachsens. 1. Lieferung. Natursch. Landschaftspfl. Niedersachs., Sonderreihe B, H. 2.1. Hannover
  • Grobe, D.W. (1983): Silberreiher Casmerodius albus-Beobachtung in Südniedersachsen. Beitr. Naturk. Niedersachs. 36: 108
  • Riedel, B. (1975): Silberreiher Casmerodius albus und Seidenreiher Egretta garzetta an der Northeimer Seenplatte. Beitr. Naturk. Niedersachs. 28: 63-64