Neues von unerwünschten Fischfressern und pelzigen Neubürgern

Was im milden Winter 2006 begonnen hatte, setzte sich im Folgejahr 2007 fort: Kormorane richten sich außerhalb der Brutzeit vermehrt am Göttinger Kiessee ein und weißeln mit ihrem Kot die Bäume auf der kleinen Insel. In den Vorjahren traten sie in Göttingen zumeist erst nach dem Zufrieren der Stillgewässer und eher spärlich in Erscheinung, vor allem an der Leine zwischen Sandweg und Rosdorfer Weg sowie nahe der Stegemühle.
Im November 2007 stiegen die Zahlen wiederum auf bis zu 55 Individuen. Die Herausbildung einer Rast- und Überwinterungstradition an der Peripherie des städtischen Siedlungsbereichs könnte mit den steigenden Abschüssen an Werra und Rhume zusammenhängen, die allein im Jahr 2005 57 Kormoranen das Leben gekostet haben.

Jetzt suchen die keineswegs dummen Vögel fischreiche Gewässer in der Nachbarschaft des Menschen auf, die vom „Jagddruck“ verschont bleiben. Sie folgen damit dem Beispiel anderer verstädternder Tierarten wie Fuchs, Wildschwein, Rabenkrähe und Elster, die abseits der Siedlungen in Massen getötet werden. Wer will es ihnen verübeln?

Futterreich ist der Göttinger Kiessee allemal: Dies wurde im Herbst 2004 während einer Blaualgenblüte belegt, als allein 12 Tonnen verendeter Brassen (ca. 90.000 Tiere) aus dem nur 12 Hektar großen Parkgewässer geborgen wurden. Andere Fischarten waren von dem Massensterben nicht oder nur sehr marginal betroffen. Wie viele Tonnen anderer Arten mag der sterbenskranke Kiessee noch beherbergen…?

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Abb. 1: Göttinger Kiessee ohne…. Foto: N. Vagt

Die Geister, die ich rief…

Wie der Göttinger Kiessee wird fast jedes andere Gewässer von Sportanglern genutzt, selbst der winzige Teich im Levin-Park. Damit verbunden sind regelmäßige Auffüllungsaktionen, die dazu geführt haben, dass keine Biozönose in Zusammensetzung und Dynamik so naturfern ist wie die heimische Fischfauna. Kiesgruben und andere Sekundärgewässer wimmeln nur so von eingesetzten Aalen, Hechten, Zandern, Karpfen und Welsen. Das Management der Bestände ist sogar gesetzlich vorgeschrieben: eine willkommene Verpflichtung, der die Petrijünger mit Begeisterung nachkommen. Über das Ausmaß der Einsetzungen und die betroffenen Arten müssen die Angelvereine keine Rechenschaft ablegen – sie firmieren als gesetzlich anerkannte Naturschützer.

Der massenhafte Besatz fast aller Gewässer mit Fischarten, die sich dort unter unbeeinflussten Bedingungen kaum ansiedeln und reproduzieren würden, hat mit Sicherheit zur Ausbreitung des Kormorans ins tiefe Binnenland beigetragen. Der Tisch ist reich gedeckt, die Vögel bedienen sich. Wer will es ihnen verübeln?

Sinnlose Verfolgung ohne Ende

2003 wurde in Niedersachsen auf Drängen der Sportangler-Lobby eine Kormoranverordnung erlassen, die von Mitte August bis Ende März „zum Schutz der einheimischen Tierwelt“ den Abschuss der Vögel an allen fischereilich genutzten Gewässern erlaubt. Lediglich in einigen Schutzgebieten ist die Nachstellung untersagt. Im Herbst 2007 erfolgte die Verlängerung bis 2012. Die aus diesem Anlass verfertigte Pressemitteilung des Umweltministeriums vom 31.10. besteht faktisch nur aus einem einzigen, fast schon hintersinnigen Satz: „Die Fortführung der Kormoranverordnung schlägt eine Brücke zu den Belangen der Fischereiwirtschaft, ohne dass dies einen messbaren Einfluss auf den Gesamtbestand der Kormorane in Niedersachsen hat.” Für kommerzielle Fischzuchtbetriebe gab es jedoch schon vorher Genehmigungen zur „letalen Vergrämung“ der unerwünschten Kostgänger, einer zusätzlichen „Brücke“ hätte es also nicht bedurft. Die Verlängerung bedient, im Vorfeld der Landtagswahlen, ausschließlich die Interessen der Sportangler, die ihren Lebensunterhalt nicht mit dem Verkauf von Fischen bestreiten müssen. Es ist schon beeindruckend, wie ungeniert in der Pressemitteilung der komplette Misserfolg der ursprünglichen Intention, die Kormoranbestände zu „regulieren“, konstatiert wird, ohne daraus die einzig logische Konsequenz zu ziehen und die Verordnung nicht zu verlängern.

Viel Lärm um nichts könnte man sagen, wären da nicht die vereitelte Chance, das Comeback und die langfristige Populationsdynamik einer in Niedersachsen fast ausgerotteten Brutvogelart ohne den Einfluss systematischer menschlicher Verfolgung zu dokumentieren, die sinnlos getöteten Vögel und die trübe Aussicht, dass alles so weitergeht wie bisher. Mit dem Vorschlag, nachdenklich innezuhalten, braucht man den indolenten Nutznießern der Verordnung aber gar nicht erst zu kommen: Für sie ist jeder getötete Kormoran ein handgreifliches Erfolgserlebnis – basta!

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Abb. 2: …und mit Kormoranen. Foto: N. Vagt

Ein neuer Akteur tritt auf den Plan

Nun aber zeichnen sich interessante Entwicklungen ab, die, wenn sie anhaltend wirken, zur nachhaltigen Reduzierung der Kormoran-Brutbestände führen könnten. Während die Angler immer noch über das „Fehlen natürlicher Feinde des Kormorans“ schwadronieren, haben – heimlich, still und leise – unerwartete Verbündete in die flinken Pfoten gespuckt und für Ordnung gesorgt. Es handelt sich um Nachkommen nordamerikanischer Internierter, die nach ihrem Freikommen 1934 am hessischen Edersee einen beeindruckenden Siegeszug durch Deutschland zurückgelegt haben.

Drei Jahre rätselten die regionalen Vogelkundler über den miserablen Bruterfolg der Kormoran-Kolonien an den Northeimer Kiesteichen und im Leinepolder Salzderhelden – übrigens die einzigen weit und breit mit insgesamt nur noch ca. 35 Paaren. Dem Stochern im Nebel von Verdächtigungen und Spekulationen wurde im Frühling 2007 ein Ende bereitet: In einzelnen Nestern saßen Waschbären, die dort ihren Verdauungsschlaf hielten! Im Juli wurde bekannt, dass eine Kormoran-Kolonie am Gülper See in Brandenburg mit mehr als 200 Paaren ebenfalls den maskierten Räubern zum Opfer gefallen ist; auch ein Umsiedlungsversuch der genervten Vögel scheiterte.

Artenschutz durch Prädatorenbekämpfung?

Wenn man bedenkt, dass im Jagdjahr 2005 laut Landesjagdbericht allein in den Landkreisen Göttingen und Northeim 1414 Waschbären „erlegt“ worden sind, lässt sich ausmalen, wie verbreitet und häufig die Art heutzutage ist. Ihre massive Verfolgung ist jedoch von horrender Sinnlosigkeit: Die zumeist in Fallen gefangenen nachtaktiven Tiere werden keiner vernünftigen Verwertung, z.B. in Form von Pelzmänteln, zugeführt, geschweige denn von den Trappern verspeist. Für jedes getötete Waschbärenweibchen werden gleich zwei junge Nachfolgerinnen schwanger. Die Verstädterung mit unangenehmen Folgen für viele Garten- und Hausbesitzer wird gefördert. Und ausrotten kann man die von vielen als sympathisch wahrgenommenen Neusiedler ohnehin nicht mehr. Mittlerweile gelten sie auch per Gesetz als fest eingebürgert. Das alles ficht die meisten Jäger nicht an: Als Schützer und Heger der heimischen Tierwelt (ausgesetzte Fasane, Mufflons und Damhirsche eingeschlossen) haben sie ein neues Betätigungsfeld entdeckt, auf dem sie ihre Neigungen ungehemmt ausleben können. Eine Schonzeit gibt es für die jungen Waschbären nicht.

Ein weiterer Feind des Kormorans, der Seeadler, ist in Deutschland, insbesondere westlich der Elbe, nicht annähernd so häufig wie der Waschbär. Sein Einfluss auf die Kormoran-Brutbestände dürfte deshalb, trotz allgemeiner Populationszunahme, bis auf weiteres eher gering ausfallen, ist aber z.B. am Steinhuder Meer bereits heute wirkmächtig genug, um die dort brütenden Kormorane in Schach zu halten.

Ein „natürlicher Bestandsregulator“ des Kormorans im strengen Sinne ist der ursprünglich faunenfremde Waschbär sicherlich nicht. Kein seriöser Vogelkundler und -schützer käme jedoch auf die abstruse und, siehe oben, gänzlich unrealistische Idee, den invasiven Räuber „zum Schutz des Kormorans“, eines seit Urzeiten angestammten mitteleuropäischen Brutvogels, zu dezimieren. Bekanntlich wurde der Nahrungskonkurrent von der Sportangler-Lobby nach seiner Bestandserholung zunächst als eingeschleppter „chinesischer Fischerkormoran“ denunziert. Werden die Angler und ihre Interessenvertreter in Parlament und Regierung nun, in ähnlich verquerer Weltsicht, auf eine Waschbärenverordnung hinarbeiten, welche die Verfolgung des neuen Verbündeten zumindest im Umfeld von Kormoran-Kolonien verbietet? Man darf gespannt sein….

Fazit

Was lehrt uns dies alles? Vor allem Gelassenheit in Verbindung mit dem Verständnis ökologischer Prozesse, auch wenn deren Ergebnisse einem nicht in den Kram passen. Leider steht zu erwarten, dass in den kommenden Wochen wieder hysterische Leserbriefe zur „Kormoran-Invasion am Göttinger Kiessee“ abgedruckt werden, deren Aufgeregtheit sich im umgekehrten Größenverhältnis zur ökologischen Sachkenntnis der Schreiber bewegt. Auch damit wird man wohl leben müssen. Es gibt halt, um mit Nestroy zu sprechen, „allerhand Leut’ auf der Welt“…

H. H. Dörrie

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Abb. 3: Am Göttinger Kiessee. Foto: N. Vagt