Eigentlich sollte der Gang in den Seeanger (20 km östlich von Göttingen) am 10. April 2011 lediglich als Antidepressivum gegen ein paar Tage Vogelkartierung in öden brandenburgischen Kiefernforsten und zwischen planenbedeckten Spargelfeldern dienen. Allein schon das Wetter lockte hinaus in eine offene Landschaft, wo die Sonne nicht von unzähligen Kiefernstämmen in Reih und Glied verdunkelt wird. Als wir, Klaus Dornieden und Benedikt Bierwisch, uns am Nachmittag auf den Weg machten, wussten wir noch nichts von Grünschenkel, Kampfläufer und Regenbrachvogel, die Hannes Dörrie am Mittag über unsere regionale Newsgroup avigoe gemeldet hatte.
Bei herrlicher Beleuchtung freuten wir uns an Rot- und Schwarzmilan, an einer Rostgans sowie Schnatter-, Knäk-, Löffel-, Krick- und Reiherenten. Benedikt brachte die Sprache auf einen Sichler (Plegadis falcinellus) mit spanischem Ring in Süddeutschland, der im Club 300 seit Tagen gemeldet wurde und sinnierte, ob sich der weite Weg dorthin lohnen würde. Der Weg erschien besonders weit, weil im Hinterkopf nicht das Bingenheimer Ried in der hessischen Wetterau präsent war, wo der Vogel seit dem 31. März täglich gesichtet wurde, sondern Bingen am Rhein. Während dieser Grübeleien waren wir schon auf dem Rückweg zum Auto. Ein letzter Blick zurück offenbarte eine gerade landende „Krähe“ mit einem Stock im Schnabel. Aber was machte die auf einem Haufen vertrockneter Zweige im Wasser? Der Blick durchs Fernglas offenbarte, dass der Stock im Schnabel der Schnabel war! Mein erstaunter und gleichzeitig begeisterter Ausruf: „Da steht ein Braunsichler!“ dokumentierte zum einen meinen nicht ganz aktuellen Kenntnisstand der Nomenklatur und führte zum anderen bei Benedikt zu einem sehr ungläubigen Gesichtsausdruck. In diesem Moment war mir gar nicht bewusst, dass wir uns gerade über diesen Vogel unterhalten hatten, denn ich neige nicht dazu, lange Autofahrten zu unternehmen, um einen Vogel zu ticken und hatte deshalb wohl nur halb zugehört.
Im Bestreben, möglichst andere Beobachter zu informieren, wurde das Telefonbuch des Handys gesichtet und erbrachte nur eine spärliche Ausbeute. Das war schon ärgerlich, aber noch dummer war, dass der Blick auf das Display den Blick auf den Sichler vergessen ließ. Um 18:20 Uhr wurde er erstmals gesehen, und nachdem klar war, dass gerade mal zwei Ornithologen im Telefonbuch verzeichnet waren, war er auch schon verschwunden. Nach einem bangen Augenblick schwebte der Vogel aber wieder an den vorherigen Platz auf dem Reisighaufen ein. Was für eine Erleichterung! Aber auch dieser Aufenthalt dauerte nicht lange. Um 18:32 Uhr flog der Sichler in Richtung Seeburger See davon. Dort erschienen uns die Rastmöglichkeiten doch sehr begrenzt. Die Frage war also: „Würde er einfach weiterfliegen?“
Zwischenzeitlich hatten wir lediglich Thomas Meineke aus dem benachbarten Ebergötzen sowie die Mobilbox von Hannes Dörrie erreicht und die Nachricht hinterlassen. Thomas Meineke hatte gleich zugesagt, an den Ort des Geschehens zu kommen. Umso gespannter waren wir, ob der Sichler ein zweites Mal zurückkehren würde. Mit Erleichterung nahmen wir sein erneutes Auftauchen eine Viertelstunde später zur Kenntnis. Als Landeplatz wählte er diesmal aber die dichte, flach überstaute Vegetation, in der er erst einmal verschwand. Geraume Zeit später kam er wieder zum Vorschein, um im Flachwasser nach Nahrung zu suchen. Diesmal tat er es unter den Augen einer kleinen Schar Vogelbeobachter, die nach und nach wuchs. Denn Hannes hatte die Meldung der Beobachtung über avigoe veranlasst, und offensichtlich verfolgen viele Interessierte das vogelkundliche Geschehen online. So waren es am Ende wohl um die 15 Beobachter, die den ersten süd-niedersächsischen Sichler im stimmungsvollen Abendlicht bewundern konnten. Bald stellte sich heraus, dass auch dieser Vogel farbberingt war. Als erstem gelang es Thomas Meineke, die Markierung abzulesen: V02. Damit war klar, dass es sich um denselben Vogel handelte, der vom 31. März bis zum 10. April im Bingenheimer Ried täglich beobachtet worden war.
Über avigoe.de kamen am nächsten Tag noch zwei Meldungen. Gegen 9:30 Uhr war der Vogel Richtung Wollbrandshausen abgeflogen, wurde aber zwischen 13:45 und 15:40 Uhr wieder im Seeanger gesehen. In den nächsten Tagen blieb der Vogel verschwunden. Am 17. April gab es schließlich die Meldung eines Sichlers im Club 300 für die Pareyer Wiesen südlich des Gülper Sees in Brandenburg. Unter der Ortsbezeichnung Große Grabenniederung wurde der gleiche Vogel am prinzipiell gleichen Ort am 20. April erneut gemeldet, jetzt mit dem Hinweis, dass es sich um V02 handele.
Dieser Vogel war am 19. Juni 2010 als noch nicht flugfähiger Jungvogel im Ebro-Delta im Nordosten Spaniens beringt worden, wie Julia Piccardo Valdemarin vom Naturpark Ebro-Delta in einer mail vom 24. Mai an Benedikt mitteilte. Wenige Tage zuvor, am 19. und 21. Mai, war V02 an den Fischteichen von Kintai in Litauen nahe der Ostseeküste gesehen worden. Seitdem wissen wir nichts mehr darüber, wo der erstaunliche, anscheinend zielgerichtet nach Nordosten vollführte Zug dieses Vogels über ganz Europa geendet haben mag.
Wie ist die Beobachtung im Seeanger einzuordnen?
Die Herkunft des Vogels liefert eine schlüssige Erklärung. Er stammt unzweifelhaft aus Spanien, wo seine Brutpopulation, wie auch die in Frankreich, Italien und Ungarn stark angewachsen ist (Bauer et al. 2005). Burfield & van Bommel (2004) geben den spanischen Brutbestand mit 393 – 423 Paaren an, eine Zahl, die in der jüngsten Vergangenheit wohl noch übertroffen wurde (H. Dörrie, mdl.). Wie manche Reiherarten neigt auch der Sichler zu ausgeprägten Dispersions- und Dismigrationsbewegungen in alle Himmelsrichtungen. Hinzu kommt, dass Brutansiedlungen dieser Ibisart stark vom wechselnden Wasserstand in Feuchtgebieten abhängen, so dass viele Vorkommen nicht von Dauer sind. Im Handbuch der Vögel Mitteleuropas heißt es denn auch treffend: „Der Sichler ist ein Zigeunervogel, der nicht nur außerhalb der Brutzeit unregelmäßige Wanderungen ausführt, sondern auch als Brutvogel sehr unbeständig ist, …“ (Bauer & Glutz von Blotzheim 1966: 445). Das Handbook of the Birds of the World“ bringt es noch deutlicher auf den Punkt: „notoriously nomadic“ (del Hoyo et al. 1992: 502). Wir hatten es also am Seeanger mit einem echten „Nomaden der Lüfte“ zu tun. Welche Tagesleistungen er vollbringen konnte, lässt sich schon daran ablesen, dass er am 10.4. die 160 km Luftlinie zwischen dem Bingenheimer Ried und dem Seeanger vermutlich in wenigen Stunden (nonstop?) bewältigt hatte, denn er wurde in Hessen noch am Vormittag gesehen.
Vor diesem Hintergrund scheint es erstaunlich, dass Süd-Niedersachsen zuvor noch nie von einem Sichler besucht worden ist. Zwar listet Fokken (o.J.) einen Mitte Juni 1986 nördlich der Weserfähre Hemeln-Veckerhagen überfliegend gesichteten Vogel auf. Diese Beobachtung wurde jedoch nirgendwo dokumentiert und erscheint daher wenig glaubwürdig. Zudem fällt das Datum mit dem Zwischenzug des Großen Brachvogels zusammen, der ebenfalls einen Sichelschnabel hat und etwa genau so groß ist.
An eine Verwechslung mit dem Brachvogel denkt man auch sofort bei der Meldung von 22 Sichlern vom 10. Oktober 1990 aus dem ostfriesischen Nordwerdum (Knake 1991). Aber hier weist die Schriftleitung in einer Anmerkung darauf hin, dass beweiskräftige Fotos vorliegen sollen. Am nächsten Tag waren immerhin noch 17 Ind. im Gebiet. Auch diese erstaunliche Ansammlung wurde nicht beim damaligen Bundesdeutschen Seltenheitenausschuss dokumentiert. Dagegen sind anfänglich sieben und später noch drei Ind., die sich vom 4. bis 21.10.1991 an den nicht weit vom Eichsfeld liegenden Aulebener Fischteichen bei Nordhausen (Thüringen) aufhielten, von der Deutschen Seltenheitenkommission anerkannt (DSK 1994). Sie bestätigen auch, dass Sichler manchmal in kleinen Gruppen einfliegen können. Vier Jahre zuvor war ein Ind. an den Mansfelder Seen in Sachsen-Anhalt gesehen worden (Balschun 1988). All diese Beobachtungen belegen das erratische Auftreten dieser aus dem Süden oder Südosten stammenden Migranten. Ein zwingendes „Muster“ lässt sich aus ihnen kaum ableiten. Das kann jedoch bei dieser unsteten Art gar nicht anders sein. Allenfalls nach Dürreperioden oder vielleicht auch Überschwemmungen in Gebieten mit großen Brutpopulationen ließen sich Einflüge vorab prognostizieren.
Bei der Beobachtung vor Ort wurde auch über das vermehrte Auftreten von Sichlern in den uns benachbarten Niederlanden diskutiert. Bezzel (1994) erwähnt, dass in Holland mehr und regelmäßiger Sichler gesehen werden als in Bayern. Aber brütet er dort auch? In der Neuauflage des Kosmos Vogelführers (Svensson et al. 2011) ist an der deutschen Nordseeküste ein kleines Brutgebiet eingezeichnet. Na ja, da ist der Farbklecks wohl beim Druck etwas verrutscht. Also ziehen wir die Daten von BirdLife International zu Rate (Burfield & van Bommel 2004). Doch da finden wir den Sichler nicht als Brutvogel der Niederlande. Vielleicht bringt ein Blick in jüngere Bücher Aufklärung. Laut Moning et al. (2010) ist der Sichler die einzige in Europa (Südosteuropa) noch heimische Sichlerart. Aber Spanien dem Südosten zuzuschlagen, geht zu weit. Fünfstück et al. (2010) beschreiben das Vorkommen in der Paläarktis als lückig in Südeuropa bis Vorder- und Zentralasien. Wieder kein Hinweis auf ein holländisches Brutvorkommen.
Die Niederländer sollten es eigentlich am besten wissen. Daher ein Blick ins Internet. Auf http://waarneming.nl sind bis zum 17. Juni 2011 1529 Beobachtungen von 1657 Individuen verzeichnet. Wahrscheinlich sind die meisten Vögel mehr als dutzendfach in die Statistik eingegangen, weil sie von verschiedenen Beobachtern gemeldet wurden. Allerdings hat bisher niemand ein Paar Sichler gemeldet. So bleiben wir vorerst ratlos mit einem kleinen orangefarbenen Klecks im Kosmos Vogelführer zurück, der den Sichler als angeblichen Brutvogel an der Nordseeküste ausweist. Und sind gleichzeitig dankbar, dass der Vogel vom Seeanger beringt war, so dass sich alle Spekulationen über seine Herkunft (eventuell auch aus menschlicher Gefangenschaft) erübrigten.
Klaus Dornieden und Benedikt Bierwisch
Literatur
- Balschun, D. (1988): Beobachtung eines Sichlers im Gebiet der Mansfelder Seen. – Apus 7: 35-36.
- Bauer, K.M. & U.N. Glutz von Blotzheim (1966): Handbuch der Vögel Mitteleuropas. Band 1: Gaviiformes – Phoenicopteriformes. Frankfurt/M.
- Bauer, H.-G., E. Bezzel & W. Fiedler (2005): Das Kompendium der Vögel Mitteleuropas. Nonpasseriformes – Nichtsperlingsvögel. Wiebelsheim.
- Bezzel, E. (1994): Werden “südliche” Gastvögel und Brutgäste nördlich der Alpen häufiger? Versuch eines säkularen Überblicks am Beispiel Bayerns. – Vogelwelt 115: 209-226.
- Burfield, I. & F. van Bommel (2004): Birds in Europe: Population estimates, trends and conservation status. BirdLife International.
- del Hoyo, J., A. Elliott & J. Sargatal (eds.) (1992): Handbook of the Birds of the World. Vol. 1: Ostrich to Ducks. Barcelona.
- Deutsche Seltenheitenkommission (DSK) (1994): Seltene Vogelarten in Deutschland 1991 und 1992. Limicola 8: 153-209.
- Fokken, A. (o.J.): Die Vogelwelt des Bramwaldes, der Oberweser und des Stadtgebietes von Münden. Münden.
- Fünfstück, H.-J., A. Ebert & I. Weiß (2010): Taschenlexikon der Vögel Deutschlands. Wiebelsheim.
- Knake, M. (1991): Braunsichler in Ostfriesland. – Vogelkdl. Ber. Niedersachs. 23: 104.
- Moning. C., T. Griesohn-Pflieger & M. Horn (2010): Grundkurs Vogelbestimmung. Wiebelsheim.
- Svensson, L., K. Mullarney & D. Zetterström (2011): Der Kosmos Vogelführer: Alle Arten Europas, Nordafrikas und Vorderasiens. Stuttgart.