Hilfe, mein See hat Fieber!

Kommentar. Seit der grausamen Niederwerfung aufständischer Bauern vor fast 500 Jahren lastet auf dem Eichsfeld ein dumpfes Brüten. Sicher: Veränderungen gibt es selbst hier. Die Omnipotenz des Mainzer Erzbischofs hat dem alles beherrschenden Einfluss eines global operierenden Unternehmers im Prothesengewerbe Platz gemacht. Die Menschen dürfen zur Wahl gehen, wissen aber in der Regel schon von Geburt an, welcher Partei sie ihre Stimme zu geben haben.

Untergangsstimmung am Seeburger See
Abb.: Untergangsstimmung am Seeburger See?

Ab und an wird die Stille des abgeschiedenen Landstrichs durchbrochen – beispielsweise durch den spektakulären Fund eines Kiwiblatts in Duderstadt, das den Umriss einer betenden Mutter Gottes erahnen lässt oder während einer mediokren Opernaufführung an den Gestaden des Seeburger Sees, nicht zu vergessen der fulminante Auftritt einer reifen Ex-DDR-Eisprinzessin, bei dem die Duderstädter Fußgängerzone in ein schlüpfriges Parkett verwandelt wurde. Die Menschen arbeiten fleißig und nehmen in der Hoffnung auf ein besseres Leben im Jenseits unverdrossen die Dienstleistungen eines segensmächtigen Weltkonzerns in Anspruch, der sie mit gutgeölten Homilien bei Laune hält.

Seit dem Sommer 2006 ist alles anders. Das Eichsfeld befindet sich in einer Art offenem Aufruhr. In selbstbewusster, fast schon vermessener Anlehnung an die machtvollen Leipziger Montagsdemonstrationen versammeln sich besorgte Bürger auf dem großen Badesteg des Seeburger Sees. Parolen wie „Kommt die D-Mark, bleiben wir, kommt sie nicht, geh’n wir zu ihr“, die damals den Drang zur nationalen Einheit besonders pointiert zum Ausdruck brachten, hört man von den Manifestanten aber nicht. Eigentlich hört man von ihnen überhaupt nichts, denn es sind stille Mahnwachen, die sie drei Fußbreit über der Wasserfläche zelebrieren.

Das öffentliche Auftreten einer Menschengruppe wirft immer Fragen auf, darunter natürlich als erste diejenige nach dem Sinn und Zweck der Aktion. Da wird es allerdings ein wenig kompliziert. Aus Presseberichten lässt sich zwar entnehmen, dass es irgendwie um die Zukunft des Seeburger Sees geht, der von Erwärmung, Algenblüte und einem Muschel- und Aalsterben gebeutelt wird. Aber gegen wen oder was richtet sich der Protest eigentlich? Im späten Frühjahr war es noch der renaturierte Seeanger, dessen Erwärmung für den miserablen ökologischen Zustand des Sees verantwortlich gemacht wurde – eine substanzlose Mutmaßung, die nach einer Bürgerinformation mit Experten am 18.07. in Bernshausen als klar widerlegt gelten kann. Gegen die industrielle Landwirtschaft, die mit ihren Phosphat- und Nitrateinträgen das Gewässer seit Jahrzehnten übermäßig belastet, wie auf derselben Veranstaltung mit harten Messwerten belegt wurde? Nein, „die Landwirtschaft kann nicht der Grund sein“, wird am 09.08. im „Göttinger Tageblatt“ der Hauptmatador des Unmuts zitiert, ein Bio-Landwirt, der in der Hitze seiner Mission offenkundig jede Distanz zum konventionellen Wirtschaften seiner Kollegen über Bord geworfen hat. Gegen das Restaurant „Graf Isang“, über dessen Küche man vieles sagen kann, aber eines gewiss nicht: dass dort massenhaft Algen wuchern, die auf verborgenen Pfaden in den See gelangen? Die ungefähr 400 tot gefundenen Aale – die nur einen winzigen Bruchteil der von Sportanglern ausgesetzten Artgenossen ausmachen, weshalb diese Interessengruppe ziemlich gelassen bleibt – sind erwiesenermaßen an einem spezifischen Herpesvirus verendet. Richtet sich der Protest etwa gegen das Virus oder gar gegen einen unheimlichen Aalküsser? Oder gegen die allgemeine Klimaerwärmung mit Rekordtemperaturen im Sommer 2006? Man weiß es nicht. Ahnt aber, dass eine Stimmung am Köcheln gehalten werden soll, die allem, was der Naturschutz erreicht hat und für die Zukunft plant, abträglich ist – und das ist, wenn man den Seeanger mit seiner artenreichen Brut- und Rastvogelfauna betrachtet, eine ganze Menge.

Damit schließt sich der Kreis. Das heroische Jahrzehnt charismatischer Bauernführer ist ferne Geschichte. Das Aufbegehren heute ist ungerichtet und diffus. Womöglich wird es vermehrt von Quellen gespeist, die noch trüber sind als das veralgte Seewasser. Mit dem irrlichternden Schmerzensmann, der die schwere Verantwortung für den See auf sich geladen hat und den Protest – wohin auch immer – dirigiert, kann man es eigentlich nur gut meinen. Ihm ist anzuraten, sich vordringlich an dem Weißstorch-Paar zu erfreuen, das sich nach der Wiedervernässung des Seeangers auf seinem Hof zum Brüten eingefunden hat. Dem medienwirksamen Schwadronieren über ökologische Probleme sollte er in Zukunft entsagen. Andernfalls steht zu befürchten, dass der Badesteg irgendwann unter dem Gewicht seiner Spekulationen zusammenkracht. Und das wäre für alle, die Vogelkundler eingeschlossen, ein ziemliches Horrorszenario.

H. H. Dörrie