Der Grünspecht – Vogel des Jahres 2014: Lachsack im Aufwind

Abb. 1: Grünspechtweibchen bei der Nahrungssuche. Foto: M. Siebner

Die Wahl des Grünspechts (Picus viridis) zum Vogel des Jahres 2014 durch den NABU bietet die willkommene Gelegenheit zu einem kleinen Regionalporträt unserer zweitgrößten Spechtart. Vorgestellt wird ein faszinierender Vogel, der eine Menge Fragen aufwirft.

Verbreitung und Bestandsentwicklung

Im süd-niedersächsischen Bergland ist der Grünspecht ein spärlicher Brutvogel, dessen Vorkommen bereits bei Merrem (1789) dokumentiert ist. Sein bevorzugter Lebensraum ist ein Mosaik aus Grünland und anderen Offenflächen, strukturreichen Waldrändern, Obstwiesen, lichten Gehölzen und Gärten. Hier besetzt er Reviere, die bis zu 250 Hektar umfassen können (Blume 1981). Das Innere dichter (Laub-) Wälder meidet er, ebenso die von Koniferen geprägten Hochlagen der großen Waldgebiete im Westen unserer Region (Bramwald, Kaufunger Wald, Solling). Die Niederungen von Leine, Rhume, Garte und Schwülme, aber auch von kleineren Fließgewässern sind traditionelle Verbreitungsgebiete, vor allem dort, wo Grünland an die Ufer grenzt. In Göttingen ist er ein altbekannter Stadtvogel. Auch in ländlich geprägten Ortsrandlagen fehlt er nicht. Verglichen mit klimatisch begünstigten Regionen im Westen und Südwesten Deutschlands stellt Süd-Niedersachsen aber einen eher suboptimalen Lebensraum dar (Schelper 1986).

Weil der Grünspecht von Ameisen lebt und ein ausgeprägter Standvogel ist, wurde seine Populationsdynamik in der Vergangenheit vor allem von Eis und Schnee geprägt. Die schneereichen Kältewinter der späten 1940er Jahre und der Jahre 1962/63, 1978/79, 1985/86 und 1986/87 brachten den Bestand jeweils beinahe zum Erlöschen. In der Regel dauerte es mehrere Brutperioden, bis sich die (kleine) Population wieder einigermaßen erholt hatte. Im Unterschied dazu verliefen die eher schneearmen Extremwinter der Jahre 1995/96 und 1996/97 vergleichsweise glimpflich (Bruns 1949, Schelper 1986, Dörrie 2010).

Danach machte sich bekanntlich die globale Erwärmung bemerkbar und unser Porträtvogel war aus dem Gröbsten raus. Bei Kartierungen in allen Gemeinden des Landkreises Göttingen (1.117 km²) ermittelte G. Brunken (mdl. Mitt.) bis 2008 beachtliche 65 bis 85 Reviere. Diese Angabe zeigte damals eine Untergrenze an, weil die Erfassungen nicht flächendeckend durchgeführt werden konnten. Im Göttinger Stadtgebiet stieg die Brutpopulation bis 2009 von zwei auf ca. acht Paare (Dörrie 2011, heute wahrscheinlich noch mehr). Auch im historischen Kerngebiet ist (wieder) ein Revier besetzt. Im EU-Vogelschutzgebiet V 19 „Unteres Eichsfeld“ vervierfachte sich der Bestand zwischen 2005 und 2008 von vier auf 16 Paare/Reviere (Brunken et al. 2006, Heitkamp et al. 2010). Bis heute haben die Nachweise weiter zugenommen. Wie groß die Regionalpopulation mittlerweile ist, kann nur grob geschätzt werden. Sie dürfte aber allein im Landkreis Göttingen deutlich mehr als 100 Paare betragen. Aus dem Landkreis Northeim liegen leider nur wenige Angaben vor. In der bundesweiten „Grünspecht-Rangliste“ der Datenbank ornitho.de befindet sich der Landkreis Göttingen mit knapp 850 Beobachtungen seit dem Herbst 2011 aktuell auf Platz 14, vor vielen Kreisen im Westen und Südwesten der Republik. Wegen hoher Melderdichte und Beobachtungsfrequenz in vielbegangenen Hausgebieten sowie den damit verbundenen Mehrfacheintragungen identischer Vögel ist die Plazierung unter den Top 20 aber für eine konkrete Bestandsschätzung von sehr geringer Aussagekraft. Gleichwohl liefert sie Hinweise darauf, wie häufig und regelmäßig Grünspechte mittlerweile ins Blickfeld bzw. ihre Lautäußerungen in die Gehörgänge der Beobachter/innen geraten.

All dies scheint glanzvoll zu belegen, dass der Grünspecht zu den klaren Gewinnern des Klimawandels zählt. Wie recht hatte doch der prominente Klimaforscher M. Latif aus Kiel, als er am 1. April 2000 im „Spiegel“ prognostizierte, „dass es Winter mit starkem Frost und viel Schnee wie noch vor zwanzig Jahren in unseren Breiten nicht mehr geben wird“. Nach diesem beruhigenden Fazit könnte man eigentlich auf weitere Ausführungen verzichten und sich entspannt dem Beobachten von Vögeln widmen, oder etwa nicht?

Die vollmundige Prophezeiung war leider mit einem kleinen Makel behaftet: Sie hat sich, wie so viele ähnlicher Machart, als krachend falsch entpuppt. Der letzte wirklich milde Winter, 2006/2007, liegt in unserer Region schon einige Jahre zurück. Mittlerweile räumen auch die umtriebigsten Apokalyptiker unter den Klimatologen ein, dass die globale Erwärmung seit 1998 stagniert. Doch nicht nur das: Nach 2007 folgte ein kalter und langer Winter dem nächsten. 2010/2011 ging es in unserer Region so kalt und schneereich zu wie seit über 40 Jahren nicht mehr. Der “Märzwinter” 2013 mit Frösten bis zu -17°C setzte dann allem die Krone auf. Die Brutpopulationen winterempfindlicher Arten wie Eisvogel und Schleiereule sind in den vergangenen Jahren auf klägliche Restbestände geschrumpft.

Weil vor diesem Hintergrund auch ein deutlicher Bestandseinbruch des Grünspechts zu befürchten war, achteten Göttinger Vogelkundler gezielt darauf, ob traditionelle Reviere in der Stadt und ihrem Umfeld im Frühjahr wieder besetzt waren. Das Ergebnis fiel verblüffend aus: Trotz mutmaßlicher Verluste waren sie, selbst nach dem Extremwinter 2011/12, alle wieder bezogen!

Wie ist dieses Paradox zu erklären? Vielleicht hilft ein Blick auf die Umweltbedingungen, unter denen Grünspechte in unserer Kulturlandschaft ihr Leben meistern.

Ameisen als Lebensgrundlage

Grünspechte leben ganzjährig zu ungefähr 90 Prozent von bodenbewohnenden Ameisen (Bauer et al. 2005). An Wald- und Wegrändern, auf Wiesen und Weiden, Rasenflächen und Brachen suchen sie im Hüpfmodus nach Ameisennestern und lecken die Beutetiere mit ihrer langen Zunge auf. Dabei werden Weg- und Waldameisen der Gattungen Lasius, Formica und Serviformica bevorzugt. Giftspritzende Ameisen erbeuten sie nur im Winter, wenn jene weniger aktiv sind (Seifert 2009b).

Mit ihrem kräftigen Schnabel können Grünspechte den Erdboden effektiv erschließen. Maulwurfs- und Wühlmaushügel werden fast schon im Akkord aufgehackt und auf Ameisen untersucht. Im Aufspüren ihrer Nahrung sind sie auch im Winter sehr findig. Seifert (2009b) berichtet von einem Grünspecht, der in einem Garten bei einer Schneehöhe von ca. 25 cm ein Ameisennest, das ihm offenbar aus dem Sommer bekannt war, durch das Einnehmen verschiedener Perspektiven von mehreren Obstbäumen aus zunächst förmlich einkreiste und dann zielgenau ansteuerte. Es drängte sich der Eindruck auf, dass der Vogel den Schnittpunkt mehrerer Diagonalen berechnete, um an das Nest zu gelangen – eine staunenswerte kognitive Leistung, die wohl nur noch von einem Tannenhäher übertroffen wird, der bei ganz anderen Schneehöhen im Herbst vergrabene Nüsse wiederfindet und sich dabei an auffälligen, aus dem Schnee ragenden Landmarken orientiert.

Grünspecht im Schnee - V. Lipka

Abb. 2: Grünspecht auf Ameisensuche in einem Garten in Diemarden. Foto: V. Lipka

Grünspecht Spuren - V.Lipka
Abb. 3: So sieht es nach getaner Arbeit aus. Foto: V. Lipka

Als spezialisierter Ameisenfresser sucht der Grünspecht – anders als sein naher Verwandter, der Grauspecht – keine Futterhäuser auf. Das plakative Motto „Vögel füttern – aber richtig“ greift in seinem Fall also nicht. Zwar gibt es Hinweise, dass ab und an auch andere Insekten sowie Würmer, Schnecken und manchmal Früchte konsumiert werden (Winkler et al. 1995). Dies ändert aber kaum etwas an der ausgeprägten Abhängigkeit von der Hauptnahrung.

Die offenkundige Bestandszunahme erscheint noch erstaunlicher, wenn man den galoppierenden Grünlandschwund und den Verlust nährstoffarmer Freiflächen einbezieht, die in der Regel von Myriaden wärmeliebender Ameisen bevölkert werden. Neben der Umwandlung von Wiesen und Brachen in sterile Mais- und Rapsäcker schmälern Eutrophierungsprozesse als Resultat der großräumigen Verfrachtung von Stickstoffverbindungen aus Landwirtschaft und fossiler Energieverbrennung die Nahrung unseres Porträtvogels. Seifert (2009a) zeigt anschaulich, dass eine durch Nährstoffanreicherung bedingte hohe Pflanzendichte unweigerlich zum dramatischen Bestandsrückgang von Ameisen führt. Die Bodentemperatur sinkt, die Pflanzenvielfalt geht zurück und Raumwiderstand erschwert die Nahrungssuche der kleinen Tiere. Dieses Szenario ist die Hauptursache für den Bestandsrückgang des Wendehalses, eine Spechtart, die ebenfalls von Ameisen lebt und existentiell auf nährstoff- und vegetationsarme Offenflächen mit großen, leicht erreichbaren Populationen von Beutetieren angewiesen ist. Der Wendehals kommt in Süd-Niedersachsen regelmäßig nur noch mit ein bis zwei Paaren auf dem ehemaligen Göttinger Truppenübungsplatz Kerstlingeröder Feld vor. Warum konnte sich sein großer Vetter deutlich besser behaupten?

Gärtnern ohne Gift

Die Antwort ist, wie so oft, in veränderten anthropogenen Nutzungsformen zu suchen. Mittlerweile wird bei der Pflege öffentlicher Grünanlagen auf den Einsatz von Insektiziden verzichtet. In den Regelwerken der meisten Kleingartenvereine ist die chemische Keule seit einiger Zeit verpönt. Viele Besitzer von Hausgärten im städtischen und zunehmend auch im ländlichen Siedlungsbereich enthalten sich heutzutage, ökologisch korrekt, der systematischen Vernichtung „schädlicher“ Kleinlebewesen (die verhassten Nacktschnecken natürlich ausgenommen). Zwar unterliegen auch diese Lebensräume der allgegenwärtigen Eutrophierung, doch wird durch regelmäßiges Kurzhalten der Vegetation oder die Ansaat von Feldfrüchten immer wieder für offene Strukturen gesorgt. Obwohl konkrete Untersuchungen zu diesem Themenfeld zu fehlen scheinen, ist es durchaus wahrscheinlich, dass die Bestände ökologisch plastischer Ameisenarten von der extensivierten Freiflächennutzung und -pflege profitiert haben und sich von den chemischen Exzessen, die bis weit in die 1980er Jahre in Szene gesetzt wurden, erholen konnten. Dieser Befund passt gut zu der Korrektur des Zerrbilds von menschlichen Siedlungen als besonders artenarmen Lebensräumen durch Reichholf (2007). Die unmittelbare Belastung durch Biozide ist im Wohnumfeld der Menschen mittlerweile um ein Vielfaches geringer als im agrarindustriell geprägten Offenland. Für den Grünspecht, der bei der Nahrungssuche kraftvoller und flexibler zu Werke gehen kann als der kleine Wendehals mit seinem schwachen Schnabel, haben sich Nahrungsangebot und -verfügbarkeit augenscheinlich deutlich verbessert. In seinen großen Revieren, die fast immer Teile des Siedlungsgebiets oder Ortsrandhabitate umfassen, kann er Bereiche, in denen sich Ameisenbestände erholen oder neu ansiedeln konnten, gedeihlich nutzen. Es spricht also eine Menge dafür (vgl. Gatter 2000), dass der Siedlungsbereich und sein engeres Umfeld für den Grünspecht deutlich an Qualität gewonnen haben – mit positiven Auswirkungen auf Wintermortalität und Bruterfolg.

Baumzuwachs

Ein weiterer, für Spechte nicht ganz unwichtiger Faktor ist das Vorhandensein von Bäumen, in deren Stämmen sie ihre Bruthöhlen zimmern können. Anders als bei seiner Nahrung ist der Grünspecht nicht auf bestimmte Laubbaumarten oder Waldtypen spezialisiert. In den letzten Jahrzehnten hat sich das Nistplatzangebot für ihn deutlich erweitert, sowohl in Teilen des Offenlands als auch im Umfeld des Siedlungsbereichs. Verglichen mit ihrem Erscheinungsbild noch vor dreißig Jahren sind z.B. die Leineufer zwischen Friedland und Einbeck, die Garteaue oder die Umgebung des Seeburger Sees baumreicher denn je. Die vielerorts emporgewachsenen Pappeln, Eschen, Weiden und Schwarzerlen werden zwar von Unterhaltungsverbänden und anderen Nutzergruppen umso argwöhnischer beäugt, je älter sie werden. Gleichwohl geht man mit ihnen, nicht zuletzt als Folge erhöhter Naturschutzauflagen, etwas pfleglicher und differenzierter um als im vergangenen Jahrhundert.

Darüber hinaus bieten die in einem offenen Umfeld neuentstandenen Gehölze einen schnell erreichbaren Schutz vor Beutegreifern aller Art, was für einen exponiert auf die Nahrungssuche gehenden „Erdspecht“ von Vorteil ist.

Wie sehr gerade der Grünspecht von fortgeschrittenen Stadien der Gehölzsukzession, die durch Eutrophierung noch beschleunigt werden, profitiert hat, ist besonders eindrucksvoll in den ergrünten Ballungsgebieten Nordrhein-Westfalens zu beobachten, die heute auf weiten Flächen einer Parklandschaft ähneln (s.u.).

Damit tut sich ein weiteres (scheinbares) Paradox auf: Der Grünspecht ist Nutznießer von Prozessen, die seiner Hauptnahrung eigentlich abträglich sind. Solange jedoch weiterhin Freiflächen durch Pflege und Nutzung offengehalten werden, bleibt das Mosaik seines Lebensraums nicht nur erhalten, sondern gewinnt durch Gehölzalterung noch an Qualität. Wird der Baumbestand allerdings zu dicht und dunkel und zudem, wie etwa auf dem Göttinger Stadtfriedhof, von Nadelbäumen geprägt, ist er schnell wieder verschwunden bzw. tritt dort nur noch vereinzelt als Nahrungsgast auf. Dagegen ist der 1975 in Betrieb genommene Friedhof Junkerberg in Weende mit seinen Lichtwaldstrukturen und ausgedehnten Offenflächen bis heute Bestandteil eines traditionellen Grünspechtreviers (Dörrie & Paul 2005).

Vom Göttinger Stadtrand liegen Indizien für eine gewisse Bevorzugung älterer Hybridpappeln durch brütende Grünspechte vor. Wegen ihrer vermeintlichen Astbruchgefahr für Passanten wurden und werden sie in der Stadt als sogenannte „Problembäume“ stark reduziert. Die weitere Entwicklung und ihre Auswirkungen auf den Grünspecht bleiben abzuwarten. Zumindest im Kiessee-Leinegebiet existieren aber noch etliche Exemplare, die nachweislich und mit Erfolg zum Brüten genutzt werden, so auch in diesem Jahr.

Baumzuwachs
Abb. 4: Gehölzaufwuchs an der Leine in Göttingen. Foto: N. Vagt

Streuobstwiesen

Wären, nach dem Mantra des NABU und anderer Naturschutzorganisationen, Streuobstwiesen für das Wohlergehen des Grünspechts unabdingbar, ginge es ihm in unserer Region wahrlich schlecht. Wie bereits in einer kleinen Abhandlung über den Gartenrotschwanz auf dieser Seite gezeigt wurde, spielen sie als „Lebensraum für bedrohte Arten“ kaum noch eine Rolle. Ihr Flächenanteil beträgt im Landkreis Göttingen nur noch ganze 0,4 Prozent. Zudem sind sie wegen mangelnder Pflege und Nutzung oft verbuscht und durch eine dichte Krautschicht gekennzeichnet. Für Vögel und andere Lebewesen, die ihre Nahrung am Boden erbeuten, sind sie daher weithin wertlos. Den faktischen Verlust dieses ehemals ausgedehnten, arten- und nahrungsreichen Lebensraums hat der Grünspecht offenbar souverän verkraften und kompensieren (s.o.) können.

Grünspecht auf Baum
Abb. 5: Grünspechtmännchen, mal nicht am Boden. Foto: M. Siebner

Prädation

Blume (1981) berichtet am Beispiel Berlins, dass Habichte einen negativen Einfluss auf lokale Grünspechtpopulationen ausüben können, bis zu deren Verschwinden. Im Landkreis Göttingen ist der Habicht deutlich seltener geworden. Im engeren Stadtgebiet, aber auch bei Zugplanbeobachtungen außerhalb der Stadt werden umherstreifende (Jung-)Habichte nur noch sehr vereinzelt beobachtet. Mit hoher Wahrscheinlichkeit finden auch in Süd-Niedersachsen illegale Nachstellungen durch Jäger und Taubenzüchter statt, sei es durch Abschuss oder den Fang in mit Locktauben bestückten Fallen. Letztere können ganz bequem mitten im Wald aufgestellt werden, wo kein Unbefugter sie findet… Im Unterschied zu Nordrhein-Westfalen, wo dieses abstoßende Treiben mittlerweile epidemische Ausmaße angenommen hat (Komitee gegen Vogelmord et al. 2012), liegen aus unserer Region so gut wie keine vergleichbaren Hinweise vor. Was aber wenig zu bedeuten hat… Ob der Rückgang des Habichts eine Rolle bei der Bestandserholung des Grünspechts gespielt haben könnte, ist mangels konkreter Daten reine Spekulation.

Neben alteingesessenen Feinschmeckern wie Eichhörnchen, Bilchen sowie Stein- und Baummardern plündern auch die ursprünglich aus Freisetzungen stammenden Waschbären Gelege und Jungvögel höhlenbrütender Vogelarten, wobei die Meinungen über das Ausmaß weit auseinander gehen. Für das nördliche Harzvorland in Sachsen-Anhalt ist, zumindest lokal, eine starke Prädation von Nistkastenbrütern belegt (Tolkmitt et al. 2012). Interessanterweise wurde dieses Phänomen aber in nährstoffarmen und gewässerfernen Habitaten mit einer niedrigen Waschbären-Siedlungsdichte konstatiert. In Stadt und Landkreis Göttingen geht es dem pelzigen Neubürger ausgesprochen gut, seine Nahrungsquellen sprudeln unerschöpflich. Vielleicht ist er in unserer nährstoffreichen Region gar nicht darauf angewiesen, sich wegen fehlender Alternativen mit dem mühevollen Ausräumen von Bruthöhlen in hohen Bäumen abzuplagen. Zudem bezieht der Grünspecht überwiegend selbstgezimmerte Naturhöhlen (Blume 1981), die im Regelfall schwieriger zu erreichen sind als (ungesicherte) Nistkästen. Davon abgesehen spricht schon der offenkundige Populationszuwachs des Grünspechts klar gegen eine Bestandsminderung durch den Waschbären. Dass, im Umkehrschluss, die Massentötungen von Waschbären – im Landkreis Göttingen betrug die „Jagdstrecke“ laut dem aktuellen Landesjagdbericht enorme 1576 Individuen – sich für den Grünspecht positiv ausgewirkt haben könnten, ist bereits deshalb unwahrscheinlich, weil diese Aktionen offenkundig keinen nachweisbaren Einfluss auf die nach wie vor positive Entwicklung der regionalen Kleinbärenpopulation haben.

Tarnung
Abb. 6: Bunt wie ein Papagei, aber in seinem Lebensraum optimal getarnt. Foto: M.Siebner

Blick über den regionalen Tellerrand

In der aktuellen Roten Liste der Brutvögel Niedersachsens (Krüger & Oltmanns 2007) rangiert der Grünspecht in der Kategorie 3 („im Bestand gefährdet“). Der landesweite Bestand, dessen Erhaltungszustand nach dem Vollzugshinweis des Niedersächsischen Landesbetriebs für Wasserwirtschaft, Küsten- und Naturschutz immer noch als „ungünstig“ gilt (NLWKN 2010), wurde für das Referenzjahr 2005 auf ca. 2500 Brutpaare beziffert.
Dagegen dokumentiert der gerade erschienene Atlas der Brutvögel Nordrhein-Westfalens (NWO & LANUV o.J.) eine „neuerdings flächendeckende Verbreitung“ mit 6.500 bis 11.000 Revieren, eingeschlossen hohe Siedlungsdichten in den Ballungsräumen von Rhein und Ruhr.

Der aktuelle Atlas der Brutvögel von Brandenburg und Berlin (Ryslavy et al. 2012) geht von 3.600 bis 5.400 Revierpaaren aus, die eine starke Zunahme von ca. 50 Prozent seit 1995 anzeigen. Die positive Entwicklung wird mit „vielen milden Wintern“ erklärt. Diese hat es jedoch nach der Analyse regionaler Wetterdaten durch Flade (2012) seit 1990 in beiden Bundesländern nicht oder nur als statistische Ausreißer gegeben. Deshalb dürften auch im kontinentalklimatisch geprägten Ostdeutschland andere Faktoren ihre für den Grünspecht segensreiche Wirksamkeit entfaltet haben.

Für das Bundesgebiet ist für den Zeitraum 1991 bis 2010 eine moderate Zunahme von ein bis drei Prozent/Jahr belegt (Sudfeldt et al. 2012). Im Monitoring häufiger Brutvogelarten ist der Grünspecht eine von nur sieben (von 64 untersuchten) Arten, die im Bestand signifikant zugenommen haben. Schon diese wenigen Beispiele zeigen, dass die positive Bestandsentwicklung in Süd-Niedersachsen nicht aus dem Rahmen fällt.

Grünspechte beobachten – wo und wann

Im engeren Göttinger Stadtgebiet ist es heutzutage kein Problem mehr, einen Grünspecht aufzuspüren. Die Wahrnehmung ist jedoch in den allermeisten Fällen akustischer Natur. Grünspechte sind ausgemachte Krakeeler. Sie verraten sich durch eine laute Rufreihe, die wie ein gellendes Lachen klingt, manchmal mit empört bis hysterisch anmutenden Modulationen. Die Rufe des Grauspechts hören sich ähnlich an, sind aber weicher, mehr pfeifend und in der Tonlage klar abfallend. Im Winter sind die Vögel zumeist stumm, erst ab Ende Februar lassen sie sich wieder vernehmen. Sitzen sie regungs- und lautlos an einem Stamm oder Ast, sind sie praktisch unsichtbar. Als Gartenbesitzer kommt man am ehesten in den Genuss, sie beim Nahrungserwerb am Boden beobachten zu können.

Beide Geschlechter zeichnen sich neben dem namensgebenden grünen Rücken durch einen roten Scheitel und eine schwarze Banditenmaske aus. Das Männchen kann durch seinen rot eingefassten Bartstreif vom Weibchen unterschieden werden. Die flüggen Jungvögel sind stark geschuppt mit einem schwächer ausgeprägten roten Scheitel. Sie verbleiben über mehrere Wochen in Gesellschaft der Eltern oder eines Elternteils, die ihnen die Ameisenjagd beibringen und sie noch lange füttern. Die Beobachtung einer solchen, auf dem Rasen umherhüpfenden Familie ist für Vogelfreunde ein echtes Glanzlicht, das aber wegen der als Tarnung wirkenden Grünfärbung der Vögel in Kombination mit ihrer Wachsamkeit nur wenigen zuteil wird.

Junger Grünspecht
Abb. 7: Rückenansicht eines jungen Grünspechts. Foto: W. Kühn

Ein echter Grünspecht-Hotspot ist der Göttinger Kiessee samt Umgebung. Bei passender Jahreszeit und günstigen Wetterbedingungen tendiert hier die Antreffwahrscheinlichkeit gegen 50 Prozent. Weitere gute Beobachtungsplätze sind die Weststadt (Levin-Park), der Friedhof Junkerberg in Weende, der Alte Botanische Garten, die Südstadt (hier besonders die traditionell besiedelte Kleingartenanlage „Lange Bünde“), die Schillerwiesen und, natürlich, das Kerstlingeröder Feld, wo Grün- und Grauspecht im gleichen Lebensraum vorkommen. In der Göttinger Peripherie ist das Gartetal zwischen dem Werderhof und Diemarden sehr empfehlenswert. Auch in weiter von Göttingen entfernten Beobachtungsgebieten wie dem Seeburger See oder der Geschiebesperre Hollenstedt bei Northeim kann man Grünspechte hören und sehen. Und jetzt steht (hoffentlich) einem gemeinsamen Ablachen mit dem Vogel des Jahres 2014 nichts mehr im Wege!

Hans-Heinrich Dörrie

Literatur

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Brunken, G., M. Corsmann & U. Heitkamp (2006): Das EU-Vogelschutzgebiet V 19 (Unteres Eichsfeld). Ergebnisse des Monitorings 2003 und 2005. Naturkundl. Ber. Fauna Flora Süd-Niedersachs. 11: 81-114.

Bruns, H. (1949): Die Vogelwelt Südniedersachsens (mit Beilage: Quantitative Bestandsaufnahmen). Orn. Abh. 3.

Dörrie, H.H. (2010): Anmerkungen zur Vogelwelt des Leinetals in Süd-Niedersachsen und einiger angrenzender Gebiete 1980-1998. Kommentierte Artenliste. 3., korrigierte Fassung im pdf-Format

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Dörrie, H.-H. & S. Paul (2005): Lebendiges Treiben am unpassenden Ort? – Friedhofsvögel in Göttingen 2004. Naturkundl. Ber. Fauna Flora Süd-Niedersachs. 10: 85-96.

Flade, M. (2012): Vögel und die übersehene Klimawende. Wenn Prognose auf Wirklichkeit trifft. Vogelwarte 50: 267-269.

Gatter, W. (2000): Vogelzug und Vogelbestände in Mitteleuropa. Aula-Verlag, Wiebelsheim.

Heitkamp, U., Brunken, G., Corsmann, M., Grüneberg, C. & S. Paul (2010): Avifaunistischer Jahresbericht 2008 für den Raum Göttingen und Northeim. Naturkundl. Ber. Fauna Flora Süd-Niedersachs. 14: 4-77.

Komitee gegen Vogelmord e.V., NABU Landesverband NRW e.V. & Nordrhein-Westfälische Ornithologengesellschaft e.V. (Hrsg.) (2012): Illegale Greifvogelverfolgung. Ein Leitfaden mit Hinweisen für Zeugen, Vogelschützer und Ermittlungsbeamte. Download unter http://www.nw-ornithologen.de

Krüger, T. & B. Oltmanns (2007): Rote Liste der in Niedersachsen und Bremen gefährdeten Brutvogelarten – 7. Fassung, Stand 2007. Inform.d.Naturschutz Niedersachs. 27: 131-175.

Merrem, B. (1789): Verzeichniß der rothbluetigen Thiere in den Gegenden um Goettingen und Duisburg, wahrgenommen. Schr. Ges. naturforsch. Freunde Berlin 9: 189-196.

Niedersächsisches Landesministerium für Ernährung, Landwirtschaft, Verbraucherschutz und Landesentwicklung (o.J.): Wild und Jagd. Landesjagdbericht 2011/12.

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NWO & LANUV (o.J.): Die Brutvögel Nordrhein-Westfalens. Online-Version unter www.atlasnw-ornithologen.de, zuletzt abgerufen am 21.10.2013.

Reichholf, J. (2007): Stadtnatur. Eine neue Heimat für Tiere und Pflanzen. Oekom Verlag, München.

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Schelper, W. (1986): Grünspecht – Picus viridis – in: Zang, H. & H. Heckenroth (1986): Die Vögel Niedersachsens. Band 2.7: Tauben- bis Spechtvögel.

Seifert, B. (2009a): Ameisen und Vögel – ein keineswegs einseitiges Verhältnis. In: Nationalparkverwaltung Harz (Hrsg.): Aktuelle Beiträge zur Spechtforschung – Tagungsband 2008 der Projektgruppe Spechte der Deutschen Ornithologen-Gesellschaft. Schriftenreihe aus dem Nationalpark Harz, Bd. 3: 12-19.

Seifert, B. (2009b): Lebensraumansprüche, Biomassen und Erreichbarkeit für Spechte relevanter Ameisen. In: Nationalparkverwaltung Harz (Hrsg.): Aktuelle Beiträge zur Spechtforschung – Tagungsband 2008 der Projektgruppe Spechte der Deutschen Ornithologen-Gesellschaft. Schriftenreihe aus dem Nationalpark Harz, Bd. 3: 20-27.

Sudfeldt, C., Bairlein, F., Dröschmeister, R., König, C., T. Langgemach & J. Wahl (2012): Vögel in Deutschland – 2012. DDA, BfN, LAG VSW, Münster.

Tolkmitt, D., Becker, D., Hellmann, M., Günther, E., Weihe, F., Zang, H. & B. Nicolai (2012): Einfluss des Waschbären Procyon lotor auf Siedlungsdichte und Bruterfolg von Vogelarten – Fallbeispiele aus dem Harz und seinem nördlichen Vorland. Ornithol. Jber. Mus. Heineanum 30: 17-46.

Winkler, H., Christie, D.A. & D. Nurney (1995): Woodpeckers. A Guide to the Woodpeckers, Piculets and Wrynecks of the World. Pica Press, Mountfield, UK.