Die Dohle – Vogel des Jahres 2012 – in Süd-Niedersachsen: Fakten und Fragen zu einem sympathischen Heimlichtuer und Krakeeler

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Mit unserem kleinsten Rabenvogel hat der NABU erneut eine gute Wahl getroffen, die auch aus regionaler Sicht zu begrüßen ist. Zum einen repräsentiert die Dohle eine Vogelfamilie, die bei der Normalbevölkerung wegen ihrer vermeintlichen „Schädlichkeit“ einen schlechten Ruf genießt. Von den Massakern, die unter ihren Verwandten Rabenkrähe und Elster von schießwütigen Troglodyten alljährlich ganz legal verübt werden, ist sie bislang gesetzlich ausgenommen. Damit das so bleibt, sollte die Wahl zum Anlass genommen werden, die Sympathiewerbung für diesen hochintelligenten Vogel mit einem komplexen und faszinierenden Sozialverhalten zu verstärken. Zum anderen wirft die Entwicklung des regionalen Brutbestands Fragen auf, die bislang nur im Ansatz beantwortet werden können.

Dohlen treten in unserer Region als Gebäude- und waldbewohnende Baumhöhlenbrüter auf. Ihr Brutbestand liegt im Landkreis Göttingen – aus dem Landkreis Northeim liegen keine aktuellen Angaben vor – vermutlich unter 100 Paaren. Im Folgenden werden zunächst die Gebäude- und dann die Baumhöhlenbrüter einer genaueren Betrachtung unterzogen.

Gebäudebrüter

In Göttingen war die Dohle (Coloeus monedula) wahrscheinlich über Jahrhunderte ein nicht seltener Brutvogel an den Türmen von St. Johannis und St. Jacobi. Dies legen die Angaben bei Blumenbach (1779), Merrem (1789) und Spangenberg (1822) nahe. 1897 war sie noch häufig (Eichler 1949-1950). Im 20. Jahrhundert ging es langsam, aber stetig bergab. 1920 brüteten 20 Paare an St. Jacobi, was damals schon als ungewöhnlich hohe Anzahl galt (Quantz 1922). Die Eiersammlung Domeier enthält Gelege von St. Johannis aus den Jahren bis 1936 (Zang, Heckenroth & Südbeck 2009). Für das Jahrzehnt 1940-1950 gibt es offenbar keine Beobachtungsdaten. In den 1950er Jahren brüteten ca. vier bis sechs Paare (Köpke o.J.). Ab den 1960er Jahren traten Dohlen nur noch unregelmäßig und vereinzelt als Brutvögel in Erscheinung, z.B. mit einem Paar am damaligen Post-Fernmeldeamt unterhalb des Hagenbergs 1964-66 (Hampel 1965, Heitkamp 1981). Ob ca. sechs bis acht verpaarte Vögel, die Anfang der 1970er Jahre mit Nistmaterial die Jacobi-Kirche inspizierten (A. Festetics, mdl.), dort auch gebrütet haben, kann nicht mehr rekonstruiert werden. Der vorerst letzte Hinweis auf eine erfolgreiche (Einzel-)Brut liegt aus dem Jahr 1987 aus Nikolausberg vor (Dörrie 2000).

In den mehr als 20 Jahren, die seitdem vergangen sind, haben sich in unserer Stadt in großen Zeitabständen, ungefähr alle drei bis vier Jahre, verpaarte Dohlen blicken lassen, die sich für ihre ehemaligen Brutplätze an den beiden Hauptkirchen zu interessieren schienen bzw. sich (manchmal auch mit Nistmaterial) an einem der zahlreichen Turmfalken-Nistkästen, z.B. an der St. Paulus-Kirche oder an der Bonifatius-Schule, zu schaffen machten. Das inständige Hoffen auf eine Brutansiedlung nach Jahrzehnten der Abwesenheit währte jedoch leider niemals lange…

Die größte Kolonie gebäudebrütender Vögel in Süd-Niedersachsen ist seit spätestens 1985 von der Burg Adelebsen bekannt (Dörrie 2000). 2004 wurden 30 bis 35 Paare geschätzt (Dörrie 2005). Der aktuelle Bestand liegt bei ca. 12 Paaren und ist stabil (A. Festetics, mdl.). Ob eine Abnahme gegenüber 2004 vorliegt, ist sehr fraglich, weil die Brutpaarzahl einer Dohlenkolonie wegen des manchmal hohen Nichtbrüteranteils nicht mit einer Schätzung allein ermittelt werden kann. Zum Ende der Brutzeit halten sich in Adelebsen alljährlich um die 80 Vögel (Brutpaare, Nichtbrüter und flügge Jungvögel) auf. Möglicherweise war die Kolonie bereits lange vor 1985 besetzt (oder zwischenzeitlich verwaist?), denn aus dem Juni 1947 liegt eine Brutzeitbeobachtung von ca. 40 Individuen vor (Gött. Orn. Mitt. 7/1947).

Auch an der Ruine Bramburg bei Glashütte im Wesertal existiert(e) seit ~ 1953 eine Felsbrüter-Kolonie. 1955 bestand sie aus ca. 15 Paaren (Schelper 1966). 1969 wurde ein Bestand von 20 Paaren angenommen (Fokken o.J.). 2003 lag er bei weniger als zehn Paaren (Dörrie 2004) und 2005 wurden nur noch zwei Paare gezählt (Dörrie 2006). Ob das Vorkommen aktuell noch besteht ist ungewiss.

Aus Duderstadt verschwand die Dohle 1921 nach der Renovierung der Kirchtürme (Bruns 1949). In den Jahren 2004 und 2005 sowie 2007 hielten sich an den beiden Kirchen ein bis zwei brutwillige Paare an Nistkästen auf, zumindest 2007 bestand starker Brutverdacht an der Unterkirche (Dörrie 2005, 2006, 2008).

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Abb. 1: Gruß aus Seeburg: Dohle am Kirchturm. Dieses und das vorangegangene Foto: M. Siebner.

2007 wurde an der Rüdershäuser Kirche ein Paar mit Nistmaterial wahrgenommen. In den Jahren danach erfolgte eine bis dato dauerhafte Ansiedlung von aktuell drei bis vier Paaren. Darüber hinaus mehren sich seit zwei Jahren Nachrichten über Ansiedlungen von jeweils ein bis zwei Paaren an den Kirchtürmen von Seeburg, Seulingen und Obernfeld. In Germershausen ist eine kleine Kolonie entstanden. Ob die Vögel an der dortigen Kirche oder in den alten Bäumen des Klosterparks brüten, ist noch unklar. Auch der genaue Brutplatz von Dohlen, die sich möglicherweise in Gieboldehausen angesiedelt haben, harrt noch der Entdeckung (Dörrie & Paul 2010a, 2010b, 2011). Die unauffällig verlaufende Besiedlung einiger Eichsfeldgemeinden durch einen neuen Brutvogel ist sicher eines der interessantesten vogelkundlichen Phänomene der letzten Jahre.

Baumhöhlenbrüter

So (vergleichsweise) einfach eine Bestandsangabe für die Gebäudebrüter ist, so schwierig gestaltet sie sich für die Baumhöhlenbrüter. An Gebäudebrutplätzen geben sich Dohlen recht auffällig, zelebrieren rasante Flugspiele und kommunizieren lauthals miteinander. Im Wald verhalten sie sich völlig anders, nämlich äußerst heimlich. Dies macht sie in diesem Lebensraum zu einer der am schwersten erfassbaren Vogelarten überhaupt. Nur mit großem Glück kann man eines Vogels gewahr werden, der stumm von seiner Höhle durchs dichte Geäst abstreicht. Hauptgrund für die ungewöhnliche Diskretion könnte die Angst vor gefiederten Prädatoren wie dem Habicht sein. Auch den Todfeind Baummarder oder den Neuräuber Waschbär akustisch auf sich aufmerksam zu machen, könnte fatale Folgen haben. Die regionalen Angaben zu Baumhöhlenbrütern sind deshalb ausgesprochen lückenhaft, beruhen zumeist auf Zufallsbeobachtungen oder sind Nebenprodukte der Erfassung anderer Vogelarten (z.B. Rotmilan und Mittelspecht). Zudem scheinen viele Vorkommen nur von kurzer Dauer zu sein. All dies macht eine Aussage zum Gesamtbrutbestand der Baumhöhlen- und Gebäudebrüter nicht einfach. Die in der Einleitung genannten „weniger als 100 Paare“ sind eher als provisorische Schätzung zu verstehen.

Brutverdächtige „Walddohlen“ wurden in den letzten Jahren im Mündener Stadtwald, im Brackenberger Holz, nahe der Grefenburg bei Barterode, im Plessforst bei Eddigehausen und im Osten des Göttinger Stadtwalds wahrgenommen. 2011 gelangen aktuelle Beobachtungen stark brutverdächtiger Dohlen an den Weißwasserköpfen bei Ebergötzen, am Bettenroder Berg, am Klafterberg bei Beienrode sowie im Nesselrödener Wald (Avifaun. Jahresberichte 1999-2007, Dörrie & Paul 2011, G. Brunken).

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Abb.2: Buchen-Altholzinsel im Kaufunger Wald: Brutplatz von Schwarzspecht, Rauhfußkauz, Hohltaube und Dohle. Foto: S. Böhner.

Am besten sind wir über die Brutpopulation in den Buchenaltholzbeständen der Hochlagen des Kaufunger Walds (niedersächsischer Teil, 30 km²) informiert. Im Rahmen eines Höhlenbrüter-Monitoringprogramms beringen die Gebrüder Hochrath (Uschlag) seit 1980 auch junge Dohlen. Jahrzehntelang war der Bestand mit bis zu zehn Paaren weithin stabil (vgl. die Graphik bei Zang, Heckenroth & Südbeck 2009). Wie anderswo auch zogen die Eltern ihre Jungen als „Nachmieter“ von Schwarzspechthöhlen auf. Neuerdings ist der Brutbestand jedoch stark rückläufig: Im letzten Jahr konnte nur eine Brut beringt werden, 2011 keine. Die Gründe sind mit Sicherheit nicht im Mangel an Nistmöglichkeiten zu suchen, denn Schwarzspechthöhlen sind immer noch reichlich vorhanden. Auch ein (möglicherweise) verstärkter Druck von Beutegreifern scheint nicht für das Verschwinden verantwortlich zu sein. Der lokale Brutbestand der Hohltaube, die ebenfalls in Schwarzspechthöhlen und nicht selten in enger Nachbarschaft zu Dohlen brütet, ist nämlich stabil (F. Hochrath, mdl.). Von einem gestiegenen Prädationsdruck wären die Tauben bestimmt gleichermaßen betroffen. Im EU-Vogelschutzgebiet V 19 „Unteres Eichsfeld“ hat der Hohltauben-Brutbestand sogar signifikant zugenommen und liegt mittlerweile deutlich im dreistelligen Bereich, was ebenfalls gegen eine höhere Prädationsrate spricht (Dörrie & Paul 2011). Woran aber könnte es sonst liegen, dass Walddohlen ihre Brutplätze aufgeben? Ist der Rückgang im Kaufunger Wald nur ein lokales Phänomen, während anderswo, wie z.B. im „V 19“, der Bestand – parallel zu dem der Hohltaube – zunimmt? Welche Rolle spielen dabei die von den Forstämtern viel gepriesenen „Altholzinseln“ und „Habitatbäume“ mit Schwarzspechthöhlen?

Ökologische Faktoren, die für eine Brutansiedlung bzw. deren Aufgabe von Bedeutung sind

Obwohl es romantisch veranlagten Naturfreunden anders erscheinen mag: Weder das feudale Ambiente der Burg Adelebsen noch die weihevolle Aura der Sakralbauten im Mezzogiorno Niedersachsens allein haben für die Nistplatzwahl unseres Porträtvogels den Ausschlag gegeben. Ihre Bedeutung konnten sie nur erlangen, wenn etwas Zweites hinzukommt. Ein Blick auf die Landkarte zeigt, dass die Gebäudebrüter sich mit Vorliebe in der Nachbarschaft von Grünland und/oder Flussauen niedergelassen haben (Weser- und Schwülmeaue im Westen, Rhume- und Suhleaue sowie der Seeanger im Osten). Das Vorhandensein von extensiv genutztem Grünland mit niedriger Vegetationshöhe und Offenstellen, wo Würmer, Insekten und größere Arthropoden zur Jungenaufzucht erbeutet werden können, ist für den ursprünglichen Steppen- und heutigen Agrarvogel ein unverzichtbares Habitatrequisit.

Der Flächenanteil von Dauergrünland im Landkreis Göttingen liegt derzeit nur noch bei knapp fünf Prozent, mit weiter abnehmender Tendenz. Viehweiden mit mehr oder minder glücklichen Kühen sind ein seltener Anblick geworden. Hinzu kommt, dass Brachen kaum noch vorhanden sind, weil sie mittlerweile für den Anbau nachwachsender Rohstoffe unter den Pflug genommen wurden.

Der Niedergang der Dohle in Göttingen fiel zeitlich mit der schrittweisen Entwässerung der Leineaue und der „Regulierung“ des Flusses zusammen, die 1876 begonnen wurde und Mitte der 1930er Jahre weitgehend abgeschlossen war (Saathoff 1940). Umwandlung von Grünland in Ackerland, Aufgabe der Weidewirtschaft und Ausdehnung des Siedlungsbereichs traten als negative Faktoren hinzu. Selbst wenn die Kirchen noch geeignete Brutplätze bereithielten – die Flüge zum Erreichen der Nahrungshabitate wurden für die Vögel immer länger. Das Überschreiten einer Distanz von zwei bis drei Kilometern zwischen Brut- und Nahrungsplatz macht jede Brut zum kräftezehrenden Wagnis. Energetischer Aufwand und (schlechter) Bruterfolg stehen schnell in keinem Verhältnis mehr (Glutz v. Blotzheim 1993).

Heute dominieren in der Leineaue große und intensiv bewirtschaftete Getreide-, Raps- und, dank der „Energiewende“, zunehmend auch Maisschläge. Grünland existiert nur noch in Gestalt des Wassergewinnungsgeländes Stegemühle und auf ein paar winzigen Parzellen in der Feldmark Geismar. Eine Wiederansiedlung von Dohlen in der Stadt ist vor diesem tristen Hintergrund – leider – unwahrscheinlicher denn je.

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Abb. 3: Dieser Vogel zeigt alles, was eine Dohle ausmacht: Aufmerksamkeit, Schläue und ein wacher Blick aus hellen Augen mit einem sympathischen Stich ins Dreiste. Foto: M. Siebner

Für die Baumhöhlenbrüter bietet sich ein ähnliches Szenario. Die Brutvögel im Kaufunger Wald nutz(t)en mit Vorliebe zwei Nahrungshabitate: die Offenflächen an der ehemaligen Deponie Rinderstall und das Grünland am Ortsrand von Hedemünden. Eine ökologische Bestandsaufnahme am Rinderstall könnte ergeben, dass, wie anderswo auch im Wald, der allgemeine Nährstoffeintrag – sei es wegen Kalkungen durch die Forstwirtschaft oder durch das Abregnen verfrachteter Stickstoffverbindungen aus dem Automobilverkehr bzw. der industriellen Landwirtschaft – zu einer allgemeinen Verdichtung der bodennahen Vegetation geführt und das Erbeuten von Arthropoden entscheidend erschwert hat (vgl. Paul 2010). Für den Ortsrand von Hedemünden ist die Diagnose klar: Hier fallen die Nahrungsflächen in rasantem Tempo der Ausweitung von Gewerbegebieten zum Opfer. Das Beispiel der Dohlen im Kaufunger Wald zeigt, dass die schönsten „Altholzinseln“ wenig nutzen, wenn die Nahrungshabitate außerhalb des Waldes, auf die dieser Agrarvogel nun mal angewiesen ist, zerstört oder durch Eutrophierung und Sukzession entwertet werden.

Fazit

So erfreulich die Neuansiedlungen in einigen Eichsfelddörfern sind: Sie könnten keine reale Bestandszunahme indizieren, sondern (hypothetisch) auf der Umsiedlung erfolgloser „Walddohlen“ beruhen. Konkrete Anhaltspunkte dafür gibt es aber nicht. Viele Dohlen aus dem Kaufunger Wald sind beringt, doch liegt bis heute nur ein Wiederfund abseits der Brutplätze aus Kassel vor (F. Hochrath, mdl.). Oder kommen die Neubürger aus dem Thüringer Eichsfeld, wo die Populationsentwicklung ähnlich uneinheitlich verläuft wie bei uns (Dörrie & Paul 2010b)? So lange keine aussagekräftigen Daten zur Herkunft der Vögel vorliegen, bringen Spekulationen wenig bis nichts.

Wie auch immer: Ob die Eichsfelddohlen eine Zukunft haben und eine stabile Population aufbauen können, bleibt abzuwarten. Haupthindernis für eine weitere Ausbreitung ist weniger eine vermeintliche „Wohnungsnot“, sondern Grünlandschwund und, noch einmal, die galoppierende Intensivierung und Industrialisierung der Landwirtschaft. In der Feldmark Gieboldehausen und um den Seeburger See werden demnächst in großem Stil Flurbereinigungen durchgeführt, mit desaströsen Folgen für die meisten Agrarbrutvögel.
Gleichwohl müssen dort, wo Dohlen brüten, Vorkehrungen getroffen werden, die einen dauerhaft freien Zugang zu Kirchtürmen oder Lücken im Mauerwerk gewährleisten. Dies erspart zudem – dem NABU wird es nicht schmecken – das Anbringen weiterer künstlicher Nisthilfen, von denen es zumindest in Göttingen (und auch an etlichen Eichsfeldkirchen) bereits genug gibt.

In diesem Zusammenhang ist ein aufwendiges Wiederansiedlungsprojekt an der Burg Plesse bei Eddigehausen erwähnenswert, das Anfang der 1930er Jahre mit ausgesetzten Vögeln und zahlreichen Nisthilfen in Gestalt zweistöckiger Kästen, die in die Luken und Scharten eingebaut wurden, in Angriff genommen wurde (Waldschmidt 1992). Zwar kam es in den Folgejahren zu mindestens zwei Bruten, doch war das Vorkommen bald wieder erloschen. Erstaunlich ist allemal, dass in einer Zeit, als alle Rabenvögel – und nicht nur diese! – noch stärker dämonisiert und verfolgt wurden als heute, ein derartiges Projekt stattfinden konnte. Vielleicht waren die Initiatoren, die von der Vogelwarte Helgoland unterstützt wurden, gar keine ambitionierten Artenschützer im heutigen Sinne, sondern einfach nur der Meinung, dass zu einer alten Burg auch Dohlen gehören…

Dohlen beobachten: wann und wo?

Am ergiebigsten für die Dohlenbeobachtung ist mit Abstand die Burg Adelebsen. Hier kann man ab dem Frühjahr das vielfältige Treiben einer vergleichsweise kopfstarken Kolonie studieren. Flugspiele und Balzaktivitäten der lebenslangen oder im vorangegangenen Herbst frisch verlobten Brutpaare, Festigung der Rangordnung, wilder Streit um die besten Brutplätze – all dies wird mit den unterschiedlichsten Lautäußerungen spektakulär in Szene gesetzt. Weit weniger pittoresk ist die Deponie für organische Abfälle westlich von Dransfeld, wo sich Dohlen (aus Adelebsen?) in erklecklicher Zahl besonders ab dem Frühsommer einfinden. Man kann sie aber auch regelmäßig im Seeanger sowie an den oben erwähnten Eichsfeldkirchen sehen. Dort sind es aber nicht so viele…

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Abb. 4: Grüne Oase im landwirtschaftlichen Industriegebiet: der Seeanger. Foto: J. Herting.

In Göttingen ist die beste Zeit der Spätherbst und Winter, wenn sich Zuzügler aus dem Norden und Osten unter die ca. 2000 Rabenkrähen und wenigen Saatkrähen mischen und gemeinsame Schlafplätze in der Nordstadt (z.B. in der Nähe des Klinikums) oder in den Bäumen an der Berliner Straße gegenüber dem Bahnhof beziehen. Tagsüber gehen sie mit ihren Verwandten auf abgeernteten Feldern oder an den Deponien Königsbühl oder Deiderode auf Nahrungssuche. Zumindest die letztgenannte Deponie ist jedoch für die Vögel wegen Abdichtungen und der Vorbehandlung des Hausmülls kaum noch nutzbar. Der Winterbestand in Göttingen lag in den vergangenen Jahren bei ca. 300 Individuen.

Abschließend ein kleiner Tipp für die Zocker unter uns: Man kann sich mit Gleichgesinnten in der Umgebung der Schlafplätze oder auch am Kiessee postieren, wo sich Rabenvögel zur Nachtruhe versammeln. Die Luft ist dann voller Dohlenrufe, in der Regel ein helles „Kjäck, kjäck“, das man sofort unter den anderen Corvidenrufen heraushört. Wer nun wettet, es seien 50 oder mehr Dohlen präsent, wird schnell eines Besseren belehrt bzw. verliert seinen Einsatz, denn bei einer Beunruhigung oder beim Abflug können nicht selten nur ganze zehn (oder noch weniger) Dohlen als Urheber des Heidenlärms ausgemacht werden. Wie man sieht, ist die Neigung, geringe Körpergröße durch geräuschvolles Posieren auszugleichen mitnichten ein Alleinstellungsmerkmal von Peter Maffay…

Hans-Heinrich Dörrie

Literatur

Blumenbach, J.F. (1779): Handbuch der Naturgeschichte. Göttingen

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Dörrie, H.-H. & S. Paul (2010a): Heimzug und Brutzeit 2010 – Wer besteht den Härtetest?

Dörrie, H.-H. & S. Paul (2010b): Brutzeit II und Wegzug 2010 – vogelkundliche Neuigkeiten aus Niedersachsens Boomregion mit Herz!

Dörrie, H.-H. & S. Paul (2011): Heimzug und Brutzeit 2011 – vogelkundliche Neuigkeiten aus einem denkwürdigen Frühjahr

Eichler, W.-D. (1949-50): Avifauna Gottingensia I-III. Mitt. Mus. Naturk. Vorgesch. Magdeburg 2: 37-51, 101-111, 153-167

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Heitkamp, U. (1981): Die Vogelpopulationen einer Saumbiozönose am Stadtrand von Göttingen in den Jahren 1963 bis 1968. Göttingen, Selbstverlag

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