Das wahre Rotkehlchen – und eben nicht der Vogel des Jahres 2021

Jeder auch nur ein wenig interessierte Laie kennt wohl das herzig-dreiste Rotkehlchen. Es ist deshalb auch nicht verwunderlich, dass dieser bei uns häufige Brut- und Wintervogel bei der ersten öffentlichen Wahl zum „NABU Vogel des Jahres“ ganz oben gelandet ist.
Ein anderes, nicht weniger attraktives, dafür jedoch fast unbekanntes „Rotkehlchen“, konnte in den letzten Jahren vermehrt in den Wäldern in den Landkreisen Göttingen und Northeim nachgewiesen werden: Die Rede ist vom Zwergschnäpper (Ficedula parva). Anders als sein demokratisch legitimierter Verwandter ist der Zwergschnäpper aber das wahre Rotkehlchen, denn der rote Bereich des Gefieders adulter Männchen beschränkt sich bei ihm in der Tat auf Kehle und Unterschnabel, während das Rotkehlchen eher „Rotbrüstchen“ heißen müsste.

Abb. 1: Ausgefärbtes Männchen im Göttinger Stadtwald im Jahr 2017. Foto: M. Siebner

Zwergschnäpper verraten sich in erster Linie durch ihren einzigartigen Gesang (Aufnahme M. Moooij; 2017), der ab Ende Mai jeweils relativ weit zu hören sein kann und an Schönheit und Anmut unter der heimischen Vogelwelt kaum seinesgleichen hat. Den kleinen Sänger in seinem Habitat zu entdecken ist nicht besonders leicht. Wenn man ihn sehen kann, fällt das Schnäpper-typische Zucken mit den Flügeln und Aufstellen des markanten schwarz-weißen Schwanzes auf. Die bei uns beobachteten Männchen sangen alle ausdauernd von wechselnden Singwarten aus. Zwischendurch huschten die Winzlinge Nahrung suchend durch das Blattwerk der Bäume.
Nur Männchen ab dem 3. Kalenderjahr haben die orange-rote Kehle in Kombination mit dem bleigrauen Kopf. Die Schnabelbasis ist dabei auch orange eingefärbt, wie man auf Abbildung 1 erkennen kann.
Weibchen und junge Männchen sind recht unscheinbar gefärbt. Der weiße Ring um das dunkle Auge ist nicht immer gut zu erkennen.

Abb.2: Männchen im 2ten Kalenderjahr im Jahr 2017 an der Panzerstraße im Göttinger Stadtwald. Foto: M. Siebner

Nachweise in der Region

Brutnachweise dieser seltenen Vogelart stammen in Niedersachsen vor allem aus der Lüneburger Heide und dem Wendland mit schätzungsweise weniger als 10 Brutpaaren. Zur Besetzung von reinen Gesangsrevieren kommt es wesentlich häufiger. Weber berichtet bereits 1958 in „Beobachtungen am Nest des Zwergschnäppers“ davon, dass sobald das Weibchen „fest auf den Eiern brütet, das Lied der Sänger verstummt. Nur unverpaarte Männchen singen den ganzen Sommer hindurch, und zwar oft recht häufig.“

Neben etlichen kurzen Beobachtungen von offensichtlich ziehenden Vögeln, darunter z.B. zweimal am Göttinger Kiessee, gab es in Stadt und Landkreis Göttingen einige länger besetzte Gesangsreviere, und zwar:

  • 5.6. – 7.6.1979: nahe dem Hainholzhof/Kehr im Göttinger Hainberg (schlicht)
  • Eine Woche im Frühsommer 1996: im Langfast bei Wachenhausen (Alter unbekannt)
  • 20.5. – 18.6.2016 in der Billingshäuser Schlucht (ausgefärbt)
  • 29.5. – 25.6.2017 zwei Vögel; Panzerstraße im Göttinger Stadtwald (schlicht und ausgefärbt)
  • 9.5 – 4.6.2021 im Hutewaldprojekt bei Nienover im Solling (ausgefärbt)
  • 29.5. – 22.6.2021 am Wildgehege am Kehr (ausgefärbt)

Als Besonderheit sangen im Jahr 2017 im Göttinger Stadtwald gleich zwei Männchen, zueinander fast in Hörentfernung. Erstaunlicherweise waren sie nach einem Monat Aufenthalt am gleichen Tag verschwunden oder zumindest verstummt.
Der Vogel im Hutewald konnte besonders lange beobachtet werden. Bei der letzten Beobachtung verhielt sich der Vogel für regionale Verhältnisse untypisch, sehr heimlich und inspizierte die höhlenreichen Baumriesen. Weitere Hinweise die auf eine mögliche hindeuten könnten, konnten jedoch nicht erbracht werden. Siehe dazu auch den letzten Sammelbericht.

Abb. 3: Gesangsreviere der letzten 5 Jahre in der Region. Quellen: Ornitho und Google Earth

Habitatwahl

In Süd-Niedersachsen wurden, nicht besonders verwunderlich, Buchenwälder aufgesucht. Dabei wurden teilweise dichtere jüngere Bestände genutzt (siehe Abb 4.), aber auch offenere ältere Waldbereiche. Auch konnte keine Präferenz für Hanglagen oder flache Waldlagen erkannt werden. Häufig konnten die Vögel in der Nähe von Wegen wahrgenommen werden.

Abb. 4: Gesangsrevier im Wald an der Panzerstraße im Göttinger Stadtwald. Foto: M.Siebner

Brutzeitcodes in ornitho.de

Beim Eintrag auf ornitho.de wird nach den Regeln von Revier-Kartierungen ein Brutzeitcode vorgeschlagen: Eintragungen von B4 (Gesang an 2 Tagen im Abstand von 7 Tagen) oder auch B7 (Warnrufe von Altvögeln) ergeben auf der ornitho-Karte den Status „Brut wahrscheinlich“. Wird ein Vogel im passenden Habitat oder ein singendes Männchen festgestellt und mit Brutzeitcode festgehalten, bekommt der gesamte Quadrant ein „Brut möglich“ verpasst.

Alle sechs über Wochen fast pausenlos singenden Männchen entsprechen dabei einem klaren „B4“. Und obwohl das nicht voll ausgefärbte Männchen aus dem Jahr 2017 auch mal Warnrufe von sich gab (Aufnahme von A. Stumpner; 2017 im Stadtwald), ist nicht davon auszugehen, dass dort eine Brut stattgefunden hat. So hat der Vogel wochenlang wohl ziemlich erfolglos vor sich hin gesungen.

Ob die Vergabe eines Brutzeitcodes und damit die Bewertung mit „Brut möglich“ oder gar „wahrscheinlich“ bei diesen Dauersängern sinnvoll ist, ist mehr als fraglich. Nach den Richtlinien von ornitho.de sollten Brutzeitcodes der Kategorien A und B nur bei Vogelarten vergeben werden, die nachweislich in der Region brüten bzw. gebrütet haben oder bei denen (Beispiel Drosselrohrsänger oder Rohrschwirl) ein Brutnachweis wegen der Unzugänglichkeit der Habitate kaum zu erbringen wäre. Folgerichtig wurde von allen Sängern der letzten Jahre nur das hartnäckige Männchen vom Hainholzhof/Kehr von zwei BeobacherInnen mit dem Brutzeitcode A geadelt. Alle anderen Dauersänger, zumindest in Göttingen, gingen korrekterweise leer aus.
Bundesweit sah es allerdings ganz anders aus. Dort wimmelte es nur so von „möglichen“ Brütern. Die quantitative Aussagekraft solcher Zusammenstellungen darf bezweifelt werden, gibt aber insgesamt die Verbreitung der Art in Deutschland inklusive unverpaarter Langzeitsänger recht gut wieder.

Abb. 4: Beobachtungen von Zwergschnäppern mit Brutzeitcodes (Göttingen ist der große gelbe Punkt = „Brut möglich“ süd-westlich des Harzes)

Zugverhalten

Zwergschnäpper erreichen in Deutschland ihre westliche Verbreitungsgrenze. So gehören sie interessanterweise zu den wenigen östlich ziehenden Vogelarten mit Zug bis in den Nordwesten des Indischen Subkontinents.
Dabei wird das Phänomen des Umkehrzugs fast ausschließlich bei Jungvögeln beobachtet. Einige Vögel schlagen dann eine Zugrichtung ein, die 180° entgegen der eigentlichen liegt. So können regelmäßig im Herbst Zwergschnäpper westlich des Verbreitungsgebiets auf Helgoland beobachtet werden, ebenfalls vor allem Vögel im 1. Kalenderjahr. Möglicherweise haben sich einige dieser Vögel nicht nur „verflogen“ sondern erkunden neue Zugrouten, wie es z.B. vom östlichen Gelbbrauen-Laubsänger bekannt ist. Ältere Sichtungen von adulten Schnäppern in unserer Region im Herbst gehen vermutlich eher auf Verwechslungen mit männlichen Gartenrotschwänzen zurück und müssen deshalb kritisch hinterfragt werden.

Abb. 6: Einfach nur reizend: Ausgefärbtes Männchen im Jahr 2021 am Kehr. Foto: M. Göpfert

Trotz der wenigen nur zufällig im Frühling entdeckten Zwergschnäpper-Männchen kann man davon ausgehen, dass die Dunkelziffer bei uns um einiges höher sein könnte. Kontrollen in den Wäldern jeweils in der Zeit vom 20. Mai bis Ende Juni sind auf jeden Fall vielversprechend. Mit großer Wahrscheinlichkeit wird es sich dann wieder um ausdauernd singende Männchen handeln. Mögliche Bruten in der Region sind aber nicht ganz ausgeschlossen…
Ob sich in Zukunft die Wahrnehmungen mehren, könnte auch damit zusammenhängen, dass die Göttinger Buchenwälder, weil „naturnah bewirtschaftet“, für den kleinen Sangeskünstler mit einer Vorliebe für urwüchsige Laub- und Laubmischwälder immer attraktiver werden. Auf jeden Fall: Ein singender Zwergschnäpper ist für alle mit Herz für die Vogelwelt ein unvergessliches Erlebnis, bei dem alles stimmt!
Erfreulicherweise verzichteten die Göttinger BeobachterInnen augenscheinlich auf den Einsatz von Klangattrappen, um die Vögel anzulocken. Das war auch gar nicht nötig: Der Vogel vom Hainholzhof 2021 war ausgeprägt neugierig und offenbar sehr interessiert daran, wie seine ‚Performance‘ aufgenommen wurde – leider nur von den falschen Adressaten…

Mathias Siebner

Literatur

Dörrie, H.-H. (2010): Anmerkungen zur Vogelwelt des Leinetals in Süd-Niedersachsen und einiger angrenzender Gebiete 1980-1998. Kommentierte Artenliste. 3. korrigierte Fassung, Göttingen, Dezember 2010

Gatter, W. (2000): Vogelzug und Vogelbestände in Mitteleuropa. Aula-Verlag, Wiebelsheim.

Krüger, T., J. Ludwig, S. Pfützke & H. Zang (2014): Atlas der Brutvögel in Niedersachsen und Bremen 2005-2008. Naturschutz Landschaftspfl. Niedersachsen, H. 47. Hannover

Stübing, S., Korn, M., Kreuziger, J., Werner, M., Conz,O. (2010): Vögel in Hessen. Die Brutvögel Hessens in Raum und Zeit. Brutvogelatlas (2010) Hrsg.: Hessische Gesellschaft für Ornithologie und Naturschutz (HGON), Echzell, ISBN 978-3-9801092-8-4

Weber, H. Beobachtungen am Nest des Zwergschnäppers (Muscicapa parva) (1958): J. Ornithol. 99, 160–172, https://doi.org/10.1007/BF01671500

Abb. 7: Überwinterndes Rotkehlchen (Erithacus rubecula), Vogel des Jahres 2021