Seeburger See, Seeanger und Lutteranger

Etwa 20 Kilometer östlich von Göttingen befindet sich eines der vogelartenreichsten Gebiete Süd-Niedersachsens. Im gewässerarmen und stark bewirtschafteten Eichsfeld geht von den drei Feuchtgebieten Seeburger See, Lutteranger und Seeanger eine geradezu magnetische Anziehungskraft auf Vögel aus, die entweder den Harz als Barriere in nordöstlicher Richtung noch vor sich oder ihn gerade überquert haben. Mindestens 255 verschiedene Arten haben das Gebiet schon als Brut- oder Rastplatz aufgesucht. Eistaucher, Rallenreiher, Terekwasserläufer und Rötelschwalbe sind nur eine Auswahl der Highlights, die den Puls einiger Ornithologen in den letzten Jahren in die Höhe trieben.

Wei�storch am Seeanger. Foto: Fabian Bindrich
Abb. 1: Der Wiedervernässung des Seeangers verdankt Seeburg mit großer Sicherheit die Ansiedlung des Weißstorchs, der mit zwei Paaren in der Umgebung von Seeburg brütet. Die strukturarmen Feldfluren der Umgebung bieten der anspruchsvollen Art jedenfalls kaum Lebensraum. Foto: Fabian Bindrich

Seeburger See

Aalherpes, Muschelsterben und Algenblüte – diese Schlagworte kursierten in letzter Zeit über den Seeburger See in der Presse und vermittelten manch einem den Eindruck, Süd-Niedersachsens größtes natürliches Stillgewässer stehe kurz vor dem ökologischen Kollaps. Vor diesem düsteren Hintergrund wirken Opernaufführungen in Kombination mit der spendenheckenden Vermarktung als „Heinz Sielmanns Naturlandschaft“ als dekorative PR-Aktionen. Wie dramatisch die Situation tatsächlich ist, lässt sich vor dem Abschluss ökologischer Untersuchungen nicht sagen. Ein Blick in die landwirtschaftlich intensiv genutzte Umgebung, die nur ein schmaler Streifen Feuchtgrünland vom See trennt, zeigt jedoch, dass der Eintrag von Schad- und vor allem Nährstoffen in den See beträchtlich sein muss. Der Augenschein wird auch durch langjährige Messungen bestätigt, die einen bedenklich hohen Phosphat- und Nitratgehalt des Wassers belegen.

Abb. 2: Übersichtskarte für die Umgebung von Seeburg: 1 = Seeburger See; 2 = Seeanger; 3 = Lutteranger. Die roten Pfeile markieren geeignete Aussichtspunkte

Als Ausflugsziel ist der Seeburger See bei Erholungssuchenden aus der ganzen Region schon lange bekannt und dementsprechend gut erschlossen. Doch wurde in den vergangenen Jahren das Erholungsgebiet am Seeburger Ufer noch zusätzlich erweitert und umgestaltet, um den See auch überregional interessant zu machen. Restaurant, Campingplatz, Freibad und Bootsverleih erfüllen an vielen Wochenenden ihren Zweck und ziehen zahlreiche Besucher an.
Natürlich prägen diese nicht zu übersehenden Zeugnisse übermäßiger touristischer Nutzung das Erscheinungsbild. Dennoch sollte man sich als Vogelbeobachter von dem Rummel nicht abschrecken lassen. Wasserfläche und Schilfgürtel stehen schließlich unter Naturschutz und bieten so mancher Vogelart Brut- und Rastmöglichkeit. Vom Badesteg im Freibad, dessen Kiosk übrigens ausgezeichnete Pommes Frites im Angebot hat, und vom Seerundweg lassen sich Wasserfläche und Schilfgürtel gut einsehen und bieten hervorragende Beobachtungsmöglichkeiten.
Daher gilt trotz aller Einschränkungen und Störungen, sei es von Landwirtschaft oder Tourismus, für jeden ornithologisch Interessierten: Der Seeburger See hat einiges zu bieten!

Haubentaucher
Abb. 3: Der Haubentaucher ist charakteristischer Brutvogel des Sees und lässt sich – sofern die Wasserfläche nicht überfroren ist, ganzjährig beobachten. Foto: Volker Hesse.

Haubentaucher, Wasserralle und Teichrohrsänger haben in dem Schilfgürtel, der in den vergangenen Jahrzehnten deutlich an Breite gewonnen hat, ihren regionalen Verbreitungsschwerpunkt. Das Blaukehlchen ist seit 1998 alljährlicher Revierbesetzer mit zunehmender Tendenz (in den Schilfflächen unmittelbar am Restaurant-Parkplatz waren 2006 zwei Reviere besetzt). Während Schilf- und Drosselrohrsänger nur sporadisch Gesangsreviere besetzen, scheint der Rohrschwirl sich seit den letzten Jahren nicht mehr nur mit dem Status des Durchzüglers zufrieden geben zu wollen. Die Zwergdommel (bis in die 1960er Jahre Brutvogel) stellt mittlerweile eine echte Ausnahmeerscheinung dar, was man vom Nachtreiher, der einst ebenfalls in der Nähe des Sees gebrütet hat (1863), nicht mehr sagen kann. Seit 2000 verging kein Jahr, in dem nicht mindestens einer dieser charismatischen Vögel festgestellt wurde. Die Mehrzahl der Nachweise fällt dabei in den Monat Mai. Oft wurden die Vögel mit letztem Licht oder nur akustisch wahrgenommen. Eine abendliche Exkursion sollte also nicht mit Sonnenuntergang beendet sein…
Vor allem auf dem Heim-, aber auch – in etwas abgeschwächter Form – auf dem Wegzug sind neben den diversen Gründelentenarten (Pfeif-, Schnatter-, Krick-, Spieß-, Knäk- und Löffelente) vor allem zwei Spezialitäten des Seeburger Sees hervorzuheben: Zum einen können vor allem im April mit einiger Sicherheit Schwarzhalstaucher beobachtet werden. Die andere, wesentlich spektakulärere Spezialität sind Ende April und Anfang Mai Trupps von bis zu 80 Trauerseeschwalben, die in unnachahmlicher Eleganz über dem Wasser ihre Kreise ziehen. Unter ihnen können sich auch die anderen beiden Chlidonias- Arten verstecken, von denen zumindest die Weißbart-Seeschwalbe seit 2001 alljährlich nachgewiesen wurde. Zur Monatswende April-Mai stehen die Chancen nicht schlecht, auch auf Sterna-Seeschwalben zu stoßen. Fluss- und Küstenseeschwalbe können dann zumeist als Einzelvögel bei der Jagd über dem See bewundert werden. Raub-, Brand- und Zwergseeschwalbe sind wesentlich seltenere Gäste.
Wenn der Seeschwalbenzug gerade erst in Gang kommt, kulminieren bereits die Zahlen der Zwergmöwe, von der an guten Zugtagen schon bis zu 100 Vögel im Trupp gezählt wurden. Die im Frühjahr einige hundert Individuen umfassenden Lachmöwentrupps sollte man sorgfältig durchmustern, da sich unter ihnen neben einzelnen Sturmmöwen auch die eine oder andere Schwarzkopfmöwe verbergen kann. Herings-, Silber-, Mittelmeer- und Steppenmöwe sind zwar alljährliche, aber nur recht spärlich auftretende Gäste.
Hin und wieder sollte der aufmerksame Beobachter, auch wenn es noch so schwer fällt, den Blick von der Wasserfläche in den Luftraum schweifen lassen: Fischadler, Rohrweihe und Baumfalke ziehen durch oder brüten im Falle der beiden letzteren in der Umgebung.
Im Winterhalbjahr sind Gänsesäger die auffälligsten Vögel. In manchen Wintern halten sich mehr als 100 Individuen auf dem See auf. Zwergsäger sind zwar alljährlich anwesend, aber selten werden mehr als 10 Vögel gleichzeitig gesehen. Gleiches gilt für die Schellente. Ab November sollte man auf einzelne Seetaucher oder Meeresenten eingestellt sein, in deren Genuss man in den letzten Jahren leider immer seltener kommt. Dafür wurden an klaren Dezembertagen schon mehrfach bis zu drei Rohrdommeln beim Sonnenbad entdeckt. Es empfiehlt sich also, den Schilfrand genauestens abzusuchen, um einen der exzellent getarnten Vögel zu finden.
Wie man sieht, lohnt sich eine Exkursion an den Seeburger See zu jeder Jahreszeit. Bei längeren Frostperioden friert er recht schnell zu. Dann kann man sich das Benzingeld sparen und mit dem Fahrrad den Göttinger Süden erkunden.

Beobachtungstipp: Der Seeburger See wird fast das ganze Jahr über von Booten aus beangelt. Besonders Seetaucher scheinen diesbezüglich sehr sensibel zu sein. Man sollte daher zur entsprechenden Zeit im November und Dezember möglichst früh morgens vor den ersten Anglern am See sein.
Aufgrund der recht großen Wasserfläche (95 ha) ist ein Spektiv sehr empfehlenswert.

Seeanger

Im Juli 2002 wurden vom Landkreis Göttingen 105 Hektar intensiv beweidetes Grünland renaturiert. Die später den Seeburger See durchfließende Aue wurde wieder in ihren annähernd ursprünglichen Verlauf gebracht und auf etwa fünf Hektar Fläche gestaut. Die so entstandenen Wasserflächen sollen auch als Sedimentfalle dienen und der Verlandung des Seeburger Sees entgegenwirken. Die Resultate übertrafen alle ornithologischen Erwartungen!

Blick auf den Seeanger
Abb. 4: Die überstauten Flächen des Seeangers lassen sich von den Wegen am und auf dem Steinberg mit einem Spektiv gut einsehen. Foto: Nikola Vagt

Sofort wurden Limikolen magisch von den staunassen Wiesen angezogen. 29 Arten dieser Vogelfamilie wurden seitdem nachgewiesen, darunter neben einigen regionalen Seltenheiten Arten wie Austernfischer, Säbelschnäbler und Steinwälzer auch echte Raritäten wie Graubrust-Strandläufer und Terekwasserläufer. Regulär rastende Arten haben schon beachtliche Zahlen erreicht: 30 Temminckstrandläufer, 150 Bruch– und mehr als 40 Dunkle Wasserläufer sind für süd-niedersächsische Verhältnisse rekordverdächtig.

Graubrustrtandläufer am Seeannger im August 2003. Foto: Fabian Bindrich
Abb. 5: Neben den regelmäßig durchziehenden Watvögeln verschlägt es auch immer wieder seltenere Durchzügler an den Seeanger: Ein Graubrust-Strandläufer erfreute im August 2004 zahlreiche Beobachter. Foto: Fabian Bindrich

Noch erfreulicher haben sich aber die Brutvogelbestände entwickelt. Der in den Landkreisen Göttingen und Northeim als Brutvogel seltene Zwergtaucher hat sich mit zwei Paaren angesiedelt. Seit 2003 profitiert auch der Weißstorch vom großen Nahrungsangebot im Seeanger, das 2006 auch einem zweiten Paar eine erfolgreiche Brut ermöglichte.
Schnatter-, Krick-, Knäk- und Löffelente besetzen alljährlich Reviere. Leider konnte bisher bei keiner dieser Arten ein Brutnachweis erbracht werden. Reiherenten-Weibchen ließen sich dagegen schon mehrfach mit ihrem Nachwuchs blicken. Angesichts der spärlichen regionalen Verbreitung ist das im Seeanger fast schon kolonieartig brütende Blässhuhn eine echte Bereicherung. Während sich Wasserrallen mit bis zu zwei Paaren etabliert haben, ist die Revierbesetzung des Tüpfelsumpfhuhns im Jahr 2004 bislang einmalig geblieben. Von den klassischen Wiesenbrütern haben sich Kiebitz und Bekassine zum Brüten niedergelassen. Braun- und Schwarzkehlchen wurden dagegen leider nur zu Zugzeiten festgestellt, obwohl geeignete Habitate vorhanden sind.
Die Renaturierung des Seeangers hat sich als voller Erfolg erwiesen. Nicht nur die Vielzahl der Arten, sondern auch die gute Zugänglichkeit lassen das Beobachterherz höher schlagen. Von einem asphaltiertem Wirtschaftsweg, der in etwa 100 Meter Entfernung parallel zu den überstauten Flächen verläuft, kann das Gebiet vortrefflich eingesehen werden, ohne dabei zu stören.

Beobachtungstipp: Auch hier ist ein Spektiv von Vorteil.

Lutteranger

Nur einen Steinwurf in nördlicher Richtung vom Seeburger See entfernt liegt der Lutteranger. Nach der Einstellung des Torfabbaus zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde das Gebiet mit Schwarzerlen, Pappeln und Fichten aufgeforstet. Im Jahr 1989 erfolgte im Rahmen einer Naturschutzmaßnahme die Wiedervernässung. Sofort siedelten sich Graugans, Reiherente und Tafelente als Brutvögel an, von denen sich aber nur die Graugans gehalten hat. Die eigentliche Attraktion ist jedoch eine andere: Lachmöwen finden auf den etwas gespenstisch anmutenden Baumstümpfen im Wasser geeignete Nistmöglichkeiten. Bis zu 150 Paare umfasste diese einzige Kolonie in Südniedersachsen. Leider ist seit drei Jahren ein starker Rückgang zu konstatieren, für den vermutlich mehrere Faktoren verantwortlich sind. Eine wesentliche Ursache könnte die Schließung einer ca. 10 km entfernten Mülldeponie sein, die von den Vögeln zur Nahrungssuche angeflogen wurde. Aber auch das Eindringen von Prädatoren und der allgemeine Verlust von Offenflächen (Grünland und Sommergetreide) könnten den Schwund der Brutpaarzahlen bewirkt haben. Es steht zu befürchten, dass die Lachmöwe als Brutvogel in den nächsten Jahren aus der Region verschwindet.
Ein Besuch kann aber auch sonst recht ergiebig sein. Rastende Fischadler nutzen die toten Bäume als Kröpfplatz, und Silberreiher sind alljährliche Gäste vor allem im Oktober. Man sollte sich zum Beobachten jedoch etwas Zeit nehmen, da die Vögel zwischen den im Wasser vor sich hin faulenden Baumstümpfen leicht zu übersehen sind. Gerade hier muss man immer daran denken: Oft steckt mehr drin, als man glaubt!

Blick in die Umgebung

Nordöstlich des Seeburger Sees zwischen den Ortschaften Wollbrandshausen und Gieboldehausen zerschneidet die B 27 eine ausgeräumte Agrarsteppe. Besonders in den Monaten Februar/März und August bis Oktober rasten hier Kiebitze in nicht geringer Zahl. Dazwischen können auch immer wieder Goldregenpfeifer und einzelne Kampfläufer entdeckt werden. Auch zur Beobachtung von Greifvögeln kann ein Abstecher recht lohnend sein: Neben Mäusebussarden und Turmfalken nutzen Rohrweihen, Rotmilane und Baumfalken die Feldmark zur Jagd. Auch Kornweihe und Merlin beehrten das Gebiet schon. Dass man vor erfreulichen Überraschungen nicht sicher ist, belegen die Nachweise eines jungen Rotfußfalken (2001) und einer adulten Falkenraubmöwe (2006).

C. Grüneberg