Der Winter 2009/2010 oder: Wenn Niedersachsens südlicher Zipfel zum Eiszapfen gefriert

Der Januar 2010 war der wärmste oder zweitwärmste seit Beginn meteorologischer Aufzeichnungen (WetterOnline-Forum vom 5.2.). Wie bitte? Durchgeknallt, oder was? Von wegen: Global betrachtet trifft diese für unsere Breiten grotesk anmutende Aussage durchaus zu. Das pazifische Wetterphänomen “El Niño” drückte sich in einer starken Erwärmung des Meerwassers aus, während sich gleichzeitig als Antipode ein zähes Kältetief über dem Nordatlantik festsetzte. Auf der südlichen Halbkugel war es mithin viel zu warm, auf der nördlichen dagegen saukalt. Wenn man die extremen Temperaturunterschiede zum Jahresbeginn 2010 wie in einem Cocktailschwenker schüttelt (oder verrührt, das ist in diesem Fall egal!), kommt als Ergebnis ein Global-Durchschnittswert heraus, der über dem langjährigen Mittel liegt. Alles klar? Hauptsache ist, dass medienwirksam haften bleibt: wieder mal zu warm!

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Abb. 1: Sumpfohreule am Seeanger: Foto. W. Kühn

Global? Egal! In Deutschland und Süd-Niedersachsen hatten Mensch und Vogel unter dem härtesten und längsten Winter seit (mindestens) 25 Jahren zu leiden. Ab Mitte Dezember 2009 folgte eine Kältewelle der anderen, mit Nachtfrösten von bis zu – 18°C und ungewöhnlich heftigen Schneefällen. In der dritten Februardekade setzte kurzzeitig Tauwetter ein, das jedoch bald wieder von Schneefällen und Frosttagen abgelöst wurde. Erst Mitte März, beim Schreiben dieser Zeilen, büßte der Winter seine Vitalität ein.
Im kollektiven Gedächtnis der regionalen Vogelbeobachter wird der Winter 2009/2010 sicher seine Spuren hinterlassen, weil er etliche interessante Arten und ungewöhnliche Vogelansammlungen ins süd-niedersächsische Bergland brachte. Ob dies die Vögel ebenso begeistert hat wie ihre Bewunderer, darf bezweifelt werden…

Die Zahlen von Höckerschwan und Singschwan lagen in der Leineniederung zwischen Northeim und Einbeck über dem Durchschnitt der vergangenen Winter, aber nicht so sehr, wie dies angesichts der harschen Wetterverhältnisse zu erwarten war. Die erstgenannte Art trat mit maximal ca. 80 Ind. (darunter ein im Winter 2008 in Schlesien/Slansk beringter polnischer Vogel) in Erscheinung, die zweite mit maximal 26 Ind. am 27.2. und 24 Ind. (darunter nur vier Jungvögel) am 13.3. Regional ungewöhnlich waren drei in der Rhumeaue und am Seeanger überwinternde Altvögel sowie eine Gruppe von sechs ad. und drei vorj. Ind. in der Feldmark Reinshof südlich von Göttingen am 5.2., die aber später nicht mehr aufzufinden war.

Eine Ringelgans legte am 20.2. nahe der Geschiebesperre Hollenstedt offenbar nur einen kurzen Zwischenstop ein. Am 2.3. ließ sich Göttingens erste Kanadagans auf dem Kiessee nieder, wenig später wurden am gleichen Tag an der bereits knapp im Landkreis liegenden Siekhöhenallee drei weitere Ind. entdeckt, denen sich ab dem 11.3. eine Weißwangengans anschloss. Diese verpaarte sich kurz darauf am Kiessee mit einer Graugans.

Ab Januar erfolgte ein spektakulärer Einflug länger verweilender Tundrasaatgänse mit bis zu 2500 Ind., die wegen der hohen Schneelage in Nordostdeutschland gezwungen waren nach Westen auszuweichen. Die Vögel verhielten sich auffallend unruhig und scheu und zeigten damit an, dass sie aus Gegenden geflohen waren, in denen sie alljährlich dem anachronistischen Freizeitspaß einer materiell gut gestellten, aber in nahezu jeder anderen Hinsicht minderbemittelten Minderheit zum Opfer fallen. Malta ist überall! Zum ihrem Glück hielt sich das blutige Treiben im Raum Northeim in diesem Jahr in Grenzen.

Unter den großen Saatgansscharen wurde nur eine Waldsaatgans am 16.2. an der Geschiebesperre Hollenstedt sicher identifiziert. Waldsaatgänse sind graugansgroß mit einem langen gelben Schnabel und erinnern im “jizz” fast schon an eine Schwanengans. Wegen Unkenntnis der Variationsbreite bei Körpergröße und Schnabelfärbung von Tundrasaatgänsen kommt es aber immer wieder zu Fehlbestimmungen. Ende Februar bedeckten, beispiellos für Niedersachsen, 4800 Ind. dieses im Bestand hochgradig gefährdeten Taxons die Aller- und Leineniederung um Rethem (vgl. aller-voegel.de).
Die nicht ganz so winterharte und zudem Grünland bevorzugende Blässgans war mit ca. 400-600 Ind. in unserer Region spärlicher vertreten. Die Hauptmasse der Vögel war nach Südwesteuropa ausgewichen, wo sie bereits sehnsüchtig von einer riesigen Armada schussbereiter Gourmets erwartet wurden. Bis zu 1500 Graugänse erhöhten die Gesamtzahl der Wintergäste aus der Anser-Familie auf ca. 4500 Vögel, die der winterlichen Szenerie in der Leineniederung mit ihren lautstarken Formationen einen ganz besonderen Stempel aufprägten – fast wie am Niederrhein oder in Holland!

Eine Samtente stattete der Geschiebesperre Hollenstedt am 6.1. einen kurzen Besuch ab.

Wie in den letzten Jahren waren Gänsesäger dabei, am Göttinger Kiessee eine kopfstarke Winterpopulation aufzubauen; sie kamen bis Mitte Dezember auf maximal 22 Ind., bis ihnen der erste Kälteeinbruch einen Strich durch die Rechnung machte. Im Hochwinter bevölkerten ca. 15 Ind. die Göttinger Leine. Ungewöhnlicherweise traten sie als Einzelvögel oder paarweise auch auf dem Leinekanal in der Innenstadt und sogar am winzigen, nur knapp einen Hektar großen Quellgebiet der Weende im gleichnamigen Ortsteil in Erscheinung. Der Hunger war sehr groß… Während der Tauperiode fanden sich die mobilen Vögel am 27.2. wieder am Kiessee mit beeindruckenden 62 Ind. ein. Ein weiblicher Mittelsäger blieb am 19.12. am Surfsee der Northeimer Kiesteiche nicht unentdeckt.

Der Bestand des Rebhuhns hat im Landkreis Göttingen winterbedingte Einbußen erlitten. Im 90 km² großen Untersuchungsgebiet östlich der Leine, das seit 2006 auf 104 Transekten unter Einsatz von Klangattrappen kartiert wird, fiel der Bestand mit 213 revieranzeigenden Männchen gegenüber dem vorigen Frühjahr (274 Männchen) um ca. 20 Prozent niedriger aus. Der prozentuale Rückgang ist jedoch nicht identisch mit der Rate der Wintermortalität, die vermutlich erheblich höher lag als 20 Prozent. Weil der Bruterfolg im Vorjahr bzw. die Gesamtzahl der Individuen zum Herbst 2009 unbekannt war, kann sie nicht genauer beziffert werden. Niedrige Temperaturen, ungewöhnliche Höhe und Verharschen des Schnees haben den Vögeln sicher zu schaffen gemacht, entscheidend war jedoch, dass sie zum Schutz und zum Schlafen verstärkt Hecken und andere Randlinienstrukturen aufsuchen mussten, wo sie zur leichten Beute von Prädatoren wurden. Von 30 im Vorjahr besenderten Ind. (vgl. im Internet unter Rebhuhnschutzprojekt.de) konnten nur zwei lebend relokalisiert werden. 16 unverdauliche Sender, z.T. noch mit anhaftenden Federn, wurden gefunden, bei den übrigen Vögeln ist unklar, ob sie tot, wegen Senderausfall verschollen oder abgewandert sind. Gleichwohl bleibt festzuhalten, dass das Rebhuhn den Winter besser überstanden hat als befürchtet. Welche Rolle dabei die weitgehende Einstellung der Bejagung und die ca. 500 Hektar Blühstreifen, die zum Schutz der Art im Landkreis Göttingen angelegt wurden, im einzelnen gespielt haben, muss vorerst offen bleiben.

Im Dezember stieg die Zahl der Kormorane am Göttinger Kiessee auf ungefähr 60 Vögel. Nach dessen Zufrieren wichen sie auf die Leine aus, wo das Nahrungsangebot allerdings bald knapp wurde bzw. schwerer zu erreichen war. Der Göttinger Mittwinterbestand lag bei ca. 20 Ind. Auch der “Vogel des Jahres 2010″ trat mit Einzelvögeln oder in kleinen Gruppen von bis zu fünf Ind. auf dem Leinekanal und am Weendespring in Erscheinung. Ziemlich aus dem Rahmen fallend waren bis zu 95 Ind., die im Februar über mehrere Tage in der Pappelanpflanzung am Seeanger saßen. Sie gingen aber nicht nur an der zum “Pfuhl” angestauten Aue, sondern auch an der Rhume auf Jagd. Weil sie dort “letal vergrämt” (= geschossen) werden, kamen ihnen die Pappeln im ca. sieben bis acht Kilometer entfernten Seeanger als Ruhezone und Schlafplatz gerade recht.

Ende Februar hielt sich an der Geschiebesperre Hollenstedt für mehrere Tage eine überwinternde Rohrdommel auf. Ob sie identisch mit dem am 15.2. am Seeanger beobachteten Ind. war, muss offenbleiben.

Der regionale Hochwinterbestand des Silberreihers war, wen wundert’s, kleiner als mittlerweile üblich und dürfte nicht mehr als ca. 15 Ind. betragen haben. Zudem suchten die Vögel vermehrt kleine Flüsse und Bäche wie z.B. die Schwülme bei Lödingsen auf, wo sie den auf wenige Top-Gebiete konzentrierten Feldornithologen entgingen. Insofern ist die oben angeführte Zahl mit Vorsicht aufzunehmen. Vom Seeanger liegt ein Totfund (Rupfung) vor.

Das standortfeste Salzderheldener Brutpaar des Weißstorchs wurde im Hochwinter nicht mehr gesehen, tauchte aber Ende Februar wieder auf und brütet bereits wieder. Das Seeanger-Paar war wenig später am 1.3. zurück. Wer weiß, wo diese Vögel, die mit hoher Wahrscheinlichkeit Nachfahren “ausgewilderter” Projektstörche sind, sich haben durchfüttern lassen: War es im Mannheimer Industriehafen oder gar am Ufer des Bodensees, der Heimat eines ihrer größten Fans? Wie auch immer: Mit einer Aktion “Return to Sender” käme man auch nicht weiter, dafür sind es bundesweit schon zu viele.

Es wurden nur sehr wenige Kornweihen gemeldet. Aus der sogenannten “Normallandschaft” (öde Feldfluren) liegt überhaupt kein Nachweis vor. Am Seeanger und im Leinepolder Salzderhelden hielten sich insgesamt nur ca. drei bis fünf Ind. auf, und auch das in der Regel nur kurz. Dies erscheint seltsam, weil der harte Winter sie “eigentlich” in Massen aus ihren Überwinterungsgebieten in Nordostdeutschland (auch) in unsere Region hätte drücken müssen.
Das Beispiel dieser Greifvogelart zeigt, dass Wintereinflüge offenkundig ihren eigenen Gesetzen folgen, die bislang wenig erforscht sind. Zudem können sie bei jeder der betroffenen Vogelarten, ja sogar bei einzelnen Teilpopulationen dieser Arten, unterschiedliche Ursachen haben. Für plakative Pauschalaussagen und vollmundige Prognosen ist da wenig Raum. Diese luzide Erkenntnis wird auch dadurch bekräftigt, dass ein bemerkenswerter Aspekt des extrem schneereichen Winters 1978/1979 keine Wiederholung erfuhr: Damals flogen zahlreiche Merline ein, die in ländlichen Ortsrandlagen überwinternde Ohrenlerchen und Berghänflinge erbeuteten. Alle drei, Jäger und Gejagte, blieben aus, wobei das Fehlen der beiden Sperlingsvögel, die in den vergangenen 20 Jahren entweder gar nicht mehr (Ohrenlerche) oder nur noch als Ausnahmeerscheinung (Berghänfling) beobachtet werden konnten, wenig überraschte.

Mitte Januar hielt sich ein nahezu adulter Seeadler für einige Tage an der Geschiebesperre Hollenstedt und im Leinepolder Salzderhelden auf. Längere Verweildauer und Alter des Vogels waren für die Region ungewöhnlich.

Anders als die Kornweihe trat der Rauhfußbussard ab Anfang Februar in Zahlen auf, die für unsere Region beispiellos sind. Im Leinepolder Salzderhelden konnten gleichzeitig bis zu sechs bestaunt werden, am Seeanger bis zu drei. In der Feldmark Geismar-Süd und am Diemardener Berg lieferten zwei Ind. den Erstnachweis für das Göttinger Stadtgebiet. Interessanterweise waren es nicht immer dieselben Vögel, die ins Blickfeld gerieten. Geschlechterverhältnis und individuelle Färbung ließen den Schluss zu, dass sie oftmals nur kurzzeitig präsent waren, abzogen und durch Nachrücker ersetzt wurden. Deshalb könnte ihre Gesamtzahl, vorsichtig geschätzt, durchaus bei 20 Ind. (!) gelegen haben. Sicher ist hingegen, dass der Anteil vorj. Ind. mit ganzen zwei äußerst gering war, was zwar mit dem Einflug nichts zu tun hat, aber auf einen schlechten Bruterfolg der (unbekannten, nicht zwangsläufig in Fennoskandien siedelnden) Herkunftspopulationen deutet. Eine Dokumentation des Einflugs, der von einigen Regionalavifaunisten dankenswerterweise zum Anlass genommen wurde, sich mit diesem traditionell eher seltenen Wintergast genauer zu befassen, ist in Vorbereitung.

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Abb. 2+3: Am aktuellen Einflug von Raufußbussarden waren vor allem Altvögel beteiligt. Oben adultes Weibchen (Foto: V. Hesse), unten adultes Männchen (Foto: M. Siebner), beide Vögel bei Seeburg.

Die erste Heimzugwelle des Kranichs konnte über Göttingen vom 20. bis 24. Februar mit ca. 3000 Ind. registriert werden, d.h. in einer ganz normalen Zeitspanne, die nicht wesentlich von den vergangenen Jahren abwich. Alles andere als normal war hingegen, dass große Teile Nordostdeutschlands noch von einer hohen Schneedecke bedeckt waren. Wer nun prophezeit hatte, dass die tollkühn anmutende Heimkehr in einem spektakulären Umkehrzug enden würde, sah sich getäuscht: Irgendwie kamen die hartgesottenen Vögel zurecht und blieben vor Ort. In der zweiten Märzdekade zog eine zweite, weitaus machtvollere Kranichwelle übers Land. In der Nacht zum 16.3. gerieten die Vögel in eine Regenfront, die sie zum Landen zwang. Im Seeanger rasteten sie für eine Nacht in vierstelliger Zahl.

Für eine weitere Attraktion sorgten Großtrappen auf Winterflucht. Am 31.1. flog einer dieser Riesenvögel über den Polder II nach Südwesten. Er konnte aber von den herbeigeeilten Beobachtern in der weiteren Umgebung nicht dingfest gemacht werden. Ab dem 15.2. hielten sich drei Weibchen auf einem Rapsfeld in Hanglage (!) oberhalb der Rhumeaue zwischen Gieboldehausen und Rüdershausen auf, wo sie von Jägern entdeckt wurden. Am 25.2., als es kurzfristig milder wurde, zogen sie wieder ab. Alle drei waren beringt, eine trug zusätzlich einen Sender um den Hals. Sie entstammten den Jahrgängen 2003 und 2009 des Brandenburger Trappenschutzprojekts. Ihre individuelle Lebensgeschichte ist für Menschen, die Vögel als Symbole der Freiheit schätzen, eher ernüchternd (im Brutkasten geschlüpft, nahe dem monströsen Freizeithangar “Tropical Island” eingefangen und in die Belziger Landschaftswiesen zurücktransportiert etc.). Aber: beeindruckend war ihr Anblick schon! Den Schlusspunkt des Einflugs setzte ein (vermutliches) Männchen, das am 19.3. über den Steinberg am Seeburger See zielstrebig nach Nordosten zog.

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Abb. 4: Großtrappen zwischen Gieboldehausen und Rüdershausen Foto: G. Schönekeß

Die mehrtägige Erwärmung mit Tauwetter in der dritten Februardekade ließ sogleich die üblichen frühen Heimkehrer auf den Plan treten, unter ihnen 7170 Kiebitze, die am 27.2. die Leineniederung zwischen Northeim und Einbeck bevölkerten. Unter ihnen befanden sich, in Trupps von bis zu 30 Ind. auch die ersten Goldregenpfeifer.

Zwergschnepfen konnten sich am 13.12. an der Rosdorfer Südostumfahrung, am 7.3. an der Geschiebesperre Hollenstedt und am 13.3. in der Sandgrube Meensen den Blicken der Beobachter nicht entziehen.

An der Geschiebesperre gelang ein bis zwei Waldwasserläufern die erfolgreiche Überwinterung – trotz härtester Bedingungen, die sich u.a. im Zufrieren aller Flachwasser- und ufernahen Bereiche manifestierten.

Wie bei den Großtrappen hatte auch die Beobachtung einer vorjährigen Dreizehenmöwe am 1.3. im Leinepolder Salzderhelden einen unfrohen Beigeschmack. Der Hochseevogel wurde nämlich vom Orkantief “Xynthia” ins tiefe Binnenland geblasen, das er hoffentlich bald wieder in Richtung Küste verlassen konnte.

Vorjährig war auch eine Mittelmeermöwe, die ab Ende Februar bis Mitte März den Leinepolder mit ihrer Anwesenheit schmückte. Dagegen ließ sich ein Altvogel der nah verwandten Steppenmöwe nur für einen Tag, am 3.1., an den Northeimer Kiesteichen blicken.

Winterliche, ab Ende Dezember über Wochen besetzte Schlaf- und Sammelplätze der Waldohreule wurden vom Senderviertel in Göttingen-Nikolausberg und vom Ortsrand Tiftlingerode mit jeweils bis zu zwölf Ind. bekannt. Interessanterweise liegt von dieser empfindlichen Art nur ein einziger Totfund vor, und zwar vom Göttinger Kiessee.

Neben nordischen Gänsen, Rauhfußbussarden und Großtrappen sorgten Sumpfohreulen dafür, dass der Winter 2009/2010 bei vielen einen unauslöschlichen Eindruck hinterlassen hat. Nach einem Einzelvogel am 3.1. im Leinepolder traten ab Ende Januar bis Ende Februar am Ortsrand von Seeburg bis zu fünf (!) von ihnen in Erscheinung, die einen für die Region beispiellosen Einflug anzeigten. Die Vögel gingen mit Vorliebe am Steinberg auf die Jagd nach Mäusen und vielleicht auch Kleinvögeln, mitunter auch in Seeburg selbst, wo sie sich ab und an auf den Einfriedungen der Hausgärten und auf Gebäuden niederließen. Offenkundig kamen sie gut über die Runden, denn es konnten auch angedeutete Balzflüge beobachtet werden. Mitte Februar hielt sich ein Ind. für einige Tage in der Feldmark Geismar-Süd und am Diemardener Berg auf. Die wirkliche Zahl der regionalen Überwinterer wird man wohl nie erfahren…

Der regionale Bestand des Eisvogels wurde bereits im letzten Winter dezimiert. Von den Zuwanderern, die sich ab Juli 2009 blicken ließen, sind vermutlich die meisten den späteren Kältewellen, die praktisch alle Stillgewässer zufrieren ließen, zum Opfer gefallen. Im Kiessee-Leinegebiet fehlte die Art bereits nach dem 10. Januar. Auch an der Geschiebesperre Hollenstedt und an den Northeimer Kiesteichen gelangen ab Mitte Januar keine Beobachtungen mehr. Aber: Am bereits erwähnten Weendespring in Göttingen konnte ein glücklicher Einzelvogel bis in den März überdauern! In Mingerode sorgte ein Eisvogelfreund, der einen kleinen Teich offenhielt und mit Fischen bestückte, dafür, dass ein Paar überlebte. Jetzt heißt es für sie: Bruthöhle bauen und drei- bis viermal hintereinander (oder verschachtelt) brüten. Fische gibt es in unseren nährstoffreichen Gewässern mehr als genug!

Der Ausnahmewinter hielt ein weiteres Phänomen parat, das für das klimatisch eher benachteiligte süd-niedersächsische Bergland erstaunlich ist: Offenkundig hat der Grünspecht, der als spezialisierter Ameisenjäger von kalten und vor allem schneereichen Wintern wie diesem normalerweise besonders hart getroffen wird, keine übermäßig großen Verluste erlitten. Eine Umfrage bei den Nutzern der regionalen Newsgroup avigoe.de ergab, dass in allen bekannten Revieren in Göttingen und Umgebung sein irres Lachen nach wie vor zu hören ist. Eine mögliche Erklärung dafür ist so banal wie naheliegend: Regionaler Brutbestand und Verbreitungsareal dieses (zumindest akustisch) auffälligen Spechts haben in der Vergangenheit deutlich zugenommen, deshalb könnte ein Schwund von, sagen wir mal, 50 Prozent sich weniger bemerkbar machen als bei einer kleinen, auf wenige Lokalitäten beschränkten Population. Es könnte aber auch sein, dass der Grünspecht sich neue, auch im Winter gut erreichbare Nahrungsquellen erschlossen hat. An Futterstellen taucht er aber, im Unterschied zu Bunt-, Grau- und manchmal Mittelspecht, nur sehr selten auf, auch in diesem extremen Winter. Woran also liegt es? Die Beantwortung dieser Frage ist ein spannendes Thema, das Aufmerksamkeit verdient.

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Abb. 5: Freiflächen mit Ameisen sind sein Lebenselixier: Grünspecht. Foto: W. Kühn

Immerhin vier Raubwürger haben in der Region überwintert, je einer an den Golfplätzen bei Brochthausen und Levershausen sowie zwei im Leinepolder Salzderhelden.
Bemerkenswert, weil nicht alljährlich und zudem nur (noch) als Einzelvogel auftretend, ist eine Nebelkrähe, die sich Mitte Februar für einige Tage in der Feldmark Geismar-Süd aufhielt.

Am 24.2., also in der bereits öfter erwähnten kurzen Tauwetterphase, fand in der Feldmark zwischen Wollbrandshausen und Gieboldehausen ein Massenzug von Feldlerchen statt, dessen Dimensionen selbst in Jahrzehnten gereifte Beobachter beeindruckten: Die Lerchen bedeckten mit 12.000 bis 13.000 (!) Ind. die angetauten Äcker oder flogen über ihnen umher. Dies war umso bemerkenswerter, da praktisch auch ganz Westeuropa unter einer Schneedecke lag. Die Vögel müssen also in sehr kurzer Zeit den weiten Weg von schneearmen oder -freien Gebieten in Südwestfrankreich oder Nordspanien zurückgelegt haben. In der Feldmark beim Gut Wickershausen gelang fünf von ihnen die Überwinterung.

So kalt und lang der Winter war, so arm war er auch an Seidenschwänzen, die bis dato in ihrer Hochburg Göttingen in außergewöhnlich niedriger Zahl in Erscheinung getreten sind. Zudem pendelten sie, wie ihr Entdecker launig enthüllte, ziellos zwischen Rotlichtmilieu und Strafvollzug: Am 10.2. wurden 45 Ind. nahe dem Bordell in der Güterbahnhofstraße und am 11.2. 40 Ind. an der ehemaligen JVA am Waageplatz gesichtet. Vermutlich war es an beiden Tagen derselbe Trupp. Offenkundig stand den Vögeln in oder nahe ihren Brutgebieten ein gutes Beerenangebot zur Verfügung, das ihnen das Ausweichen in südliche Gefilde ersparte – Minustemperaturen stecken die harten Vögel ohnehin locker weg.

Die Winterverluste der ganzjährig insektenfressenden und daher empfindlichen Schwanzmeise sind schwer zu quantifizieren. Bis Mitte Januar hielten sie sich im Kiessee-Leinegebiet recht wacker, mit Trupps von bis zu 15 Ind., die, obschon teils weißköpfig, alle der mitteleuropäischen Unterart angehörten. Weil die frühbrütenden Federbällchen bereits ab Mitte Februar überwiegend paarweise auftreten und sich heimlicher verhalten, muss offen bleiben, wie viele von ihnen den Winter nicht überlebt haben.

Der erste Zilpzalp des Jahres wurde (erst) am 16.3. am Göttinger Kiessee gesehen und damit ca. 10 Tage später als im Mittel der vergangenen Jahre.

Besonders hart hat der Winter den Zaunkönig getroffen. Im Kiessee-Leinegebiet und am Wendebachstau bei Reinhausen überlebten beispielsweise nur jeweils ein bis zwei Ind.
Die erste Singdrossel geriet am 19.2. am Göttinger Kiessee ins Blickfeld, nicht wesentlich später als sonst. Die Winterverluste des Rotkehlchens fielen augenscheinlich recht hoch aus. Allerdings setzten ab Mitte März verstärkte Heimzugaktivitäten ein, die einen aussagekräftigen Blick auf die Überlebensrate der ausharrenden Überwinterer erschwerten.
Überwinternde Bergpieper waren nur in sehr geringer Zahl zu verzeichnen. An der Geschiebesperre Hollenstedt hielten sich durchweg nur ein bis drei, ausnahmsweise fünf Ind. auf.

Im letztgenannten Gebiet glänzte die Gebirgsstelze im Hochwinter durch komplette Abwesenheit. In Göttingen harrte ein Vogel an der Leine bis zum Frühling aus.

Nachgetragen sei an dieser Stelle eine späte Schafstelze vom 10.11. am Göttinger Kiessee. Sie machte sich rechtzeitig davon und entging damit nicht nur dem Dauerfrost, sondern auch einer Fehlbestimmung als Gebirgsstelze – obwohl es bei den beiden Arten in der Regel andersrum passiert: Davon zeugen die vielen “Winterschafstelzen” in diversen Internetforen, die in Wirklichkeit die ersten Gebirgsstelzen sind, deren die Melder ansichtig werden.

Noch ungewöhnlicher als ein bis zwei trotzige Bachstelzen, die an der Geschiebesperre Hollenstedt überwinterten, waren männliche Trauerbachstelzen, die am 28.2. im Polder I (zwei Ind.) und am 1.3. an der Geschiebesperre (ein Ind.) bestimmt und fotografisch belegt werden konnten.

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Abb. 6+7: Trauerbachstelzen bei Salzderhelden. Fotos: M. Siebner

Kernbeißer traten, nach einem starken Einflug im Vorwinter, erst ab Februar wieder in höheren Zahlen in Erscheinung, beispielsweise mit ca. 35 Ind. am 7.2. am Göttinger Kiessee. Im Göttinger Stadtwald und im Ostviertel waren sie ungewöhnlich häufig, aber wegen ihres unkooperativen Verhaltens kaum zu quantifizieren. Ein paar Hundert dürften es aber gewesen sein. Dies trifft noch stärker auf den Fichtenkreuzschnabel zu, der bei den wenigen Waldexkursionen in den bereits aus dem Herbst bekannten Dimensionen festgestellt wurde. Während der Birkenzeisig sich ausgesprochen spärlich bemerkbar machte (manch einer hat es wohl anders erwartet, aber… siehe Seidenschwanz), waren die Nadel- und Mischwälder voll von Erlenzeisigen, deren Zahl in die Tausende ging. Aber auch dieses massenhafte Auftreten hatte wohl weniger mit den eisigen Temperaturen zu tun als mit dem Nahrungsangebot bzw. dessen Verfügbarkeit.

Angesichts des äußerst negativen Bestandstrends des Bluthänflings wäre ein Schwarm von ca. 200 Ind. in unserer Region auch im Spätsommer bemerkenswert gewesen. Mitte Februar war ein solcher an einem Blühstreifen in der Feldmark bei Edesheim recht ungewöhnlich, aber dennoch nicht untypisch für einen Kältewinter, der auch die letzten ausharrenden Vögel aus dem Nordosten nach Süden getrieben haben dürfte.

Typisch für schneereiche Kältewinter sind auch größere Ansammlungen von Goldammern und deren vermehrtes Auftreten an Futterstellen im urbanen Siedlungsbereich. Eine Ruderalflur auf dem Uni-Nordgelände wurde bis Ende Januar von bis zu 400 Ind. (unter ihnen eine einsame Rohrammer) genutzt. Futterstellen im nördlichen Ostviertel und an der Theodor-Heuss-Straße zogen bis zu 25 Ind. an.

Damit schließt dieser recht ausführlich (aber hoffentlich nicht langatmig) geratene Bericht über einen sehr ereignisreichen Winter, verbunden mit einem herzlichen Dank an die DatenmelderInnen und InformantInnen: U. Bade, P.H. Barthel, B. Bierwisch, S.Böhner, G. Brunken, M. Corsmann, H. Dörrie, M. Drüner, M. Göpfert, E. Gottschalk, C. Grüneberg, J. Herting, V. Hesse, U. Hinz, H.-A. Kerl, W. Kühn, F.-J. Lange, T. Meineke, S. Paul, D. Radde, Frau Reineke, M. Schuck, M. Siebner, A. Stumpner, V. Lipka, H.-J. Thorns, D. Trzeciok & H. Weitemeier

H. H. Dörrie und S. Paul