Urwaldähnliche Vegetation aus einem vielfältigen, durch einen enorm hohen Alt- und Totholzanteil gekennzeichneten Baumbestand, dichte Gebüsche und Efeudschungel, Heimat von bis zu 35 Brutvogelarten (darunter auch von in Göttingen seltenen wie der Waldohreule) mit knapp 100 Paaren auf ganzen dreieinhalb Hektar: Der Ascherberg, genauer seine östliche Hälfte nahe dem Kiessee, war ein wilder, verwunschener Ort, an dem sich die Natur in den letzten 50 Jahren ungestört entwickeln konnte. Ein paar Trampelpfade, die äußerst selten genutzt werden, durchziehen das aus einem Park entstandene Wäldchen. Von der herrschaftlichen Villa des früheren Besitzers stehen nur noch ein paar Fundamente und ein eisernes Tor. Kaum ein Spaziergänger in Göttingens meistbesuchtem Naherholungsgebiet verirrt sich dorthin. Auf den beiden am Rand aufgestellten Bänken hat man noch nie jemanden sitzen gesehen. Jetzt aber haben Mitarbeiter des städtischen Bauhofs in diese Idylle Schneisen der Verwüstung geschlagen. Wie konnte es dazu kommen?
Im November 2015 erhielt der Schreiber dieser Zeilen eine Anfrage des städtischen Forstamtsleiters zur Vogelwelt des Ascherbergs. Mit einer auf zahlreiche Daten aus den letzten 20 Jahren gestützten Expertise konnte er über die bemerkenswert hohe Arten- und Individuendichte in Kenntnis gesetzt werden, verbunden mit der Empfehlung, das Gebiet in Ruhe zu lassen und es gegebenenfalls offiziell als Naturwaldzelle auszuweisen. Schon damals drängte sich die Frage auf, warum der Ascherberg auf einmal ins Visier des Forstamts geraten war.
Im März 2016 konnte ein vorbeiradelnder Mitarbeiter der Unteren Naturschutzbehörde Fällarbeiten in der Nordostecke gerade noch rechtzeitig stoppen. Außer ein paar jüngeren Bäumen war zum Glück nichts zu Bruch gegangen. Es ist wohl nur diesem Zufall zu verdanken, dass der Ascherberg damals nicht in eine aufgeräumte Parkanlage verwandelt wurde. Der skandalöse Vorfall ging mit bissigen Kommentaren durch die Presse, wobei der (angeblich) uninformierte Forstamtsleiter keine gute Figur machte. Interessanterweise fiel die unangekündigte Hauruckaktion in die heiße Vorbereitungsphase des Landesturnfests, was Rückschlüsse auf ihre eifrigsten, im Hintergrund agierenden Unterstützer zulassen könnte…
Im Frühjahr 2016 bestätigte eine Brutvogelkartierung des Planungsbüros Corax (vom Fachdienst Umwelt der Stadt beauftragt) die außerordentlich hohe Arten- und Individuenzahl der ansässigen Vogelwelt. Jetzt hätte man eigentlich davon ausgehen können, dass weitere Eingriffe nicht zu befürchten waren. Es kam aber ganz anders. Innerhalb der Verwaltung wurde ein Kompromiss geschlossen, den als faul zu bezeichnen ein Euphemismus wäre: Unterhalb des Randwegs mit den zwei Bänken wird, bis auf ein paar jüngere Bäume, die Vegetation beseitigt. Der Trampelpfad im Norden (neben dem alten Obstgarten) wird zu einer attraktiven Piste mit „Pflege des randlichen Unterholzes“ ertüchtigt. Am Rosdorfer Weg werden auf einer Breite von 30 Metern ins Gebiet alle potentiellen Gefahrenbäume beseitigt. Der Rest wird künftig als Wirtschaftswald genutzt. Als ökologisches Bonbon wird die Verrammelung des zentralen Trampelpfads mit Baumstämmen verkauft – das fühlt sich gut an, ist aber in Wahrheit reine Dekoration. Wozu mit großem Aufwand einen Weg verbauen, der wegen fehlender Nutzung kaum noch erkennbar ist? Von dem Kompromiss profitieren im Wesentlichen zwei Akteure: die Wassersportler mit ihren jährlichen Zeltlagern, die jetzt mehr Platz haben, und das Forstamt, das den Gehölzbestand fortan nutzen kann, natürlich „schonend“, wie es sich für ein von der Stiftung Naturland und dem Forest Stewardship Council (FSC) zertifiziertes Unternehmen gehört. Tatsache ist jedoch: Der einzigartige Charakter des Ascherbergs als faktische Naturwaldzelle ist dahin.
Aus Sicht des Natur- und Artenschutzes ist die ganze Aktion überflüssig und von horrender Sinnlosigkeit. Nichts hätte dagegen gesprochen, das Gebiet weiterhin in seinem urwüchsigen Zustand zu belassen. In den letzten 50 Jahren hat sich niemand daran gestört. Von Protesten ordnungsliebender Normalbürger mit Aversionen gegen Wildwuchs aller Art ist nichts bekannt.
Aber es geht ja nicht nur um den Ascherberg. Wie rabiat und kaum behelligt Nutzer- und Interessengruppen, die Natur nur noch als Investitionshindernis wahrnehmen, mittlerweile in unserer Stadt agieren können, lässt sich am Leine-Grüngürtel zwischen der Otto-Frey-Brücke und der Godehardstraße dokumentieren: Hier wurden praktisch alle Büsche beseitigt und zahlreiche Bäume gefällt. Ein Biergarten, eine geplante Zufahrt für den Lieferverkehr zur Lokhalle und eventuell ein weiterer Hotelneubau werden dem früher hoch geschätzten Grüngürtel den Rest geben. Der Kontrast zur aufwendig „renaturierten“ Leine könnte nicht stärker ausfallen. Wie sagte vor ein paar Tagen ein jovialer Mitarbeiter des Bauhofs: „In keiner deutschen Stadt wird so viel für die Natur getan wie in Göttingen“. Na dann: Prost Mahlzeit!
Hans H. Dörrie