Das Birdrace 2010 im Göttinger Land

Weil der Internationale Kampftag der Arbeiterklasse dieses Jahr auf den ersten Samstag des Wonnemonats fiel, fand das Birdrace eine Woche später am 8. Mai statt – dem Jahrestag der Befreiung vom Faschismus 1945, der jedoch von den allermeisten VogelbeobachterInnen nur noch als interessantes Datum für gefiederte Seltenheiten wahrgenommen wird.
Bei passablen Witterungsbedingungen (windstill, weitgehend trocken und bis zu 15°C warm) traten in der Region gleich vier Teams gegen- und miteinander an. Wer mag, kann ihre nach Arten und Uhrzeit der Entdeckung gegliederte Gesamtausbeute auf der Homepage des Dachverbands Deutscher Avifaunisten (DDA) umfassend in Augenschein nehmen.

Das in zahlreichen Niederlagen gestählte Traditionsteam der „Göttinger Sozialbrachvögel“ (seit 2005 dabei) hatte sich nach dem Wegzug von Frontfrau N. Vagt in die Landesgeschäftsstelle des NABU Schleswig-Holstein in Neumünster durch J. Pfützenreuter ergänzt. Entspanntes Abhängen in einem Café an der Holtenser Landstraße und auf dem Plateau der ehemaligen Bauschuttdeponie Gö.-Geismar führte letztlich zum verspäteten Eintreffen in den artenreichen Gebieten Seeanger und Seeburger See. Da waren Trauerseeschwalbe, Zwergmöwe und Silberreiher aber schon wieder weg und konnten auch nicht mehr durch die exklusiven Arten Fischadler und Zwergstrandläufer kompensiert werden. Mit 115 Arten erreichten die sympathisch verschlampten „Sozialbrachvögel“ dennoch ein persönliches Bestergebnis und konnten sich als achtbare Dritte mit Bronze schmücken. Mit Rebhuhn, Kornweihe, zwei Kiebitzregenpfeifern am Siekgraben, dem aktuellen Topgebiet bei Rosdorf, Zwergstrandläufer und Schwarzkehlchen konnten sie gleich fünf Neuzugänge auf ihrem langjährigen Birdrace-Konto verbuchen.

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Abb. 1: Die „Göttinger Sozialbrachvögel“ vor der malerischen Kulisse des Seeburger Sees (C. Grüneberg, H. Dörrie, J. Pfützenreuter, M. Siebner)

Planmäßiger und konzentrierter – und nach einer eineinhalbstündigen Mittagspause mit reichlich Spaghetti Bolognese wieder hinreichend gestärkt – gingen die ehrgeizigen „Leine-Hänflinge“ ans Werk. Der treuherzige Name weckt Reminiszenzen an die Kastelruther Spatzen oder die Gonsbachlerchen mit der legendären Margit Sponheimer („gelle, isch disch aach“…) aus der Mainzer Fastnacht und wurde von den „Sozialbrachvögeln“ im Vorfeld mit entsprechender Häme überschüttet. Gleichwohl erwies er sich im nachhinein als geschickte Camouflage einer beträchtlichen Kampfkraft.
Durch das vielversprechende Nachwuchstalent S. Böhner verstärkt, starteten die VeteranInnen früherer Verbände („Resteküche“ und „Ave Göttingen!“) frühmorgens im Reinhäuser Wald. Dort gelangten die Zielarten Waldschnepfe, Waldkauz und Sperlingskauz wie geplant auf die Liste. Waldschnepfe und Spauz sind sogar neue Birdrace-Arten für die Region. Göttinger Hainberg und Kerstlingeröder Feld wurden, auch dies sehr sinnvoll und durchdacht, zeitsparend mit dem Fahrrad bewältigt. Bei einem finalen Abendeinsatz am Seeanger konnte noch ein exklusiv für das Team singender Schlagschwirl ausgemacht werden. Mit einer Wachtel in der Feldmark Wollbrandshausen und einem Schwarzstorch in der Rhumeaue südlich von Bilshausen – die entgegen missgünstigen Verlautbarungen der Konkurrenz sehr wohl im Landkreis Göttingen liegt! – wurde die regionale Birdrace-Gesamtliste um weitere zwei Arten verlängert. Wie in anderen Regionen auch, bereitete die Weidenmeise 2010 beim Auffinden besondere Probleme und wurde nur von diesem Team registriert. Mit 120 Arten belegten die „Leine-Hänflinge“ den verdienten ersten Platz und den 41. in der bundesdeutschen Gesamtwertung. Das Spendenaufkommen von 210,20 €, zu dem immerhin 17 SponsorInnen beigetragen hatten, sicherte ihnen Rang 23 in der Spendenwertung, während die drei anderen Teams in pekuniärer Hinsicht völlig versagten.

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Abb. 2: Die „Leine-Hänflinge“ (M. Schuck, S. Böhner, L. Hülsmann, M. Drüner und S. Paul)

Noch bemerkenswerter als der erste Platz ist das bundesweit einzigartige Phänomen eines eigenen Clubs weiblicher Fans, auf den die Womanizer der „Leine-Hänflinge“ besonders stolz sein können – die rotbemützten „Seulinger Kampfwachteln“ aus dem schwarzen Eichsfeld. Bei ihrem Anblick wurde ein „Sozialbrachvogel“, und zwar der Schreiber dieser Zeilen mit einem absonderlichen Interesse für die Abgründe und Untiefen menschlichen Seins, nachgerade gelb vor Neid…

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Abb. 3: Atemberaubend: Die „Seulinger Kampfwachteln“, propere Cheerleaders der „Leine-Hänflinge“, auf dem Steg des Seeburger Sees. Foto: S. Böhner

Die beiden anderen Teams setzten sich im wesentlichen aus Mitgliedern und Senioren (verbandsintern „Alte Socken“ genannt) des Deutschen Jugendbunds für Naturbeobachtung (DJN) zusammen, dessen Bundeszentrale sich in Göttingen befindet.

Das Team „DJNten und TiHopfe“ (der zweite Teil des Namens ist reichlich kryptisch) bestand zu einem Gutteil aus auswärtigen Novizen. Sie wurden, unter großzügiger Auslegung der DJN-Statuten in bündischer Tradition („Jugend führt Jugend“), von V. Hesse betreut und befeuert, einem Göttinger Birdrace-Urgestein aus Teams wie den „Schnellen Brütern“ und den „Feuchtkehlchen“, die sich gegen die „Sozialbrachvögel“ zu Tode gesiegt hatten. Der Plan, als reine Fahrradmannschaft anzutreten, musste allerdings frühzeitig aufgegeben werden, nachdem ein Rad von Unbekannten am Stadtfriedhof in Brand gesetzt worden war. Normalerweise geschieht so etwas im noblen Göttinger Ostviertel mit Luxuskarossen und protzigen Geländewagen; insofern dokumentierte die verkohlte Fahrrad-Satteltasche einen für unsere Stadt beispiellosen Akt des Vandalismus, der aufs schärfste zu verurteilen ist. Die böse Tat wurde schnell und mehr oder minder gelassen verdaut. Gleichwohl war jetzt die Inanspruchnahme eines Autos unabwendbar geworden, wollte man nicht aufstecken. Umso erstaunlicher ist, dass „DJNten und TiHopfe“ zum Schluss 118 Arten für sich reklamieren und den zweiten Platz belegen konnten. Zwergtaucher, Wespenbussard, Dunkler Wasserläufer und Schilfrohrsänger wurden nur von diesem Team gesehen oder gehört, darüber hinaus alle in der Region vorkommenden sieben Spechtarten, Klein- und Mittelspecht eingeschlossen. Auch der Waldlaubsänger, eine Vogelart mit dramatischem Bestandsrückgang, konnte exklusiv in die Liste aufgenommen werden. Wollte sich die Göttinger Vogelwelt bei den jungen Gästen und ihrem hochmotivierten Fremdenführer für das ruchlose Gebaren eines ortsansässigen Hominiden entschuldigen und hat deshalb beim Zählergebnis etwas nachgeholfen? Man weiß es nicht…

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Abb. 4: Das Team „DJNten und TiHopfe“ (B. Wiggering, M. Münnich, C. Stolz, V. Hesse, N. Röder) mit abgefackeltem Fahrrad

Die ebenfalls aus DJNlern bestehende Formation der „Kosmos-Racer“ (P. Meinecke, F. Weiß, V. Rösch, ein Foto liegt leider nicht vor) konnte sich, von Rabauken unbehelligt, auf Fahrrädern bis zum Seeburger See bewegen und kam schließlich auf das bemerkenswerte Ergebnis von 94 Arten, das in seiner Wertigkeit dem der anderen Teams in nichts nachsteht.

Obwohl das Birdrace 2010 an einem raritätenträchtigen Datum stattfand, waren regionale Seltenheiten und jahreszeitlich ungewöhnliche Beobachtungen (wieder einmal) Mangelware. Allenfalls hervorzuheben sind Kiebitzregenpfeifer, Mittelmeermöwe (womöglich dieselbe „Michaela“ in ihrem dritten Frühling, die bereits im Vorjahr einen überschaubaren Kreis von Verehrern über Wochen am Seeburger See zu entzücken vermochte), ein leicht verspäteter Fischadler sowie zwei verbummelte Blässgänse, von denen die eine gehbehindert ist und die andere sich in den süßen Wahn verstiegen hat, mit einer Graugans verpaart zu sein…
Sehr erfreulich war nach dem ungewöhnlich harten Winter ein Eisvogel im Göttinger Süden, der von den „Sozialbrachvögeln“ und den „Leine-Hänflingen“ gebührend gefeiert wurde.

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Abb. 5: Eisvogel-Männchen am Göttinger Flüthewehr, 8.5.2010. Auch er sagt „Nein zur Südspange!“, die seine Ansitzwarte unter sich zu begraben droht. Foto: M. Siebner.

Auf der Sollseite fiel das weitgehende Fehlen von Enten auf, obwohl der hohe Wasserstand im Seeanger für einige Arten derzeit optimal ist. Lediglich Stock-, Krick- und Reiherente gerieten ins Blickfeld. Recht überraschend war auch das Fehlen des Erlenzeisigs bei allen Teams, hatten sich doch bis vor kurzem noch Tausende dieser quirligen Finken in den Nadel- und Mischwäldern der Region durchgefressen. Egal: Bei den „Sozialbrachvögeln“ und den „Leine-Hänflingen“ war die Stimmung ausgesprochen gut und es steht zu hoffen, dass auch die beiden DJN-Teams ähnlich zufrieden in die Betten sinken konnten – nach 20- bzw. 18-stündigem Beobachten.

Wer weiß, welche Konstellationen sich im nächsten Jahr ergeben, wenn es wieder heißt: Schlagt die „Sozialbrachvögel“!

H. H. Dörrie