Naturschutz und Freizeitnutzung am Göttinger Kiessee: ein Schritt vorwärts, zwei zurück?

Reiherenten
Abb. 1: Reiherenten-Weibchen mit Jungen am Kiessee. Foto: M. Siebner

Nach mitunter zähen Verhandlungen konnte unter Vermittlung des früheren Oberbürgermeisters W. Meyer eine Vereinbarung zur zukünftigen Nutzung des Kiessees geschlossen werden (zum Vorverständnis siehe hier). Unterzeichner sind: Stadt Göttingen, Dezernat Bauen und Umwelt (Herr Dienberg), Göttinger Sport und Freizeit GmbH (Herr Frey), Wassersportverein TWG (Herr Hammel), Universitätssport (Herr Bauer), Naturschutzbeauftragte der Stadt (Frau Walbrun), Biologische Schutzgemeinschaft (Herr Joger) und Arbeitskreis Göttinger Ornithologen (Herren Dörrie und Otten). Die Vereinbarung vom 17. Juli 2015 lautet wie folgt:

1) “Der Trainingsbetrieb im Winter wird in der Zeit vom 01.11. bis 15.03. eines jeden Jahres auf dem nördlichen Teil des Sees auf einer Streckenlänge von ca. 500 m ermöglicht.”

Damit entsteht in der südlichen Hälfte eine Ruhezone, die von überwinternden Wasservögeln genutzt werden kann. Obwohl sich Wintergäste gegenüber Störungen in der Regel scheuer verhalten als ansässige Brutvögel, könnten sie schnell spitzkriegen, dass man ihnen in diesem Bereich nicht zu nahe kommt.

2) „Das Umfahren der Vogelschutzinsel soll zukünftig nicht mehr ermöglicht werden. Die Abtrennung soll durch Bojen erfolgen. Im südlichen und im östlichen Bereich des Sees sollen Schilfbereiche gesichert werden. Diese Bereiche sollen möglichst durch Schwimmbalken/-stämme abgetrennt werden.”

Die „verkehrsberuhigte Zone“ um die Insel, auf der zahlreiche Vögel brüten, kann diesen zugute kommen und eventuell auch Neuansiedlungen fördern. Die Schwimmbalken sollen bei Starkwinden und während Regatten als „Wellenbrecher“ der Kräftigung und Ausbreitung des Röhrichtbestands sowie dem Schutz von Schwimmnestern dienen.3) „Maximal zwei Drachenboote mit einer Länge von bis zu 12,50 m dürfen gleichzeitig auf dem Kiessee fahren. Sie sollen im Rahmen des Schulsports und auch für Sportvereine genutzt werden. Die Boote sollen nach dem Ablegen möglichst in der Mitte des Sees eingesetzt werden. Ein Mindestabstand zum Ufer von 10 m ist während der Fahrt einzuhalten. Trommeln zum Zwecke des Taktgebens dürfen auf dem See nicht eingesetzt werden“.

Die Drachenboote waren den Sportfreunden leider nicht auszureden. Sie versprechen sich von ihrem Einsatz eine Belebung des (nachlassenden) Interesses für Wassersport bei Kindern und Jugendlichen. Ein Testlauf ergab, dass die Fahrt über den kleinen See bereits nach gut einer Minute zu Ende war. Man wird sehen, wie attraktiv diese Eventsportart für den erhofften Nachwuchs wirklich ist.4) „Die Bootsregatta wird in 2015 am 5./6.06. und in 2016 am 4./5.06. stattfinden. Für die Folgejahre wird versucht, den Termin auf Ende Juni zu verschieben“.

Als Argument gegen ein späteres Datum wurde von den Wassersportlern eine mögliche Algenblüte ins Feld geführt. Dies erklärt auch die etwas schwammige Formulierung „wird versucht“. Ob und wann eine Algenblüte stattfindet, kann jedoch bei der Terminplanung ein Jahr vorher niemand voraussagen. Eine obligatorische Verlegung der Regatta in die letzte Junidekade wäre durchaus möglich, wenn die Paddler bei Bedarf kurz vor Beginn dafür sorgen, dass ihnen keine Algen den Weg versperren. Hier besteht möglicherweise Evaluierungsbedarf (s. Punkt 6).5) „Die Anliegervereine weisen ihre Mitglieder auf die Belange des Vogelschutzes und die Regelung dieser Vereinbarung in geeigneter Form hin“.

6) „Nach der Sommersaison 2017 bewerten die Vertragspartner die umgesetzten Maßnahmen gemeinsam.“

Bereits im Vorfeld konnte vereinbart werden, dass bei der Bespannung mit Bojen im Vorfeld der Regatta der Schilfbestand nicht betreten wird. Und was ist mit der Kiesseeordnung? Sie wird zur Vermeidung bürokratischer Prozeduren nicht angetastet, bleibt also faktisch in Kraft. Wie heißt es so schön: wo kein Kläger, da kein Richter.
Bei dem Kompromiss sind beide Seiten aufeinander zugegangen und haben die Belange des Anderen als gleichwertig anerkannt. Auch wenn es manchmal knirschte, kann sich das Ergebnis sehen lassen.

Gänsesäger - M.Siebner
Abb. 2: Gänsesäger als Wintergäste am Kiessee. Foto: M. Siebner

Ist die Diskussion damit beendet? Leider nicht. Nächstes Jahr soll am Kiessee und Umgebung das niedersächsische Landesturnfest stattfinden, zu dem Ende Juni 30.000 Besucher/innen erwartet werden. Auf der Wiese an der Ostseite wird eine Bühne errichtet, auf der NDR-Animateure über drei Tage bis in die Nacht für Stimmung sorgen. Als Höhepunkte sind Auftritte der für einen Tag reanimierten „Guano Apes“ und der Schweizer Sängerin Stefanie Heinzmann geplant. Für solche Massenveranstaltungen ist jedes Göttinger Stadion, von denen es einige (auch in der Nähe des Kiessees) gibt, sicher geeigneter. Der Termin fällt zudem in die Brutzeit vieler Vogelarten mit regelmäßigen Zweitbruten. Wenn, wie geplant, Bäume am Sandweg zwischen Kiessee und SVG-Stadion zum Beklettern freigegeben werden, dürften mit hoher Wahrscheinlichkeit Bruten von Ringeltaube, Wacholderdrossel, Grauschnäpper und anderer Vögel in Mitleidenschaft gezogen werden. Mit den gesetzlichen Vorgaben des Artenschutzes ist so etwas nicht vereinbar. Da wird es von Naturschutzseite noch das ein oder andere Gespräch mit der Genehmigungsbehörde und den Veranstaltern geben. Der besonders geschützte Röhrichtbestand soll zwar speziell gesichert werden, aber ob das bei Tausenden nur wenige Meter entfernten Besuchern, von denen sich erfahrungsgemäß immer einige danebenbenehmen, etwas für Teichrohrsänger und Co. bringt, darf bezweifelt werden.
Doch damit nicht genug: Um den Kiessee in Zukunft problemloser als Eventarena nutzen zu können, betreibt die Verwaltung seine Entlassung aus dem Landschaftsschutzgebiet (LSG). Zudem haben Pläne, an der Ostseite einen Biergarten zu installieren, offenbar wieder an Aktualität gewonnen. Wie beim Golfplatz in Geismar, der faktisch gestorben ist, weil es für ihn dank vielfältiger Gegenaktionen keine politische Mehrheit gibt (vgl. www.golfplatz-goettingen.de) sollen kommunale Erholungsflächen, die allen Bürgerinnen und Bürgern gehören, einer privaten kommerziellen Verwertung übereignet werden.
Bei der Bürgerbeteiligung am zukünftigen Flächennutzungsplan der Stadt stieß die drohende Entlassung aus dem LSG auf einhellige Ablehnung. Ist die Abschaffung des Landschaftsschutzes ausgerechnet für Göttingens vogelartenreichsten Lebensraum nur eine der typischen Göttinger Schnapsideen? Wohl kaum. Wenn mühsam erreichte Verbesserungen zum Schutz der ansässigen Tierwelt gleich wieder zur Disposition gestellt werden, kann dies nur als klarer Affront betrachtet werden. Wir hoffen auf das tatkräftige Engagement aller, denen naturverträgliche Naherholung und Artenschutz am Herzen liegen. Auch die im nächsten Jahr anstehenden Kommunalwahlen bieten dafür einen passenden Resonanzboden. Immerhin haben sich alle antretenden Parteien den „Schutz der Biodiversität“ oder die „Bewahrung der Schöpfung“ auf die Fahne geschrieben…

Hans H. Dörrie & Moritz Otten

Mittelmeermöwe - M.Siebner
Abb. 3: Mittelmeermöwe am Kiessee Foto: M. Siebner