Zwergscharben im Anflug!

Die Zwergscharbe (Microcarbo pygmaeus), ein kleiner Verwandter unseres Kormorans, kommt von Südosteuropa bis nach Zentralasien vor.  Mit Zunahme der Brutbestände hat sich die Art in den letzten Jahrzehnten nach Westen ausgebreitet – die uns nächsten brüten seit 2007 in Österreich am Neusiedler See (Ławicki et al. 2012).
Im Rahmen der Ausbreitung treten Zwergscharben vermehrt als Gastvögel in Deutschland auf, meist Einzelvögel und oftmals im Winter. Den ersten niedersächsischen Zwergscharben-Nachweis gab es 2004/05, als ein Vogel knapp ein Jahr lang nördlich von uns zwischen Hildesheim und Hannover herumstreifte (Christian Bräuning, Alexander Sührig, Thorsten Prahl in Deutsche Seltenheitenkommission 2008 sowie Krüger & Zang 2017).
Seitdem haben zwei weitere Einzelvögel Niedersachsen besucht, und mit Ausnahme von 13 Tieren in Bayern im Ismaninger Teichgebiet im September 1958 wurden in ganz Deutschland nie größere Zwergscharben-Trupps gesehen (Bauer & Glutz von Blotzheim 1966, Ławicki et al. 2012).

Abbildung 1: Trupp von 10 Zwergscharben über dem Seeanger. Foto: M. Göpfert

Umso erstaunlicher ist der Zwergscharben-Einflug, der sich in Bayern Ende Juli dieses Jahres anbahnte. Neben verstreuten kleineren Gruppen von bis zu drei Vögeln wurden am 31. Juli beachtliche sechs Zwergscharben im Schweinfurter Becken von Thomas Kuhn entdeckt (siehe ornitho.de). Einen Tag später saßen dort bereits 25 Scharben, und die Anzahl kulminierte am 7. August mit sagenhaften 32 Vögeln.  Auch an anderen Orten in Bayern gab es große Zwergscharben-Trupps, so zum Beispiel 17 Vögel am 10.8. im Landkreis Regensburg. Auf der Meldeplattform ornitho.de wimmelte es plötzlich buchstäblich von Zwergscharben-Meldungen aus Bayern. 

Abb. 2: Einflug von Zwergscharben im Sommer 2021 (ornitho.de). Dargestellt sind nur Trupps von 2 und mehr Vögeln, wobei sich die nord-westlichste Beobachtung im Landkreis Göttingen befindet.

Auf den auf ornitho.de eingestellten Fotos rasteten die Scharben charakteristischerweise meist auf im Wasser stehenden toten Bäumen und Holzpfosten.  Solche gibt es auch bei uns, zum Beispiel am Göttinger Kiessee, entlang der Leine, den Northeimer Kiesteichen sowie bei Ebergötzen am Seeanger und am benachbarten Lutteranger, siehe dazu die entsprechenden Beiträge auf dieser Hompepage.  Für die im Kiessee schwimmenden Holzbalken führen wir sogar eine eigene Artenliste. Illustre Arten wie Weißbartseeschwalbe und Moorente saßen dort schon drauf, Zwergscharben noch nie. Leider sind die meisten Balken inzwischen verrottet. Gleichwohl sind wegen der Entwicklung einer strukturreichen Ufervegetation die Chancen gestiegen, dass der Traum vom „Babyface am Kiessee“, der besonders von ein paar älteren Göttinger Beobachtern gehegt wird, vielleicht bald Wirklichkeit wird …

Abb. 3: Zwergscharbe auf einem „Lieblingsplatz“ im Seeanger. Foto: W. Vogeley

Am 12. August kamen die ersten Zwergscharben endlich zu uns – nicht eine, sondern gleich zehn! Bei einer Stippvisite zum Seeanger entdeckte ich die Vögel um 8:57 Uhr, im Morgendunst hoch kreisend über dem Gebiet. Im Fernglas erwiesen sie sich als kleine, kurzhalsige „Kormorane“ mit raschem Flügelschlag und auffallend langen Schwänzen. Gleich nach der Entdeckung wirbelten sie ungeordnet von dannen und zogen in Richtung Lutteranger fort. Ich habe die Vögel beim Abflug nochmal durchgezählt und fotografiert bis sie nicht mehr zu sehen waren. Kurzes Durchschnaufen beim Durchmustern der Fotos, dann habe ich die Beobachtung in die WhatsApp-Gruppe der Göttinger Vogelkundler eingestellt. Begeisterte Reaktionen gab es sofort. Ich war noch am Telefonieren und Tippen, als die zehn Vögel um 9:15 Uhr wie aus dem Nichts über dem Nordost-Teil des Angers erneut auftauchten und im dortigen „Pfuhl“ landeten. Jetzt hockten sie tatsächlich auf „unseren“ oft abgesuchten Pfosten und toten Ästen. Faul waren die Vögel allerdings keineswegs – immer wieder flogen kleine Trupps auf und drehten kurze Erkundungsrunden, wobei sie teilweise auch in anderen Bereichen des Seeangers runtergingen. Ein Vogel landete sogar unweit von mir auf einem Pfosten nahe der Seeanger Weg-Kurve. Kamera gezückt, aber ein Traktor kommt herangebraust, und der Vogel fliegt schon wieder auf.

Mittlerweile hatte sich Phil Keuschen zu mir gesellt, und auch Martin Borchardt konnte das muntere Treiben der zehn kleinen Scharben bewundern. Um 9:56 Uhr flogen dann acht in Richtung Seeburger See, die zwei restlichen Vögel verblieben im Seeanger. Auf uns Beobachter machte das einen sehr strategischen Eindruck – Scouts erkunden, Paar abgesetzt, Brut im kommenden Jahr. Ganz so famos kam es dann wohl doch leider nicht, aber die beiden Scharben blieben noch bis zum späten Abend um zahlreiche Beobachter zu beglücken. Ein Vogel saß zeitweilig fotogen in der Kurve, diesmal ohne störenden Traktor. Später gesellte er sich zu seinem Artgenossen im „Pfuhl“, wo sich die beiden in der Ufervegetation versteckten. Am Morgen des Folgetags saß nur noch eine Scharbe im „Pfuhl“. Torsten Rohde und Lucas Kruse konnten sie noch sehen. Um 9:04 Uhr zog sie ab Richtung Osten, später eintreffende Vogelkundler konnten keine Zwergscharben mehr finden.

Abb. 4: Zwergscharben machen kurze Rast im Pfuhl des Seeangers. Foto: M. Göpfert

Für Niedersachsen sind „unsere“ 10 Scharben ein neuer Rekord. Für Südniedersachsen ist die Vogelart neu. Dass die Scharben überhaupt zu uns kamen scheint verblüffend, denn offenbar haben sie das Bundesland Hessen mal kurz überflogen. Vorher waren alle eingeflogenen Scharben ausschließlich in Bayern, doch das änderte sich in den Folgetagen. Ab dem 16. August hielten sich zunächst 12 (und später bis zu 16) Vögel in Hessen im Raum Rotenburg-Hersfeld auf und bereits noch am 13. August ließen sich drei Vögel in Sachsen blicken.  

Dürfen wir mit weiteren putzigen Ruderfüßern rechnen? Die Chancen stehen recht gut. Der derzeitige Einflug scheint noch nicht vorbei zu sein, und die eingeflogenen Vögel sind überwiegend Jungvögel, die auf ihrer Zerstreuungswanderung neue Lebensräume erkunden. Auch können Zwergscharben durchaus länger in Deutschland verbleiben – zehn dieser Vögel haben unsere Region jetzt auf dem Schirm.

Einen kleinen Zwergscharben-Einflug gab es in Bayern in den Jahren 1957 bis 1959, doch heute sind andere Zeiten. Um 1950 hatte die Zwergscharben-Population einen Tiefstand erreicht, aber heute hat sie sich erfreulich erholt. Als Gründe für diese Erholung wird unter anderem die zunehmende Gewässer-Eutrophierung vermutet und auch die Fischwirtschaft scheint eine Rolle zu spielen.  Das gezielte Abfangen größerer Fische kommt der Scharbe zugute, denn entsprechend ihrer Größe liebt diese die kleinen Fische. Stark eutrophierte Gewässer haben wir etliche, kleine Fische sicher auch. Es scheint folglich an der Zeit, sich mit der Zwergscharbe vertraut zu machen. Dies gilt nicht nur für Vogelkundler, sondern insbesondere für die Jägerschaft – die Jagd- bzw. Abschusssaison für den Kormoran wurde in Niedersachsen am 21. August eröffnet. Nicht dass es unseren Vögeln wie der ersten Zwergscharbe ergeht, die Niedersachsen besuchte. Dieser Vogel wurde zuletzt an einem Fischteich gesehen und vermutlich als „Kormoran“ abgeschossen (Christian Bräuning, Alexander Sühring, Thorsten Prahl in Deutsche Seltenheitenkommission 2008).

Martin Göpfert

Literatur

Ławicki, Ł., Khil, L. & de Vries, P.P. (2012). Expansion of Pygmy Cormorant in central and western Europe and increase of breeding population in southern Europe. Dutch Birding 34, 273-288
Deutsche Seltenheitenkommission (2008). Seltene Vogelarten in Deutschland von 2001 bis 2005. Limicola 22, 249-339
Krüger, T. & Zang, H. (2017). Nachträge zum Speziellen Teil der Avifauna „Die Vögel Niedersachsens und des Landes Bremen“. Naturschutz und Landschaftspflege in Niedersachsen, Sonderreihe B, Heft 1.2
Bauer,  K.M.  &  Glutz  von  Blotzheim,  U.  (Eds.)  (1966). Handbuch der Vögel Mitteleuropas 1.  Frankfurt am Main

Abb. 5: Die Zwergscharben waren nach einem Tag alle wieder weg. Mal sehen, wann wieder welche in die Region kommen … Foto: M. Göpfert