Der Kuckuck in Süd-Niedersachsen – ein Schlawiner mit Problemen

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Mit dem Kuckuck als „Vogel des Jahres 2008“ hat der NABU eine gute Wahl getroffen. Der Frühlingsbote ist nicht nur populär, sondern unter den einheimischen Vögeln in vielerlei Hinsicht ein Unikum.

Die meisten Menschen kennen diesen faszinierenden Brutparasiten vor allem wegen des weittragenden Rufs der Männchen, dem er seinen in vielen Sprachen gleichlautenden oder ähnlichen Namen verdankt. Die heimlichen, aber für die Populationsgröße ausschlaggebenden Weibchen geraten viel seltener ins Blickfeld. Kuckucksbruten werden von Normalbürgern und Feldornithologen meist nur durch Zufall entdeckt. Der Anblick eines bräsigen Fressacks, der das Nest seiner Adoptiveltern bis an den höchsten Bord ausfüllt, ist unvergesslich, ebenso die Fütterung, bei der die kleinen Wirtsvögel bis zur Hälfte im gefräßigen Schlund ihres Zöglings verschwinden. Die menschliche Reaktion auf diese bizarre Szenerie ist in der Regel eine Mischung aus Faszination, Mitleid mit den genarrten Wirtsvögeln und uneingestandener Bewunderung für die Durchsetzungskraft des rabiaten Wechselbalgs.

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Beide Fotos: NABU Deutschland

In Süd-Niedersachsen ist der Kuckuck, wie anderswo auch, deutlich seltener geworden. Der Bestand – soweit er nach den weit umherfliegenden Männchen erfasst werden kann – liegt heute bei ungefähr 100-120 Rufern und konzentriert sich im wesentlichen auf Feuchtgebiete und naturnahe Fließgewässerauen. Auch dort, wo (noch) strukturreiches Agrarland vorhanden ist, kommt er vor, allerdings in eher geringer Dichte.

Wer in Zeiten steigender Benzinpreise auf kurze Wege angewiesen ist oder gerne Rad fährt, wird den „Vogel des Jahres 2008“ mit hoher Wahrscheinlichkeit an der ehemaligen Bauschuttdeponie Geismar, der Kiesgrube Reinshof oder am Rückhaltebecken Grone antreffen. Ein Besuch von Seeburger See und Seeanger im Eichsfeld ist gleichsam eine Bank für Kuckucksbewunderer. Um sicher zu gehen, sollte man die Exkursion aber erst ab Anfang Mai vornehmen. Die Erstbeobachtung (früher vermessen „Erstankunft“ genannt) von Kuckucken, die aus ihrem afrikanischen Winterquartier zurückkehren, erfolgte in den vergangenen 10 Jahren im Durchschnitt am 23. April. Bereits Anfang bis Mitte Juli räumen die meisten Altvögel ihr Revier, flügge Jungvögel lassen sich noch regelmäßig im August und vereinzelt im September blicken. Die späteste Beobachtung stammt vom 26.9.1993 aus der Umgebung von Bettenrode (Dörrie 2000).

Gründe für den Bestandsrückgang

„… ruft’s aus dem Wald“. Das war einmal. In den geschlossenen Waldgebieten der Region fehlt der Kuckuck mittlerweile vollständig. Ein ähnlich düsteres Bild bietet die ausgeräumte Agrarlandschaft. Pieper- und Stelzenarten sind seit jeher beliebte Wirtsvögel. Parallel zum Kuckuck ist auch der Baumpieper aus den Wäldern verschwunden – unter anderem als Folge von Eutrophierungsprozessen und der „naturnahen“ Bewirtschaftung, die den Baumbestand in einem dunklen Stadium bewahrt und weitgehend auf Kahlschläge verzichtet. Der Wiesenpieper hat sich aus weiten Teilen der Agrarlandschaft verabschiedet. Dort sind kaum noch mäßig gepflegte Randstrukturen vorhanden, die ein Brüten ermöglichen. Der allgemeine Grünlandschwund und die intensivierte Bewirtschaftung der verbliebenen Parzellen mit bis zu fünf Schnitten im Jahr haben ein übriges getan. Ob der aktuell wieder ansteigende Schafstelzenbestand den einen oder anderen Kuckuck auf die Äcker lockt, bleibt abzuwarten.

Wirtsvögel und Lebensraum

Kuckucke, besonders die Weibchen, sind auf das Habitat geprägt, in dem sie geboren wurden, die Geburtsortstreue ist recht hoch. Zudem mehren sich die Anzeichen, dass die Weibchen zeitlebens auf eine einzige Wirtsvogelart geprägt sind (Davies 2000).
Als unfreiwillige Eltern eines jungen Kuckucks sind bei uns Hausrotschwanz, Bachstelze, Gartengrasmücke sowie, vor allen anderen, Sumpf- und Teichrohrsänger bekannt. Damit erklärt sich auch, warum die Art heute in Gebieten mit Röhrichtbeständen (Teichrohrsänger) und an Fließgewässern mit strukturreichen Galeriegehölzen bzw. Brennessel- und Rohrglanzgrasbeständen (Gartengrasmücke, Sumpfrohrsänger) ihren regionalen Verbreitungsschwerpunkt hat.

Die Bachstelze wurde interessanterweise 1999 auf dem ehemaligen Truppenübungsplatz Kerstlingeröder Feld als Wirtsvogel nachgewiesen, wo noch eine gute Population von Baumpiepern existiert. Seitdem liegt aus diesem optimal erscheinenden Habitat kein weiterer „Brut“nachweis vor – vielleicht ein Indiz dafür, dass die regionale Population von „Baumpieper-Kuckucksweibchen“ nach dem Bestandsrückgang der Wirtsvogelart und der zunehmenden Verinselung ihrer Verbreitung ab den 1980er Jahren erloschen ist. Allerdings gibt es auch gegenläufige Phänomene, die im folgenden behandelt werden.

Der Kuckuck – ein herausragendes Opfer des Klimawandels?

In der Tagespresse und in populärwissenschaftlichen Verlautbarungen kursieren, bislang weithin unwidersprochen, plakative Mutmaßungen, nach denen unser Jahresvogel in besonderem Maße unter der Klimaerwärmung leide, weil einige Wirtsvogelarten ihr Zug- und Brutverhalten geändert und die Eiablage vorverlegt hätten. Nach seiner Rückkehr fände der Kuckuck deshalb immer öfter Nester seiner Wirtsvögel mit bereits geschlüpften Jungvögeln vor und könne sich nicht mehr reproduzieren. So schlüssig dies klingt: Stichhaltige Belege in Form valider Ergebnisse von Langzeituntersuchungen gibt es dafür nicht, zumindest nicht in der seriösen Fachliteratur. Früherer Brutbeginn ist vor allem bei einigen Vogelarten des Siedlungsbereichs belegt. In diesem Habitat ist der Kuckuck aber noch nie als Revierbesetzer vorgekommen. Zudem profitieren von den klimatischen Vorzügen des Stadtlebens in erster Linie Amseln, höhlenbrütende Meisen und Finkenvögel, die auch abseits der Siedlungen nur selten vom Kuckuck parasitiert werden.

Es kommt aber noch abstruser: Weil die Bruten der Wirtsvögel sich in den Ebenen verfrühen, ist unser armer Jahresvogel gezwungen, in die Mittelgebirge (z.B. die Hochlagen des Harzes) auszuwandern! Mit der realen Ausbreitungs- und Ansiedlungsdynamik von Vögeln hat dieses Szenario genau so viel zu tun wie das Märchen von den Bremer Stadtmusikanten, die ihrer Heimat den Rücken kehren mussten, um „etwas besseres als den Tod“ zu finden. Durch das Albrecht von Haller-Institut der Universität Göttingen in einer Literaturstudie „wissenschaftlich“ abgesichert, wurde die Mär vom klimabedingten Exodus ab September 2004 vom Bundesamt für Naturschutz in die Welt posaunt. Gewiss: In den Hochlagen des Harzes hat der Kuckuck zweifellos im Bestand zugenommen (H. Zang, mdl. Mitteilung) – aber nicht wegen Abwanderung aus den Ebenen, sondern als Ergebnis des von verfrachteten Schwefeldioxid-Emissionen verursachten „Waldsterbens“. Wo bis in die 1980er Jahre dunkle, vom Kuckuck unbesiedelbare Fichtenwälder vorherrschten, erstrecken sich heute weite Offen- und Aufwuchsflächen, die an Kahlschläge erinnern und vielen Wirtsvögeln, insbesondere Baumpiepern, einen Lebensraum bieten. Es spricht für die ökologische Plastizität des Kuckucks, dass er dieses neu entstandene Habitat schnell besiedelt hat. In den Alpen ist er seit Jahrtausenden ein erfolgreicher Nutznießer der großen Bergpieper-Populationen. Mit den seit etwa 15 Jahren insgesamt wärmeren Sommern hat die Besiedlung montaner und alpiner Lebensräume durch den Kuckuck rein gar nichts zu tun. Für den anhaltenden Bestandsrückgang in West- und Mitteleuropa ist der durch „naturnahe“ Waldbewirtschaftung und industrielle Landwirtschaft (der mit Abstand größte Artenkiller!) bedingte anthropogene Schwund von Wirtsvögeln die Hauptursache – und nicht der Klimawandel!

Besonderheiten

In Süd-Niedersachsen ist die anderswo seltene braune Weibchen-Morphe recht häufig anzutreffen. Gebietsweise (z.B. um Göttingen) gehören bis zu 30 Prozent der Weibchen dieser Farbvariante an. Warum dies so ist, weiß man nicht.

Überhaupt ist aus dem Leben dieser vergleichsweise gut bearbeiteten Vogelart noch vieles unbekannt. Wer sich über Forschungsergebnisse und -lücken sachkundig machen möchte, sei auf das ausgezeichnete und gut lesbare Brutparasiten-Buch von Davies (2000) verwiesen.

H. H. Dörrie

Literatur

  • Davies, N.B. (2000): Cuckoos, cowbirds and other cheats. Poyser, London
  • Dörrie, H.H. (2000): Anmerkungen zur Vogelwelt des Leinetals in Süd-Niedersachsen und einiger angrenzender Gebiete 1980-1998. Kommentierte Artenliste. Erweiterte und überarbeitete Fassung. Göttingen